Erst in den letzten 15 Jahren hat das Thema Bewegung in der Öffentlichkeit merklich an Bedeutung gewonnen. Ging es bis Anfang der 2000er Jahre dabei vor allem um Fragen individueller Gesundheit und Freizeitgestaltung, so wird Bewegung heute vielfach in einem Atemzug mit ganzheitlicher Entwicklung und Bildung genannt. Von Politiker:innen-Reden auf Bundesebene bis hin zu lokalen Freizeitangeboten wird ihre grundlegende und weitreichende Bedeutung hervorgehoben, wenn es um das Wohlbefinden und die ganzheitliche Entwicklung von Kindern geht.
Gerade in den ersten Lebensjahren gilt Bewegung als Ausdruck unmittelbarer kindlicher Bedürfnisse und zugleich als Antrieb für körperliche Entwicklungsprozesse. Nicht zuletzt – so der Tenor – gewinnen Kinder über Bewegung nachdrückliche Erkenntnisse und sinnliche Eindrücke. Zudem wird im öffentlichen Diskurs immer wieder dringlich auf die Folgen von Bewegungsmangel bei Kindern hingewiesen, wie etwa mangelnde körperliche Fitness, Haltungsschäden bis hin zu geringerer geistiger Leistungsfähigkeit und gesundheitlichen Spätfolgen im Erwachsenenalter. Der überwiegende Teil der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bewegt sich, gemäß den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), im Alltag nicht ausreichend (BMG 2022).
Mit diesem wachsenden öffentlichen Bewusstsein über die Bedeutung von Bewegung stehen Bildungseinrichtungen und auch Eltern heute unter dem generellen Anspruch, Kindern mehr Bewegung im Alltag zu ermöglichen und so ihre Entwicklung zu fördern (siehe Infobox).
QuellentextHinweis der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung:
»Bewegungsförderung muss zu einem frühen Zeitpunkt beginnen und durch gesundheitliche Aufklärung und Angebote der Eltern unterstützt werden, z.B. ärztliche Beratung Schwangerer und im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen […], Schwangerschafts- und Elterngruppen, Spielkreise und Krabbelgruppen. […] Dabei ist entscheidend, dass den Eltern konkrete Möglichkeiten der Bewegungsförderung aufgezeigt werden, indem sie z.B. schon bei kleinen Kindern durch Lob und Interesse den natürlichen Bewegungsdrang begleiten und fördern«
(Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2008, S. 69).
Wie genau hängen aber Bewegung, Entwicklung und Bildung zusammen? Welchen Zugang haben Kinder unterschiedlicher sozialer Gruppen zu Bewegung? Und: Was kann politisch getan werden, um die Ressource Bewegung möglichst breit zugänglich zu machen? Diesen Fragen widmen sich die folgenden Abschnitte.
Welchen Einfluss hat Bewegung auf körperliche Entwicklung, Lernen und Bildung von Kindern?
Im Kindesalter gehört Bewegung zu den grundlegenden Bedürfnissen und Betätigungsformen. Egal welches Land dieser Erde oder welche Kultur: Immer lässt sich beobachten, dass Kinder sich aus eigenem Antrieb Möglichkeiten für Bewegung suchen. Über Bewegung treten sie mit anderen in Kontakt, erproben sich selbst oder probieren etwas Neues mit Bewegungen aus. So wird ein Sofa für sie spontan zur Sprunggelegenheit, ein umgestürzter Baum ein spannender Anlass zum Klettern und Balancieren, eine Pfütze eine aufregende Gelegenheit in dieser gemeinsam herumzuspringen. Solche selbst gewählten Aktivitäten sind bei Kindern stets Ausdruck ihrer unmittelbaren Lebensfreude, altersbedingten Neugier und Entdeckerlust. Aus entwicklungsbezogener Perspektive sind sie zentral für Gesundheit, Lernen und Bildung – insbesondere in der frühen Kindheit. Denn in keinem Abschnitt des Lebenslaufs entwickelt sich der Mensch so schnell und so umfassend wie in den ersten Lebensjahren, in keinem Alter ist der Bewegungsdrang so ausgeprägt wie in dieser Zeit und in keinem späteren Alter hat Bewegung einen so grundlegenden Stellenwert für die individuellen Entwicklungsprozesse.
Bewegung wirkt als Impuls für die körperliche und motorische Entwicklung von Kindern
In den ersten Lebensjahren, in denen sich der Organismus von Kindern im Aufbau befindet, benötigt er aus physiologischer Sicht eine regelmäßige Mindestbeanspruchung, um seine Funktion und Leistungsfähigkeit sicherzustellen – körperliche Bewegung wirkt dabei als ein notwendiger biologischer Entwicklungsreiz. Wird der alterstypische Drang von Kindern körperlich aktiv zu sein zugelassen, regt das die gesunde Entwicklung ihres Organismus an, und zwar bereits in alltäglichen, spontanen Bewegungssituationen wie Klettern, Rennen und Springen. Damit werden der Haltungs- und Bewegungsapparat sowie das Herz-Kreislaufsystem auf Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit trainiert sowie ihre „Weiterentwicklung“ angeregt. Spielt ein Kind etwa mit einem Ball, indem es ihn wirft, ihm hinterherläuft, ihn wiederaufnimmt und wieder wegwirft, so verbessert es dadurch Schritt für Schritt seine motorischen Fähigkeiten. Es lernt, den Ball schneller oder geschickter aufzunehmen oder gezielter zu werfen. Die intervallmäßige Belastung (der Wechsel von körperlicher Anstrengung und Pause) trainiert zugleich das Herz-Kreislauf-System, die Muskulatur erhält Wachstumsreize und die Knochenstruktur Reize sich zu festigen. Bewegung legt also die Basis für eine gesunde körperliche Entwicklung und ist Voraussetzung für motorisches Lernen.
Diese Entwicklung ist jedoch an eine körperliche Mindestbeanspruchung gebunden. Das zeigen verschiedenste Studien, die darauf hinweisen, dass eine deutliche Unterschreitung – also ein Mangel an körperlicher Aktivität und Bewegung – mit orthopädischen und kardiologischen Problemen einhergeht, etwa Haltungsschwächen, Koordinationsproblemen und schnellen Belastungsermüdung (Bös u.a. 2009). Daher empfiehlt nicht zuletzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Kinder unter fünf Jahren eine tägliche Bewegungszeit von 60 bis 180 Minuten (WHO 2019, S. 25), wobei hier kein Trainingsprogramm gemeint ist, sondern spontane körperliche Aktivitäten, die den kindlichen Bedürfnissen entsprechen.
Was Bewegung für die kognitive Entwicklung und Lernprozesse bedeutet
In den ersten Lebensjahren ist das kindliche Denken noch an das unmittelbare Handeln gebunden. Kinder sind zunächst darauf angewiesen, die sie umgebenden Dinge zu berühren, sie handzuhaben, sie zu bewegen, um Informationen – also Wissen – über sie zu erlangen. Sie müssen beispielsweise einen Ball anfassen, um zu erfahren, dass sein Material nachgibt, den Ball bewegen, um zu begreifen, dass er rollt und vielleicht auch vom Boden hochspringt. Durch solche erkundenden Tätigkeiten eignen sich Kinder nicht nur unbewusst Kenntnisse über den Gegenstand an. Sie erfahren zugleich, welchen Einfluss ihr eigenes Bewegungsverhalten etwa auf die Bewegung des Balles hat. Sie können die Situation verändern, um selbst neue Entdeckungen zu provozieren, die Entdeckungen wiederholen, um sie zu überprüfen und so weiter. So erleben sie unmittelbar Ursache und Wirkung und lernen, Zusammenhänge zu erkennen.
Solche Informationen, die an das aktive körperliche Tun geknüpft sind, werden von Kindern gespeichert, kognitiv miteinander verknüpft und sind immer wieder abrufbar, wenn sie durch Wiederholung gefestigt werden. Zwar nimmt diese besondere Bedeutung von Bewegung für die unmittelbare Informationsaufnahme im Laufe der Kindheit ab, da Kinder zunehmend fähig sind, von konkreten Handlungen zu verallgemeinern und Erkenntnisse über ihr komplexeres Vorstellungsvermögen zu gewinnen. Dennoch ist die körperliche Erfahrung auch später für Verstehensprozesse relevant. Schüler:innen erfassen etwa physikalische Phänomene wie Schwerkraft, Fliehkraft oder Reibung durch praktisches Erproben und Experimentieren „intuitiver“ als durch bloßes Erklären und Zeigen.
Über die Informationsgewinnung hinaus unterstützt Bewegung die Verarbeitung und Speicherung von Informationen. Kinder können Wörter, Zahlen oder sonstige Lerninhalte oft leichter behalten, wenn sie sie beim Einprägen mit Gesten oder rhythmischen Bewegungen begleiten. Als Grund dafür gilt die doppelte Codierung der Lerninhalte im Gehirn: Insofern sie motorisch und kognitiv gespeichert werden, führt dies zum schnelleren und sicheren Wiederauffinden von Gedächtnisspuren im Langzeitspeicher des Gehirns. Nicht zuletzt unterstützt Bewegung insofern kognitive Lernprozesse, als die körperliche Aktivität hilft, innere Spannungen abzubauen und so eine bessere Konzentration zu erreichen.
Wie Bewegung die psychosoziale Entwicklung von Kindern beeinflusst
Sind Kinder in Bewegung, werden sie mit vielfältigen psychischen und sozialen Herausforderungen konfrontiert. In psychischer Hinsicht werden sie herausgefordert, wenn sie z.B. persönliche Risiken eingehen müssen, oder ihre Grenzen austesten wollen. Sie müssen sich Ängsten stellen oder Mut mobilisieren, wenn sie beim Klettern hoch hinauswollen. Sie müssen ausdauernd sein oder sich körperlich überwinden, wenn sie Spaß erleben wollen, z.B. beim Hochschaukeln. In Situationen mit anderen können Kinder auch in sozialer Hinsicht gefordert sein, etwa mit anderen zu kooperieren (z.B. beim Zuwerfen des Balles), sich ihnen gegenüber durchzusetzen (z.B. beim Erobern des Balles), oder sie mittels der eigenen Kräfte zu dominieren (z.B. beim Kämpfen). Bewegungssituationen sind in diesem Sinne immer besondere Erfahrungs- und Übungsgelegenheiten (sich selbst überwinden, mit anderen konkurrieren, sich Ziele setzen usw.) für die psychosoziale Entwicklung von Kindern im Spannungsfeld zwischen den je eigenen Bedürfnissen oder Wünschen und den Anforderungen der sozialen Umwelt.
Dabei machen Kinder in solchen Situationen nicht nur positive Erfahrungen: Sie können selbstverständlich auch erleben, dass sie schwächer sind als andere, Misserfolg oder sich selbst als ängstlich und andere als überlegen erleben. Bewegung an sich führt also nicht zu einer quasi-automatischen Erhöhung des kindlichen Selbstvertrauens oder per se zur Förderung prosozialen oder solidarischen Verhaltens. Doch durch ihren unmittelbaren, körperbezogenen Charakter und ihre Wiederholbarkeit bieten Bewegungsaktivitäten ein besonderes Potenzial, sich positiv zu erfahren – insbesondere dann, wenn sich Kinder in selbst gewählten Bewegungssituationen als eigenmächtige Akteure erleben können. Solche unmittelbaren Erfahrungen, wie „Ich kann meine angestrebten Ziele (z.B. auf die Mauer klettern, von einer hohen Treppenstufe springen) verwirklichen“, „Ich kann meine Angst überwinden“, „Ich kann das schaffen, wenn ich es öfter versuche“, sind eine Grundlage für die Entwicklung von Selbstsicherheit und Selbstvertrauen von Kindern (Zimmer 2020).
Bewegung ist also für die Entwicklung und das Lernen von Kindern von früh auf wichtig und erfüllt dabei eine Reihe zentraler Funktionen (siehe Infobox).
Überblick der Funktionen von Bewegungserfahrungen für Kinder:
Personale Funktion: Den eigenen Körper und damit sich selbst kennenlernen; sich mit den körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen und ein Bild von sich entwickeln
Soziale Funktion: Mit anderen gemeinsam etwas tun, mit und gegeneinander spielen, sich mit anderen absprechen, nachgeben und sich durchsetzen
Produktive Funktion: Selbst etwas schaffen, herstellen, mit dem eigenen Körper etwas hervorbringen (z.B. eine Bewegungsfertigkeit wie auf den Händen stehen oder einen Ball auf ein Ziel werfen)
Expressive Funktion: Gefühle und Empfindungen in Bewegung ausdrücken, körperlich ausleben und gegebenenfalls verarbeiten
Impressive Funktion: Gefühle wie Lust, Freude, Erschöpfung und Energie empfinden, durch Bewegung spüren
Explorative Funktion: Die dingliche und räumliche Umwelt kennenlernen und sich erschließen, sich mit Objekten und Geräten auseinandersetzen und ihre Eigenschaften erkunden
Komparative Funktion: Sich mit anderen vergleichen, sich miteinander messen, wetteifern und dabei sowohl Siege verarbeiten als auch Niederlagen ertragen lernen
Adaptive Funktion: Belastungen ertragen, die körperlichen Grenzen kennenlernen und die Leistungsfähigkeit steigern, sich selbstgesetzten und von außen gestellten Anforderungen anpassen
Nach Renate Zimmer (2020), Ommo Grupe (1992) und Jürgen Kretschmer (1981) zusammengefasst in Zimmer (2020), S. 21f.
Zu beachten ist jedoch, dass die Schlussfolgerung „Bewegung macht klug“ trotz der vielfältigen Funktionen, die Bewegung nachgewiesenermaßen für die Entwicklung und das Lernen von Kindern generell hat, in dieser Eindeutigkeit nicht abgeleitet werden kann. Gemäß der Komplexität der geistigen Entwicklung des Kindes und der (auch biologisch fundierten) Dynamik der motorischen Entwicklung im Kindesalter lassen sich die Wirkungszusammenhänge zwischen Bewegung und geistiger Entwicklung kaum quantifizierend abbilden. Kursierende Aussagen wie „Bewegung macht intelligent“ sind in dieser Eindeutigkeit dementsprechend nicht haltbar. Weder ein Mehr an (irgendeiner) Bewegung noch ein Mehr an motorischem Können lassen sich zwangsläufig mit einem (messbaren) Mehr an geistiger Entwicklung in Verbindung bringen. (Hunger, 2022)
Bewegungs-, Bildungs- und Entwicklungschancen sind sozial ungleich verteilt
Aus einer entwicklungsbezogenen Perspektive ist Bewegung also für alle Kinder gleichermaßen wichtig. In welchem Umfang sie sich jedoch im Alltag bewegen können, was sie im Einzelnen durch Bewegung erfahren und wie sich Bewegung damit auf ihre Entwicklung und ihre Bildungsprozesse auswirkt, unterscheidet sich in der Realität dagegen sehr zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Welche Rolle spielen dabei die Eltern, die soziale Herkunft der Familien sowie geschlechterbezogene Zuschreibungen?
Die wichtigste Instanz für kindliche Bewegungs-, Lern- und Bildungschancen sind die (sozialen) Eltern. Sie sind es, die Bewegungsanlässe schaffen, zulassen oder verhindern. Ob Kinder etwa selbst entdeckten Bewegungsmöglichkeiten nachgehen dürfen – z.B. auf dem Bordstein balancieren, auf einen Baum klettern, auf dem Bett springen – , ob sie einen Spielplatz oder einen Sportverein besuchen dürfen, ob Bewegung im Alltag überhaupt eine Rolle spielt, hängt vor allem von den Eltern ab. Auch was die Kinder in den jeweiligen Situationen erleben (dürfen), wird durch die Eltern geprägt. Denn sie kommentieren und reglementieren das kindliche Bewegungsverhalten im Alltag und formulieren körperliche Verhaltenserwartungen an ihre Kinder. Sie können ihre Kinder von früh auf ermutigen oder entmutigen, ihre Bewegungslust anregen oder bremsen. Das eine Kind wird ängstlich zurückgerufen, wenn es versucht, von einer höheren Stufe zu springen, das andere darin bestärkt, dass es sein selbst gewähltes Vorhaben schafft. Ein Kind wird zum Wettstreit und zur körperlichen Überbietung herausgefordert, das andere eher im kooperativen Spiel bestärkt.
Die Bedeutung der sozialen Herkunft
Bereits aufgrund ihres räumlichen Umfelds haben Kinder grundsätzlich sehr unterschiedliche Möglichkeiten sich zu bewegen. Manche Kinder wohnen in einer kleinen Wohnung, an einer stark befahrenen Straße oder neben lärmempfindlichen Nachbarn. Andere Kinder dagegen haben vielfältige Möglichkeiten, sich frei zu bewegen: Ihnen steht vielleicht ein Garten mit einem Trampolin zur Verfügung, sie können sich mit ihren Laufrädern auf der Straße gefahrlos frei bewegen oder im eigenen Zimmer ungestört wild toben.
Wie sich Kinder bewegen können und welche Entwicklungs-, Lern- und Bildungschancen sich dabei für sie eröffnen, hängt aber vor allem von der sozialen Herkunft der Familien ab. Quantitative Studien zeigen, dass im bundesweiten Durchschnitt Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien, die sozioökonomisch schlechter gestellt sind und oftmals nur über geringe formale Bildung verfügen, wesentlich weniger Sportvereine und andere institutionelle Bewegungsangebote besuchen als sozial besser gestellte Familien mit höheren Bildungsabschlüssen, sowie weniger öffentliche Bewegungsmöglichkeiten nutzen und auch ihre tägliche Bewegungszeit insgesamt geringer ausfällt (Bantel u.a. 2021, Mutz & Albrecht 2017, Schmidt u.a. 2020). Aus den Studien lässt sich zusammenfassen, dass sozial benachteiligte Kinder während ihrer Schulzeit im Vergleich zu ihren sozial besser gestellten Mitschüler:innen insgesamt weniger körperlich aktiv sind und in ihren Familien weniger Anregung für entwicklungsunterstützende Bewegung im Alltag erhalten (Mess & Woll 2012). Die unterschiedliche Bewegungssozialisation wirkt sich vor allem auf die körperlich-motorische Leistungsfähigkeit der Kinder aus (Krug u.a. 2018). Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien – darunter insbesondere Mädchen aus Familien mit Migrationshintergrund – zeigen mit zunehmendem Schulalter oftmals Schwächen in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit (z.B. bei konditionellen und koordinativen Fähigkeiten sowie ganzkörperlichen Beanspruchungen). Darüber hinaus sind Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien bis zu viermal Mal mehr von Übergewicht und Adipositas betroffen als Kinder aus Herkunftsfamilien mit höheren Bildungsabschlüssen und mittlerem bis hohem soziökonomischen Status (Koschollek u.a. 2019; Schienkiewitz u.a. 2018).
Dass Kinder aus bestimmten Herkunftsmilieus weniger öffentliche Bewegungsangebote nutzen oder am Vereinssport teilhaben, bedeutet nicht immer, dass ihnen die finanziellen Mittel dafür fehlen. Qualitative Studien zeigen, dass viele Erziehungsverantwortliche aufgrund ihrer prekären Lage vielfach zu erschöpft sind, um sich zielgerichtet um ein aktives Freizeitangebot für ihre Kinder zu kümmern. Außerdem erschweren es ihnen teils sozio-kulturelle Barrieren, am öffentlichen Bewegungsleben etwa auf Spielplätzen oder in Sportvereinen teilzuhaben, oder den Eltern fehlt schlicht das Wissen über die Bedeutung von Bewegung (vgl. Hunger 2022). So unterscheiden sich der Umgang mit Bewegung zwischen den Familien verschiedener sozialer Lage teils frappierend und reicht von einer kontinuierlich und bewusst in den Alltag implementierten Förderung des Kindes mittels Bewegung bis hin zu einer Quasistilllegung von Bewegungsbedürfnissen mittels medialer Angebote.
Geschlechtsbezogene Zuschreibungen
Auch wenn die soziale Herkunft in unserer Gesellschaft nach wie vor entscheidenden Anteil an den Entwicklungs- und Bildungschancen von Kindern hat, darf nicht vergessen werden, dass weitere Faktoren Einfluss darauf haben, wem welche Chancen eröffnet werden. Im Bereich von Bewegung ist das Geschlecht ein zentraler Faktor. Zwar sind viele Eltern davon überzeugt, dass das Geschlecht ihrer Kinder keine Rolle bei ihrer (Bewegungs-)Erziehung spielt und sie sich vielmehr an der „Persönlichkeit und Individualität“ ihrer Kinder orientieren. Doch zeigen verschiedenste Studien, dass es auch beim Bewegungsverhalten milieuübergreifend verfestigte geschlechtstypische Vorstellungen wirken. Jungen und Mädchen werden also vielfach mit bewegungsbezogenen Angeboten, Verhaltenserwartungen, Reaktionen, Identifikations- und Inszenierungsmöglichkeiten konfrontiert, die einschlägige Geschlechterbilder widerspiegeln. Jungen werden etwa oft (bewusst oder unbewusst) Bewegungsmöglichkeiten angeboten, bei denen sie lernen können sich durchzusetzen, andere zu überbieten oder ihre Kräfte zu messen (vgl. Hunger 2019). Über öffentlich präsente Identifikationsangebote wird ihnen nahegelegt, sich mit einem muskulären Körperbau, hoher Risikobereitschaft und einem Überlegenheitsimperativ zu identifizieren. Bei Mädchen wird anstelle eines starken Körperbaus oder Überlegenheitsphantasien eher an Kooperationsbereitschaft, Köperkontrolle und Fleiß appelliert.
Das bedeutet keineswegs, dass nicht auch Jungen elegant tanzen oder geschickt Seil springen oder Mädchen nicht auch kämpfen und wild sein wollen oder dürfen. Die Erweiterung und Aufweichung traditioneller Geschlechterbilder und Familienformen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass vorurteilsbehaftete Geschlechterbilder nach wie vor die Bewegungssozialisation von Kindern beherrschen und ihnen je nach Geschlecht unterschiedliche Lern- und Entwicklungschancen eröffnen. Dabei ist das jeweils geschlechtsbezogene „Typische“ nicht nur anders, sondern geht in der Regel auch mit einem unterschiedlichen sozialen Prestige einher. Bei Bemerkungen im Alltag, wie zum Beispiel „Die bewegt sich wie ein Junge“ oder „Der bewegt sich wie ein Mädchen“ offenbart sich eine unterschiedliche Bewertung der Geschlechter und ihres bewegungsbezogenen Tuns. Verschiedenste Studien zeigen, dass Kinder diese geschlechtsbezogene Anerkennungshierarchie bereits verinnerlicht haben: Sowohl Jungen als auch Mädchen trauen Jungen etwa beim Thema Durchsetzungsfähigkeit mehr zu als Mädchen (Hunger, 2022).
Fazit
Alle Kinder kommen mit einem natürlichen Bewegungsbedürfnis auf die Welt, und für alle Kinder gilt entwicklungstheoretisch gleichermaßen, dass Bewegung für ihre ganzheitliche Entwicklung, ihr Lernen, ihre Gesundheit und ihre Bildung wichtig ist.
Bewegung findet aber in einer weitgehend sozial (vor-)geprägten Umwelt statt. Die bewegungsbezogenen Entwicklungs-, Lern- und Bildungschancen sind an die Erziehungsverantwortlichen, an die soziale Herkunft und an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen gebunden, in denen Kinder aufwachsen. Insofern sind Kinder nicht einfach nur verschieden: Sie werden vor allem von ihren Bezugspersonen unterschiedlich gefördert und begrenzt, ermutigt und enttäuscht.
Kinder kommen aus unterschiedlichen kulturellen und sozialen Milieus. Ihre Familien verfügen über unterschiedlich viel Geld und Bildung, sie haben verschiedene Religionen und Traditionen. Die jeweilige soziale Herkunft hat dabei wesentlichen Einfluss auf die Entwicklungs-, Lern- und Bildungschancen der Kinder – auch im Kontext von Bewegung. Sie beeinflusst sowohl die gesundheitliche Entwicklung, als auch die körperliche Konstitution des Kindes. Sie legt Sportvereinseintritte beispielswiese aus Tradition nahe oder aus sozialen oder religiösen Gründen ggf. nicht.
Auch Jungen und Mädchen werden von ihrem erzieherischen Umfeld unterschiedlich gefördert und begrenzt. Es ist kein Zufall, welches Geschlecht sich eher ‚stark und risikobereit‘ zeigt wie Spiderman und welches ‚niedlich hüpft‘ wie Prinzessin Lillifee. Es ist definitiv nicht „die Natur“, wenn sich Jungen Mädchen überlegen fühlen oder denken, sie müssten ihnen überlegen sein. Es sind vielmehr gesellschaftlich geprägte (stereotype) Geschlechterbilder, die Menschen übernehmen bzw. deren „Abdrücke“ Menschen in sich tragen, die bewirken, dass Jungen und Mädchen sich (auch) im Bereich Bewegung Unterschiedliches zutrauen, Unterschiedliches wollen und später auch Unterschiedliches können.
Was kann die Bildungspolitik tun, um solche Unterschiede abzubauen und möglichst allen Kindern ausreichend Bewegungs- und Selbsterfahrungsmöglichkeiten zu bieten?
Bewegung muss als Bestandteil der kindlichen Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse in allen Bildungsinstitutionen berücksichtigt werden. Dabei sollten etwa Kindertageseinrichtungen oder Grundschulen nicht nur einen „Bewegungsraum“ für Kinder bereitstellen, damit sie ihren Bewegungsbedürfnisse spontan nachgehen können, sondern auch gezielte Angebote gestalten und begleiten, mit denen konkrete Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse gefördert werden.
Eine gezielte Förderung von Kindern über Bewegung setzt eine Qualifizierung der Fachkräfte voraus. Das bedeutet nicht, dass diese sich generell „im Sport“ auskennen sollten, sondern dass sie mit den Potenzialen von Bewegung vertraut sein müssen, Bewegungsangebote entsprechend pädagogischer Zielsetzungen aufbereiten können und das kindliche Bewegungsverhalten reflexiv auszulegen wissen.
In der bildungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit darf Bewegung nicht pauschal mit Bildung und Entwicklungsförderung gleichgesetzt werden. Denn sonst wird die Bedeutung von „Bildung“ und „Entwicklungsförderung“ dabei leicht ausgehöhlt und zugleich überdeckt, dass eine bewegungsbezogene Bildungsarbeit vor allem reflexiv angelegt sein muss und nicht als bloße körperlichen Aktivierung von Kindern.
Bildungseinrichtungen und deren Akteure und Akteurinnen sollten die sozial unterschiedlichen Teilhabechancen im Kontext von Körper und Bewegung im Blick haben. Insbesondere heute, wo der Blick auf Kinder oft ein ausgesprochen individueller ist, wo vielfach davon ausgegangen wird, dass Gesundheit in den Bereich der persönlichen Verantwortung fällt und viele glauben, Fragen nach geschlechtsbezogenen Unterschieden längst überwunden zu haben, ist es wichtig, die sozialen (Mit-)Ursachen für das Verschieden-Sein von Kindern im Blick zu behalten. In diesem Sinne sind Kindertagesstätten, Schulen etc. gehalten, Heranwachsenden im Bereich Körper und Bewegung auch bewusst solche Chancen zu geben, die sie in ihrem sozialen Alltag routinemäßig nicht erhalten.