Lange Zeit galten „Leistung“ und „Gleichheit“ als schulpolitisch unvereinbare Ziele. Wenn man es im Schulsystem zu sehr darauf anlege, soziale Bildungsungleichheiten zu vermindern, so die in Deutschland bis heute gängige Argumentation, dann gehe dies unweigerlich zu Lasten der leistungsstarken Schüler:innen. Sie würden dann nicht mehr ausreichend gefördert, mit der Folge, dass sich die Lernleistungen der Schüler:innenschaft insgesamt auf Mittelmaß einpendeln.
Inwieweit diese Annahme gerechtfertigt ist, lässt sich der vorliegenden Grafik entnehmen, die PISA-Daten aus dem Jahr 2022 zu den Mathematik-Kompetenzen von 9.-Klässler:innen nutzt. Sie vergleicht die Schulsysteme der OECD-Länder mit Blick auf das in ihnen durchschnittlich erreichte Leistungsniveau sowie das Ausmaß von Bildungsungleichheiten, das zwischen Schüler:innen unterschiedlicher sozialer Herkunft in den einzelnen Ländern besteht. Dazu ist auf der senkrechten Achse der nationale Mittelwert der Mathe-Kompetenz abgetragen, er steht exemplarisch für das mittlere Leistungsniveau der 15-Jährigen des jeweiligen Landes – die Schüler:innen Kanadas z. B. kommen hier auf einen mittleren Kompetenzwert von 484 Punkten, Griechenland auf einen deutlich niedrigeren Wert von 436 Kompetenzpunkten. Auf der waagerechten Achse ist abgetragen, wie groß jener Anteil der Kompetenzunterschiede zwischen den Schüler:innen eines Landes ist, der einzig und allein auf die soziale Lage des Elternhauses zurückführen ist (nicht also auf andere Erklärungsfaktoren wie etwa Intelligenz oder die für das Lernen aufgewendete Zeit). Um die soziale Lage der einzelnen Schüler:innen zu erfassen, wird der sogenannte Index of Economic, Social and Cultural Status (ESCS) herangezogen, ein Index, der eine Reihe von ungleichheitsrelevanten Merkmalen der Herkunftsfamilie erfasst – die Bildungsdauer der Eltern, ihre berufliche Stellung sowie das Vorhandensein bestimmter bildungsrelevanter Güter im Haushalt – und diese in eine zusammengefasste Kennzahl (Index) übersetzt. Auf Grundlage dieser Kennzahl kann dann (mit dem statistischen Verfahren der Regressionsanalyse) berechnet werden, wie stark der Faktor soziale Herkunft in einem Land auf die Kompetenzentwicklung der Schüler:innen durchschlägt. Griechenland und Kanada kommen hier auf relativ niedrige Werte, die eine vergleichsweise geringe Bildungsungleichheit ausdrücken: Lediglich 11,8 bzw. 10,2 Prozent der beobachteten Leistungsunterschiede zwischen den Schüler:innen des Landes gehen hier auf sozial ungleiche Ausgangslagen zurück. Die Slowakei weist hingegen mit 25,7 Prozent den OECD-weit höchsten Wert aus.
Nimmt man beide Werte zusammen – die durchschnittliche Mathematik-Kompetenz sowie deren Abhängigkeit von der sozialen Herkunft – , dann lassen sich die OECD-Länder in einem Koordinatensystem verorten, das ausgehend vom OECD-Durchschnitt der Leistungs- und Ungleichheitswerte in vier Felder (Quadranten) aufgeteilt ist. Diese stehen für unterschiedliche Konstellationen aus Leistungsniveau und Bildungsungleichheit, die sich in den Schulsystemen der OECD-Länder beobachten lassen. Im Quadranten links oben finden sich Länder, die ein überdurchschnittlich hohes Leistungsniveau und zugleich ein eher geringes Maß an Bildungsungleichheit aufweisen. In diesen Quadranten fallen z. B. Japan, Kanada, Korea und Estland. Im Quadranten rechts oben finden sich Länder, die zwar ein relativ hohes Kompetenzniveau erreichen, zugleich aber stark ausgeprägte Bildungsungleichheiten aufweisen. In diesem Quadranten fallen z. B. Tschechien, Österreich, Deutschland und die Schweiz. Der Quadrant rechts unten versammelt Länder, die sowohl auf der Leistungs- als auch auf der Ungleichheitsdimension vergleichsweise schlecht abschneiden. Anders als bei
Was können wir aus dieser Grafik über den Zusammenhang von Leistung und Ungleichheit lernen? Würde es den vielfach beschworenen Zielkonflikt tatsächlich geben, müssten die Länder mehr oder weniger entlang einer diagonalen Linie liegen, die von unten links nach oben rechts liefe: Länder mit gering ausgeprägter Bildungsungleichheit müssten typischerweise ein niedriges Leistungsniveau aufweisen, Länder mit vergleichsweise stark ausgeprägter Bildungsungleichheit hingegen eher ein hohes. Oder anders formuliert: Mit steigenden mittleren Kompetenzwerten müsste auch das Niveau der zu beobachtenden Ungleichheit zunehmen. In Wahrheit aber sieht die Verteilung der Länder auf die verschiedenen Quadranten anders aus: Nur ein Teil der Länder, die bei PISA überdurchschnittlich hohe Kompetenzwerten erreichen, verzeichnet ausgeprägte soziale Bildungsungleichheiten; ein anderer Teil, und zwar der größere, zeichnet sich hingegen durch vergleichsweise geringe soziale Bildungsungleichheiten aus. Kurzum: Der internationale Vergleich zeigt, dass zwischen Leistungsniveau und (Un-)Gleichheit kein systematischer Zusammenhang und somit auch kein Zielkonflikt besteht. Die Länder im Quadranten links oben stellen unter Beweis, dass eine geringe Ungleichheit keineswegs durch Einbußen an der Leistungsspitze erkauft werden muss. Im Gegenteil: Die Länder mit den im OECD-Vergleich höchsten Kompetenzmittelwerten liegen in diesem Quadranten.