Lehrkräftemangel: die aktuelle Situation in Deutschland
Seit Jahren mehren sich bundesweit die Berichte darüber, dass Schulen nicht mehr genug Lehrkräfte finden, um ihre Stellen zu besetzen. Was sich als regionale Problematik verschiedentlich schon in den Nullerjahren bemerkbar machte, ist in den vergangenen Jahren zu einem bildungspolitischen Mega-Thema geworden, das die fachliche wie öffentliche Diskussion beherrscht wie kaum ein anderes: Lehrkräftemangel. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) konnte im Jahr 2023 die Hälfte aller Schulen mindestens eine Stelle nicht besetzen, in 17 Prozent der Schulen waren gar drei oder mehr Stellen betroffen (FORSA 2023, S. 22). Angesichts solcher Zahlen kann es nicht überraschen, wenn an unzähligen Schulstandorten Notmaßnahmen nicht mehr die Ausnahme sind, sondern die Regel: Unterricht fällt aus, weil im Krankheitsfall keine Vertretung verfügbar ist. Lehrkräfte machen Überstunden, Klassenstärken werden angehoben, die in amtlichen Stundentafeln vorgegebene Unterrichtsstundenzahl reduziert – Sachsen-Anhalt sorgte jüngst gar mit einem Modellversuch zur Erprobung der Vier-Tage-Woche für Furore. Zu den Notmaßnahmen zählt auch die Beschäftigung von Quer- und Seiteneinsteiger:innen, ohne die die Personalsituation in vielen Bundesländern noch sehr viel schlechter aussehen würde. Nach der oben erwähnten Forsa-Umfrage unterrichten inzwischen an zwei von drei Schulen Personen, die keine reguläre Lehramtsausbildung absolviert haben (FORSA 2023, S. 24)! Selbstverständlich können Seiteneinsteiger:innen mit ihren außerschulischen Berufsbiografien für Schulen eine Bereicherung sein, wenn sie gut begleitet und auf das Unterrichten angemessen vorbereitet werden. Dass sie ein vollwertiger Ersatz für Lehrpersonen sein können, die den Beruf im Wege einer langjährigen universitären Ausbildung erlernt haben, ist gleichwohl zu bezweifeln.
Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), die die Länder bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens berät, beurteilte die Situation in einer Stellungnahme zuletzt als dramatisch (SWK 2023, S. 6-7): Der Mangel an qualifiziertem Personal bedrohe die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung und beeinträchtige die Qualität des Unterrichts. Und er gewinne angesichts alarmierender Befunde zur Kompetenzentwicklung der Schüler:innen, die zuletzt etwa der Interner Link: IQB-Bildungstrend zutage gefördert hat, noch einmal zusätzlich an Dramatik. Denn es gebe deutliche Hinweise, dass eine reduzierte Unterrichtszeit mit geringeren fachlichen Leistungen einhergehe. Dies gelte, so betont die SWK, insbesondere für Schüler:innen aus sozial benachteiligten Familien, da die schulische Lernzeit für sie aufgrund häufig geringer häuslicher Unterstützung besonders wichtig sei. Der aktuelle Lehrkräftemangel ist also auch mit Blick auf Fragen der Interner Link: Chancengleichheit ein gravierendes Problem – und zwar noch in einem weiteren Sinne: Schulen, an denen ein hoher Anteil sozial benachteiligter Schüler:innen lernt, haben deutlich häufiger als andere Schulen mit Personalmangel zu kämpfen, wie eine repräsentative Schulumfrage der Robert Bosch Stiftung aus dem Jahr 2022 verdeutlicht. Während unter den Schulen insgesamt zwei Drittel der befragten Schulleitungen Personalmangel als die aktuell größte Herausforderung beurteilten, waren es an sozial benachteiligten Standorten ganze 80 Prozent (Robert Bosch Stiftung 2023, S. 7).
Eine Entspannung der Lage ist bis auf weiteres nicht in Sicht. Aktuelle Berechnungen (KMK 2024, Dohmen 2024, Geis-Thöne 2022 und Klemm 2022) lassen vielmehr erwarten, dass sich der Lehrkräftemangel in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird. In welchem Maße genau dies der Fall sein wird, ist dabei allerdings strittig. Denn die zur Abschätzung des Lehrkräftebedarfs erforderlichen Berechnungen sind komplex und müssen sich notwendig auf eine ganze Reihe von Annahmen über die Zukunft stützen, Annahmen z. B. über die Geburtenentwicklung oder die Entwicklung der Zahl der Absolventinnen und Absolventen eines Lehramtstudiums (siehe Abschnitt 3). Es handelt sich bei solchen Berechnungen also um Zukunftsprognosen, die in Abhängigkeit von den getroffenen Annahmen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können und die, seien sie noch so ausgefeilt, immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Für die Verantwortlichen in den Bildungsverwaltungen sind entsprechende Prognosen gleichwohl die einzig verfügbare Datengrundlage, wenn es z. B. darum geht zu entscheiden, wie viele Lehrkräfte in einer Haushaltsperiode neu eingestellt werden sollen oder mit Universitäten darüber verhandelt wird, wie viele Lehramtsstudienplätze angeboten werden sollten. Wenn sich die für solche Planungen herangezogenen Zahlen als unzutreffend erweisen – etwa weil sich die Geburtenzahlen oder die Zahl der Absolventinnen und Absolventen des Lehramtsstudiums anders entwickeln als zum Zeitpunkt der Prognose absehbar war – ist die Gefahr groß, dass es zu einem Mangel oder eben auch einem Überangebot an Lehrkräften kommt.
Die Probleme, die mit einem Mangel an Lehrkräften einhergehen, können wir heute allenthalben beobachten. Aber auch ein Überangebot an Lehrkräften kann sehr problematische Folgen haben: für angehende Lehrkräfte, die trotz aufwändiger Ausbildung möglicherweise über Jahre wenig Aussicht auf eine sichere Stelle haben, aber auch für die Haushalte der im föderalen System für Bildung zuständigen Länder. Denn aus den Landeshaushalten muss dann unter Umständen mehr Lehrpersonal finanziert werden, als gemessen an den administrativen Vorgaben für eine auskömmliche Lehrkräfteversorgung eigentlich benötigt wird. Sowohl Phasen des Mangels als auch Phasen des Überangebots an Lehrkräften hat es in der Bundesrepublik in unterschiedlicher Intensität immer wieder gegeben und ein Blick in die Geschichte dieses Problems macht deutlich, dass häufig das eine zeitlich versetzt in das andere umschlägt.
Der zyklische Wechsel von Mangel und Überschuss
Ob Lehrkräftemangel oder ein Überangebot an Lehrerinnen und Lehrern den Schulalltag prägen, ist das Ergebnis eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren, nämlich der Geburtenentwicklung, den Studienwahlentscheidungen der studienberechtigten jungen Menschen sowie der Anzahl der neu zu besetzenden Lehrkräftestellen. Dieses Zusammenspiel lässt sich an einem Beispiel aus der Geschichte der Bundesrepublik verdeutlichen: Seit Beginn der 1950er Jahre stiegen im Gebiet der damaligen Bundesrepublik die jährlichen Geburtenzahlen von knapp 0,8 Mio. bis 1965 auf nahezu 1,1 Mio. Neugeborene an (Statistisches Bundesamt 2016, S. 3). Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Georg Diederichs kommentierte diesen Anstieg der Geburtenzahlen mit dem aus heutiger Sicht bemerkenswerten Satz: „So etwas kann zur Last werden, wie zum Beispiel in Indien.“ (Spiegel, 8.5.1967). Offensichtlich hatte er dabei die Berechnungen des Pädagogen Georg Picht im Sinn, der in seiner damals viel beachteten Arbeit „Die deutsche Bildungskatastrophe“ kurz zuvor auf die Folgen dieses Geburtenanstiegs für den Lehrkräftebedarf hingewiesen hatte: „Demnach müßten sämtliche Hochschulabsolventen Lehrer werden, wenn unsere Schulen ausreichend mit Lehrern versorgt sein sollen.“ (Picht 1964, S. 22, siehe Infobox)
QuellentextAuszug aus Georg Pichts „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ (1964)
Zitat
Wie sind die Chancen, [den von der Kultusministerkonferenz errechneten] Lehrerbedarf zu decken? Sie ergeben sich aus einer sehr einfachen Rechnung. Sämtliche Lehrer müssen nach den geltenden Richtlinien Abiturienten sein. Nun beträgt in den zehn Jahrgängen, aus denen sich die Lehrer rekrutieren sollen, die durchschnittliche Zahl der Abiturienten 50.000; es stehen also rund 500.000 Abiturienten zur Verfügung. Von diesen Abiturienten gehen nach den bisherigen Erfahrungen höchstens 450.000 an eine Hochschule; rund 30 Prozent davon pflegen vor Abschluß des Studiums auszuscheiden. Es sind also rund 300.000 Hochschulabsolventen zu erwarten, eine Zahl, die genau der obengenannten Durchschnittszahl des Lehrerbedarfes entspricht. Demnach müssten sämtliche Hochschulabsolventen Lehrer werden, wenn unsere Schulen ausreichend mit Lehrern versorgt sein sollen. (… ) Wir können also den Lehrerbedarf nur decken, wenn wir in Zukunft auf Ärzte und Juristen, auf Theologen und Naturwissenschaftler, auf Ingenieure und Architekten verzichten wollen. Die genannten Zahlen sind gewiß nur grobe Schätzungen, aber sie dürften der bitteren Wirklichkeit entsprechen. Da gleichzeitig der Bedarf an Abiturienten und an Akademikern auf fast allen Gebieten im Steigen ist, läßt sich aus den von den Kultusministern vorgelegten Zahlen bereits heute mit Sicherheit ablesen, daß der von ihnen errechnete Lehrerbedarf nicht einmal zur Hälfte wird gedeckt werden können. (…)
Bei den jungen Leuten kam diese Botschaft an. Während 1965 lediglich 17.100 Lehramtsprüfungen gezählt wurden, schlossen zehn Jahre später (1975) 40.400 Lehramtsstudierende ihr Studium erfolgreich ab (BMBW 1987, S. 184). Dies geschah genau in dem Jahr, in dem die Geburtenzahlen von den bereits erwähnten 1,1 Mio. in 1964 auf nur noch 0,6 Mio. zurückgegangen waren (Statistisches Bundesamt 2016, S.3). Die Bildungsexpansion (siehe Infobox) traf den sogenannten Pillenknick, also den (nicht nur in Deutschland) mit der Verbreitung der Antibabypille zusammenfallenden Rückgang der Geburtenraten ab Mitte der 1960er Jahre. In Folge dieser Entwicklung kam es zu einer sprunghaft steigenden Arbeitslosigkeit unter den neu ausgebildeten Lehrkräften, die spätestens Anfang der 1980er Jahre zu einem ernsten bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Problem wurde (siehe Interner Link: Beitrag Bölling). Die Länder reagierten auf diese Situation schon zu Beginn der achtziger Jahre, indem sie die Ausbildungskapazitäten im Vorbereitungsdienst deutlich reduzierten. 1981 gab es für gut 28.000 Absolventinnen und Absolventen eines Lehramtsstudiums nur noch gut 20.000 Referendariatsstellen – mit weiter fallender Tendenz (KMK 2000, S. 9). Dies führte zu einem abrupten Einbruch der Zahl der Anfänger:innen eines Lehramtsstudiums: 1975 wurden noch gut 40.000 gezählt, 1985 dagegen nur noch gut 11.000 (BMBW 1990, S. 152).
Das Typische an dem hier skizzierten Beispiel ist dies: Abschätzungen zum künftigen Lehrkräftebedarf werden in einem demographischen Kontext erstellt. Das Studienplatzangebot der Lehrkräfteausbildung orientiert sich daran und führt – zeitlich versetzt – zu einem Lehrkräfteangebot, das nur nachfragegerecht ist, wenn sich die demographischen Annahmen als einigermaßen zutreffend erweisen. Wenn sich diese Annahmen als falsch (z. B. als deutlich überhöht) herausstellen, entsteht je nach Ausbildungsdauer von Studium und Referendariat zeitlich versetzt ein Überangebot, das bei ausgebildeten Lehrkräften zu Arbeitslosigkeit führt. Das wiederum veranlasst junge studienberechtigte Schulabsolventinnen und -absolventen dazu, sich mit Blick auf den aktuellen Arbeitsmarkt „prozyklisch“ zu verhalten und kein Lehramtsstudium aufzunehmen, was dann wiederum zeitlich versetzt zu Mangelsituationen führen kann – und so weiter.
Die am Beispiel der westdeutschen Entwicklung zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre beschriebene Konstellation ist, was die Geburtenentwicklung angeht, in der Geschichte der Bundesrepublik kein Einzelfall: So gab es zu Beginn der neunziger Jahre bei den Geburtenzahlen im Gebiet der früheren DDR einen gleichfalls sehr starken Einbruch. Von 1989 noch 199.000 Geburten verringerte sich deren Zahl bis 1993 auf nur noch 79.000 (Statistisches Bundesamt 2016, S. 4). Auf den daraufhin zu erwartenden Rückgang der Zahlen der Schüler:innen reagierten die neuen Bundesländer mit einer stark verkleinerten Zahl der Neueinstellungen: 1992 wurden dort insgesamt nur noch 1.062 Lehrkräfte aus dem Vorbereitungsdienst übernommen, 1993 sogar nur noch 662 (KMK 2000, S. 6). In Folge derartig niedriger Einstellungszahlen gingen auch die Zahlen der Anfänger:innen in den Lehramtsstudiengängen zurück. Im Jahr 2000 wurden in den fünf neuen Bundesländern insgesamt in den Lehramtsstudiengängen nur etwa 3.500 Studienanfänger:innen gezählt. Zum Vergleich: In dem, was die Einwohnerzahl angeht, nur wenig größeren Nordrhein-Westfalen waren dies im gleichen Jahr etwa 8.100 (KMK 2001, S. 8).
„Bausteine“ der Prognosen zum Einstellungsbedarf von Lehrer:innen
Der soeben nur knapp und beispielhaft beschriebene Zusammenhang zwischen der demographischen Entwicklung einerseits und dem Mangel bzw. dem Überschuss an ausgebildeten Lehrkräften andererseits muss bei der Erstellung von Vorausschätzungen des Einstellungsbedarfs neu ausgebildeter Lehrkräfte berücksichtigt werden. Ob und wie dies geschehen kann, soll im Folgenden anhand der vier „Bausteine“ verdeutlicht werden, aus denen sich derartige Bedarfsprognosen zusammensetzen.
Baustein 1: Die demographische Entwicklung
Grundlegend für jede Vorausschätzung des zukünftigen Lehrkräftebedarfs ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt unterrichtet werden müssen, also eine belastbare Vorausschätzung der demographischen Entwicklung. Derzeit erleben wir in Deutschland insgesamt erneut eine Phase, in der nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare demographische Entwicklungen das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage durcheinandergebracht haben: Von 2013 noch 682.000 stieg die Zahl der jährlichen Geburten in Deutschland insgesamt um nahezu 113.000 auf etwa 795.500 im Jahr 2021, also um etwa 14 Prozent. Neben den Anstieg der Geburtenzahlen trat insbesondere in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts zudem eine starke fluchtbedingte Zuwanderung, wie wir sie aktuell als Auswirkung des Krieges gegen die Ukraine erneut beobachten. Auch ohne Berücksichtigung der aus der Ukraine nach Deutschland geflüchteten Menschen wird sich die Schulbevölkerung, also die Gruppe der Sechs- bis unter Neunzehnjährigen, nach Einschätzung des Statistischen Bundesamtes von Ende 2022 bis Ende 2035 in einer ‚moderaten‘ Prognosevariante von gut 10,2 Mio. auf dann 10,9 Mio., also um etwa 700.000 junge Menschen vergrößern (ein Plus von gut 6 Prozent).
Wie wichtig eine fortlaufende und genaue Beobachtung der demographischen Entwicklung für die Lehrkräftebedarfsvorausschätzung ist, macht ein Blick auf die aktuellen Geburtenzahlen klar. Gegenüber der Geburtenzahl des Jahres 2021 (795.500) ist die des Jahres 2022 mit „nur“ noch 739.000 nämlich um 56.500 gesunken und dieser Trend hat sich auch 2023 fortgesetzt: In den ersten acht Monaten des Jahres 2023 wurden nur noch 93 Prozent der Geburten der ersten acht Monate des Vorjahres gezählt. Wenn man diese Entwicklung auf das gesamte Jahr hochrechnet, muss für 2023 mit einer Geburtenzahl von 687.000 gerechnet werden. Damit läge dieser Wert wieder in etwa bei dem des Jahres 2013 (682.000), dem Wert also, von dem aus damals der Anstieg der Geburtenzahlen gestartet ist (zu den hier referierten demographischen Daten vgl. Statistisches Bundesamt 2023). Das heißt: Wenn sich der Geburtentrend in den kommenden Jahren nicht erneut umkehrt, könnten die Schüler:innenzahlen deutlich geringer ausfallen als vom Statistischen Bundesamt seinerzeit prognostiziert.
Baustein 2: Die Entwicklung der Zahl der Schüler:innen
Die demographische Entwicklung beeinflusst maßgeblich die der Schüler:innenzahlen. Dabei ist die Vorausberechnung der Zahl der zukünftigen Grundschüler:innen noch vergleichsweise einfach, werden doch alle Kinder im Regelfall sechs Jahre nach ihrer Geburt eingeschult. Die Zahl der Schüler:innen zu errechnen, die an den verschiedenen weiterführenden Schulformen zu einem gegebenen Zeitpunkt zu erwarten sind, ist hingegen deutlich voraussetzungsvoller. Denn dazu müssen Annahmen darüber getroffen werden, wie sich die Schüler:innen im Anschluss an die Grundschule auf die unterschiedlichen Schulformen der Sekundarstufe I (Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, integrierte Schulformen) und im Anschluss daran auf die berufsbildenden Angebote der Sekundarstufe II verteilen werden. Solche Annahmen sind jedoch immer mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, da sich das Interner Link: Bildungsverhalten der Bevölkerung über die Zeit verändert und deshalb gegenwärtige Verteilungsmuster nicht einfach in die Zukunft fortgeschrieben werden können.
Neben solchen Verteilungsannahmen spielen zudem Annahmen zur Dauer der Schulzeit eine wichtige Rolle, etwa zur Frage der Pflichtschulzeit in allgemeinbildenden Schulen (in einigen Bundesländern beträgt diese Zeit neun, in anderen zehn Schuljahre) oder auch in einzelnen weiterführenden Schulen (ein Teil der Bundesländer hebt die gymnasiale Schulzeit wieder von acht auf neun Jahre an). Im Ergebnis führt die Summe derartiger Annahmen seitens der einzelnen Bundesländer vom Schuljahr 2021/22 nach Einschätzung der KMK bis zum Schuljahr 2035/36 zu einem Anstieg der Schüler:innenzahlen um etwa 1,3 Mio., von 10,7 Mio. auf 12,0 Mio. Schüler:innen (KMK 2023).
Baustein 3: Die Entwicklung des Einstellungsbedarfs von Lehrkräften
Zur Ermittlung des Einstellungsbedarfs von Lehrkräften müssen der zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erwartende Lehrkräftebedarf sowie der zu diesem Zeitpunkt sich ergebende Bestand an beschäftigten Lehrkräften vorausgeschätzt werden. Erst die Differenz von Lehrkräftebedarf und -bestand führt zu dem zu diesem Zeitpunkt bestehenden Einstellungsbedarf. Dieser Einstellungsbedarf ist für die Politik eine zentrale Größe – sowohl für die Planung der Ausbildungskapazitäten der lehrkräftebildenden Hochschulen wie auch für die Haushaltsplanung.
Aufgrund der Vorausberechnung der Zahl der Schüler:innen lässt sich der künftige Lehrkräftebedarf ermitteln. Dazu müssen wiederum Annahmen getroffen werden: Ganz zentral sind dabei die Schüler:in je Stelle-Relationen, die angeben, wie hoch die Zahl der Schüler:innen ist, für die jeweils eine Lehrer:instelle zur Verfügung gestellt wird. Mit der Festlegung auf einen konkreten Schüler:in je Stelle-Wert sind implizit insbesondere Annahmen zur Klassenstärke, zur Anzahl der Schulstunden je Unterrichtsfach in den verschiedenen Klassenstufen und Schulformen („Stundentafeln“) sowie zur Anzahl der von einer Lehrkraft wöchentlich zu unterrichtenden Pflichtstunden („Unterrichtsdeputat“) verbunden. Aufgrund der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Lehrer:innen als Teilzeitbeschäftigte arbeiten (im Schuljahr 2022/2023 waren es bundesweit etwa 42 Prozent, vgl. Statistisches Bundesamt 2024), werden die von der KMK oder auch von einzelnen Bundesländern veröffentlichten Bedarfsprognosen in der Regel nicht im Stellenbedarf, sondern im Personenbedarf veröffentlicht. Die Zahl der erforderlichen Lehrkräfte ist in Folge der Teilzeitbeschäftigung eines Teils der Lehrkräfte durchgängig höher als die der erforderlichen Stellen.
In der jüngsten KMK-Vorausschätzung von 2024 finden sich keine Angaben dazu, mit welchen bedarfswirksamen Parametern die einzelnen Bundesländer gerechnet haben. Auch wird nicht mitgeteilt, wie hoch der Lehrkräftebedarf in den kommenden Jahren insgesamt sein wird. Ebenso wenig erfahren die Leser:innen der KMK-Studie darüber, wie hoch der in den jeweils kommenden Jahren zu erwartende Lehrkräftebestand sein wird. Dieser Lehrkräftebestand verringert sich von Jahr zu Jahr durch den Eintritt von Lehrer:innen in den Ruhestand und durch das Ausscheiden aus anderen als aus Altersgründen. Mitgeteilt wird in der KMK-Vorausschätzung lediglich der für die einzelnen Jahre erwartete Einstellungsbedarf, der sich – wie oben erläutert – aus der Differenz des zu einem bestimmten Zeitpunkt erwarteten Lehrkräftebedarfs und des zu diesem Zeitpunkt erwarteten Lehrkräftebestandes ergibt. Aus dieser Differenz ergibt sich der von der KMK für die Zeit bis zum Schuljahr 2035/36 erwartete jährliche Einstellungsbedarf. Dieser Einstellungsbedarf liegt in der aktuellen KMK-Abschätzung bis 2035/36 bei etwa 463.000 neuen Lehrkräften (in Personen, nicht in Stellen gezählt).
Baustein 4: Die Entwicklung des Neuangebots von Lehrkräften und die Bilanzierung von Angebot und Bedarf
Der letzte Schritt besteht in der Abschätzung des in den kommenden Jahren jeweils zu erwartenden Angebots von neu ausgebildeten Lehrkräften. Die KMK erwartet dazu bis 2035 ein Neuangebot in Höhe von 395.000 Personen, so dass sich aus dem Bedarfswert von 463.000 Personen und diesem Angebotswert bis 2035 ein Lehrkräftemangel in Höhe von 68.000 ableiten lässt.
Während die KMK-Überlegungen zur Entwicklung des Einstellungsbedarfs – sieht man von der fehlenden Transparenz hinsichtlich der bedarfswirksamen Parameter ab – nachvollzogen werden können, erscheinen die Annahmen der KMK hinsichtlich der Zahl der künftig zu erwartenden Lehrkräfte fragwürdig. So geht, folgt man der aktuellen KMK-Prognose, die Mehrheit der Länder bei ihren Angebotsprognosen von Anfang der 2020er oder doch von der Mitte der 2020er Jahre von konstant bleibenden Angebotszahlen aus, unbeschadet der Tatsache, dass die gleiche KMK in ihrer Statistik und in ihrer Prognose der Schulabsolventinnen und -absolventen mit einer allgemeinen Hochschulreife eine Bandbreite von 2016 noch 354.000 und 2026 nur noch 271.000 ausweist (KMK 2023). Wenn man vom Jahr des Erwerbs der Hochschulreife bis zum Eintritt in den Schuldienst acht Jahre rechnet (fünf Jahre für das BA- und MA-Studium, zwei Jahre für den Vorbereitungsdienst und ein Jahr für die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen), so ist schwer nachvollziehbar, wie der Abiturjahrgang 2016 im Jahr 2024 die gleiche Zahl ausgebildeter Lehrkräfte hervorbringen soll wie z. B. der Abiturjahrgang 2026 im Jahr 2034.
Auswege aus der Krise?
Der Anteil der jungen Leute mit einer Studienberechtigung, die ein Lehramtsstudium aufnehmen, liegt gegenwärtig bei etwa 8 Prozent und wird sich angesichts des Mangels auch in anderen Berufen, die eine universitäre Ausbildung erfordern, kaum erhöhen lassen. Wenn die Bundesländer von der Politik der Mangelwirtschaft unter Zuhilfenahme von Notmaßnahmen loskommen wollen, so erscheint vor allem ein Weg aussichtsreich: Es müssen sich alle Anstrengungen darauf richten, den Anteil derer, die vom Beginn des Lehramtsstudiums bis zum Eintritt in den Schuldienst verloren gehen, deutlich zu reduzieren. Denn folgt man den Berechnungen des Stifterverbandes (2023), so schließen von den Anfänger:innen eines Lehramtsstudiums lediglich etwa 54 Prozent ihre Ausbildung erfolgreich ab. Um dem entgegenzuwirken, sind differenzierte Analysen zu den Ausbildungsphasen, in denen Studierende und Referendare ihr Ausbildungsziel des Lehrer:innenberufs aufgeben, unverzichtbar. Auf der Grundlage derartiger Untersuchungen könnte daraufhin nach Wegen gesucht werden, die Zahl derjenigen zu steigern, die den einmal eingeschlagenen Ausbildungsweg auch zu Ende gehen, um dann tatsächlich in den Lehrberuf einzumünden.
Selbst wenn es sehr zügig gelänge, im Lehramtsstudium spürbare Verbesserungen zu erzielen, würde sich dies allerdings wegen der Dauer der Lehramtsausbildung frühestens nach etwa acht Jahren in den Absolventinnen- und Absolventenzahlen bemerkbar machen. Kurz- bis mittelfristig werden wir also sehr wahrscheinlich auf die ganze Palette der schon heute praktizierten Notmaßnahmen angewiesen bleiben.
Angesichts der komplexen Dynamiken, die auf dem Lehrkräftearbeitsmarkt zum Tragen kommen, werden Phasen des Mangels auch zukünftig nicht vollständig zu vermeiden sein. Zumindest in einem gewissen Rahmen aber lässt sich vorbeugen. In Anbetracht der immensen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Lehrberufs und in Wertschätzung gegenüber denjenigen, die sich für diese mitunter fordernde Berufslaufbahn entscheiden, sollte die Schulpolitik alles daran setzen, hier ein Höchstmaß an verlässlichen Beschäftigungsperspektiven zu bieten – auch wenn das in Zeiten geringerer Schüler:innenzahlen unter Umständen Mehrkosten bedeutet. Denn wenn die Vergangenheit eines lehrt, dann wohl dies: Ob die vielen zusätzlichen Lehrkräfte, die aktuell so händeringend gesucht werden, noch ebenso gute Beschäftigungschancen vorfinden, sollten die heutigen Werbungsrufe am Ende tatsächlich Gehör gefunden haben, ist gegenwärtig keineswegs sicher.