Armin Himmelrath
„Funktioniert ein Dialogprozess in der Beteiligung richtig gut, stört er Pläne, Vorhaben, Drehbücher“, sagt der Sozialwissenschaftler Jörg Sommer, Direktor des Berlin Institut für Partizipation. Irritationen und Diskussionen wären demnach logische Folge gelingender Beteiligung. Seid ihr beide deshalb schon früh in der Schüler:innenvertretung (SV) aktiv geworden – um zu irritieren und zu stören?
Xueling Zhou
Das wäre natürlich eine gute Story. Aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich am Anfang einfach nur Mathe schwänzen, ich bin lieber zur Schüler:innenratssitzung gegangen. In der siebten Klasse war das. Und da war es ziemlich cool, genau wie später auf Bezirksebene und bei der Landes-SV in Nordrhein-Westfalen. Man konnte einfach wahnsinnig viel machen, und je mehr man sich mit den Thematiken beschäftigt hat, desto mehr ist man da natürlich auch reingerutscht. Bei mir waren es vor allem die Themen Bildungsungerechtigkeit, Rassismus und Inklusion.
Henry Schuckmann
Ich bin seit der fünften Klasse dabei. Die SV ist damals durch unsere fünften Klassen gegangen, hat gesagt: „Hey, herzlich willkommen an der neuen Schule – wir sind für euch da!“ Das hat mich sehr angesprochen und beeindruckt. Da wollte ich auch mitmachen! Ich habe mich aber nicht getraut und deshalb meine Englischlehrerin gefragt: Können Sie vielleicht mit mir dahin gehen? Und so bin ich zur Junior-SV gekommen.
Armin Himmelrath
Was ist die Junior-SV?
Henry
Das war damals ein Modellprojekt für die Klassen 5 bis 7. Die haben einmal im Jahr die Unterstufenparty organisiert und ansonsten konnten wir ausprobieren, wie Beteiligung geht – ganz niedrigschwellig. Die haben mich total herzlich aufgenommen. Und dann hat mein Leben so eine komplette Wendung genommen und auf einmal war ich in diesem SV-Kosmos drin – und bin es bis zum Abi geblieben, zuletzt vier Jahre als Schülersprecher, außerdem in der Bezirksschüler:innenvertretung, dann auch beim SV-Bildungswerk. Ich wollte Schule gestalten, ich wollte Menschen vertreten.
Xueling
Man lernt einfach, dass man da wirklich etwas bewegen kann. Die krassesten Momente waren für mich, als ich Interviews geführt habe beim WDR oder beim Morgenmagazin, wo es danach auch richtig viel positives Feedback und Zustimmung gab. Es war das Gefühl, eine Art Sprachrohr zu sein. Keinen Einzelkampf auszutragen, sondern für ganz viele Schüler:innen mitzukämpfen - das ist die treibende Kraft dahinter.
Henry
Man nutzt dieses Amt, um zu gestalten, um Mitsprache zu ermöglichen. Und wenn ich jetzt zum Beispiel als interner Experte die Stadt Bielefeld beraten kann, dann bin ich wirklich dankbar dafür, dass ich diese Erfahrung machen darf und dass Menschen mir vertrauen und ich sie vertreten darf.
Armin Himmelrath
Wenn ihr an eure Arbeit denkt im Rahmen der SV, auf Schul- oder Bezirksebene, landesweit oder sogar bundesweit im SV-Bildungswerk: Wo sind die wirksamsten Hebel für Mitwirkung und Gestaltung, die ihr kennengelernt habt?
Xueling
Zum einen, den Schüler:innen in der Öffentlichkeit ein Gesicht zu geben, bei Interviews mit Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel. Davon lebt die SV-Arbeit sehr stark, weil Schüler:innen nicht unbedingt einfach mal so die Möglichkeit haben, einen Podcast rauszuhauen oder einen Film. Das braucht Vorbereitung, Zeit, Energie – die man auch erstmal haben muss. Das Gespräch mit den Medien ist, glaube ich, der größte Hebel: Dadurch können wir unsere Meinung nach außen bringen, dadurch können wir gehört werden – besser, als wenn wir direkt mit Politikerinnen und Politikern reden.
Armin Himmelrath
Das direkte Gespräch funktioniert nach deiner Erfahrung nicht so gut?
Xueling
Das ist immer so eine Sache. Man redet oft wie gegen eine Wand. Man bringt seine Argumente, ist sehr konzentriert und detailliert, und dann gibt‘s eine kurze Reaktion von der Politik und dann ist auch schon wieder Schluss. Wenn ich so abgespeist werde, habe ich das Gefühl von „Ach, egal, ihr seid ja nur Schüler:innen“. Aber Reporter:innen fragen normalerweise ja genau nach der Meinung und den Argumenten, auf denen diese Meinung beruht. Und ich glaube, das ist der große Hebel.
Henry
Definitiv, da gebe ich dir total Recht. Ich finde öffentliche Kommunikation extrem wichtig. Ich freue mich immer total, wenn Reporter:innen mit Schülerinnen und Schülern sprechen möchten, weil wir uns in unserem Kosmos bewegen und den Schulalltag wirklich von innen kennen. Es gibt aber noch einen zweiten Hebel: den Kontakt zur Verwaltung. Wir haben bei uns in Bielefeld drei tolle Menschen in der Stadtverwaltung sitzen, die super engagiert sind. Die setzen sich wirklich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche beteiligt werden. Da lassen sich unsere Ansichten, unsere Ideen und Vorschläge auch sehr gut einspeisen. Vielleicht ist das aber auch eine Besonderheit in Bielefeld.
Xueling
Solche direkte Beratung der Städte und Schulträger, die sollte es überall geben. Am besten wäre natürlich ein:e institutionalisierte:r Partizipationsbeauftragte:r, die oder der sich mit Kindern und Jugendlichen auseinandersetzt. Die Realität sieht leider anders aus, zumindest meiner Erfahrung in Köln nach: Da gibt’s zwar Gespräche mit dem Dezernat für Schule, Sport und Weiterentwicklung, einmal im Halbjahr für eine Stunde. Das ist viel zu kurz! Das Gleiche haben wir dann mit der Leiterin das Schulentwicklungsamts. Und noch mal mit der Oberbürgermeisterin. Aber das sind halt jeweils nur Gespräche, die höchstens eineinhalb Stunden dauern – für so große Themen wie Klima, Digitalisierung, psychische Gesundheit, Corona. Da reicht eine Stunde bei weitem nicht.
Armin Himmelrath
Aber es gibt doch Kinder- und Jugendparlamente als Orte kommunaler Partizipation.
Henry
Das stimmt, Kinder- und Jugendparlamente sind ein sehr gutes Organ – aber eben nicht das einzige. Und längst nicht jede Stadt hat diese Gremien! Die Bezirks-SV soll und muss es weiterhin geben, für die Belange der Schüler:innen.
Xueling
Ganz ehrlich: Als Hauptorgan bevorzuge ich immer noch die SV-Strukturen – einfach deshalb, weil sie schon vorhanden sind. Das zu nutzen ist viel weniger aufwendig, als etwas ganz Neues aufzuziehen. Andererseits ist der Austausch mit anderen natürlich wichtig. In Köln haben wir den Jugendring, bestehend aus eigentlich allen Jugendorganisationen in Köln: Da ist von der SDAJ bis zur Katholischen Jugendgemeinde alles drin, die Bezirks-SV natürlich auch. Diese Lösung finde ich eigentlich ganz gut.
Henry
Vielleicht muss man einfach auch verschiedene Formate ausprobieren. Jugendparlamente, Jugendring, auch andere Formen der Beteiligung. Das ist ein Lernprozess. Aber es stimmt: Die SV-Struktur ist mit das Wichtigste, was wir in Deutschland haben, weil sie frühe Beteiligung für alle ermöglicht.
Armin Himmelrath
Zumindest theoretisch. Ihr habt beide gesagt, dass Bildungsgerechtigkeit und Zugänge zur Bildung wichtige Themen für euch sind. Wie sieht das denn aus mit der Partizipationsgerechtigkeit? Also dem Zugang zu diesen Institutionen, über die wir gerade diskutieren?
Henry
Das ist ein extrem wichtiger Punkt. Erstmal ist natürlich wichtig, dass man weiß, dass es diese Institution überhaupt gibt. Wie gesagt, an meiner Schule erfährt man das direkt am Anfang in der fünften Klasse. Wir haben auch Lehrer:innen, die das thematisieren, und es ist wichtig, dass die Fünftklässler:innen nicht das Gefühl bekommen: „Oh, SV? Das ist nur was für die Großen aus den oberen Klassen.“ Und Schule ist der beste Ort, damit man an solche Institutionen rankommt.
Xueling
Mangelnder Informationsfluss ist auf jeden Fall ein großes Problem. Es fängt ja schon damit an, dass jemand sagen muss: „So, hier sind wir, eure SV, kommt mal rein, wir machen das und das.“ Sonst passiert, was ich an meiner Schule sehr stark erlebt habe: Schüler:innen gehen nicht in die SV, weil sie denken: „Da passiert ja eh nichts.“ Und dann kommt noch etwas hinzu: SV-Arbeit kostet Zeit. Für mich ist das ein Hauptproblem: Politisches Engagement ist Luxus, den man sich leisten können muss. Man muss die Noten dafür haben und man muss es sich leisten können, auch mal ein paar Tage in der Schule zu fehlen. Man muss es sich auch leisten können, sich mit Lehrkräften anzulegen - wohl oder übel wird auch das mal passieren. Ich fürchte, diesen Mut und diese Kapazitäten hat nicht jeder.
Henry
Ich stimme dir total zu. Klar, es gibt viele engagierte Menschen, aber es gibt dann so einen kleinen klassischen Kern von diesen stark engagierten Menschen, die auf alles zurückfällt, die immer alles machen, die immer da sind. Die sich da auch wirklich mit Herzblut reinhängen. Und wie du gesagt hast: Das muss man sich erst mal leisten können. Und dann wir sich immer beschwert: Schüler:innen machen nichts – aber auf der anderen Seite werden wir blockiert, wenn wir mal was machen möchten. Mit diesem Thema muss man viel offener umgehen, damit Partizipation und Mitgestaltung auch tatsächlich stattfinden können.
Xueling
Klar ist aber auch: Wir beide kommen ja vom Gymnasium, also von einer privilegierten Schulform. Und wenn ich auf andere Schulformen schaue – da ist Partizipation ein Fremdwort. Viele Lehrkräfte haben auch absolut kein Interesse, dass Schüler:innen da partizipieren. Klar, es gibt auch ein paar Ausnahmen. Aber das ist schon ein Problem.
Armin Himmelrath
Wie ließe sich die Situation verbessern?
Xueling
Ehrlich gesagt: Ein bisschen mehr Anerkennung wäre schon nett. Oft hören wir nur Gemecker über unsere Arbeit.
Henry
Genau, so ein Klopfen auf die Schulter oder ein Dankeschön, das würde, glaube ich, allen Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtlern guttun. Wir sind schließlich so etwas wie der demokratische Klebstoff, sage ich jetzt mal so.
Xueling
Und das geht ja weit über die SV hinaus: Nimm zum Beispiel Menschen, die kostenloses Essen an Obdachlose verteilen oder ukrainische Flüchtlinge betreuen. Wenn sich jemand engagieren will, egal wo, dann sollte es für diese Menschen Unterstützung geben. So, wie es zum Beispiel das SV-Bildungswerk für die SV-Interessierten macht.
Henry
SV ist Demokratie pur, da lernst du wirklich Demokratie.
Xueling
Das ist die Basis für Gesellschaft und Staat! Ganz abgesehen davon, dass man sein Selbstbewusstsein stärkt, Teamarbeit lernt oder Auftritte in der Öffentlichkeit – wie viele können das sonst am Ende ihrer Schulzeit?
Henry
Das stimmt, es ist neben der Mitarbeit an den Schulstrukturen auch eine wahnsinnige persönliche Entwicklung damit verbunden. Ich traue mich jetzt, mit Politikerinnen und Politikern zu sprechen. Ich traue mich jetzt, vor den Stadtrat zu treten und denen einfach mal meine Meinung zu sagen. Ich schulde der SV einfach einen riesengroßen Dank.
Armin Himmelrath
Vielen Dank, Xueling und Henry!