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Kinder kommen zwar in einem ähnlichen Alter in die Schule, jedoch bereits mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten. Während die einen laut und deutlich sprechen und sich gut ausdrücken können, sind andere leise und zurückhaltend, manche gar nur zu ein Ein-Wort-Sätzen fähig. Bewegung, Koordination, Grob- und Feinmotorik, Körperspannung, Konzentrationsfähigkeit und soziales Verhalten – all das sind Bereiche, in denen Lehrer:innen teils deutliche Unterschiede zwischen ihren Grundschüler:innen bemerken. Doch wovon hängt es eigentlich ab, wie gut Kinder in der Schule vorankommen, ihr Leben meistern und dabei vielleicht auch anfängliche Barrieren überwinden können? Ist eher die genetische Ausstattung oder aber die soziale Umwelt entscheidend für einen erfolgreichen Lebensweg? Und macht hier ein „entweder oder“ überhaupt Sinn? Darüber wurde in der Forschung lange gestritten. Um solche Fragen geht es in der Folge „Gene oder Bildung – Was bestimmt den Lebensweg?“ des SWR2 Wissen-Podcast.
Die Beziehung zwischen Genen und Bildung ist komplex, erläutern der Soziologe Martin Diewald und der Psychologe Rainer Riemann vom Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (BiZ). Sie nennen konkrete Zahlen: Die Entwicklung der Intelligenz werde bei Heranwachsenden zu etwa 40 Prozent von ihrer individuellen genetischen Ausstattung beeinflusst; im erwachsenen Alter steige dieser Anteil auf etwa 60 Prozent. Doch was heißt das? Riemann betont, dass der genetische Einfluss nicht als absolute Grenze der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten missverstanden werden dürfe. Denn dass Intelligenz in hohem Maße vererbt werde, bedeute erst einmal nur, dass Menschen sich unterschiedlich stark anstrengen müssten, um zum Ziel zu gelangen. Klar ist für die Forschenden auch: Über den gesamten Lebensweg spielen sowohl Genetik als auch die sozialen Bedingungen eine Rolle in der individuellen Entwicklung – je nach Alter und Situation in unterschiedlicher Gewichtung, teilweise auch in enger Wechselwirkung miteinander.
Betrachte man den Bildungserfolg, so wird der Einfluss der genetischen Ausstattung mit etwa 30 Prozent deutlich niedriger veranschlagt als bei der Intelligenzentwicklung. Grund dafür sei, dass im Bildungsprozess eine Reihe weiterer sozialer Bedingungen bedeutsam werde. So spiele etwa die konkrete Ausgestaltung des Bildungssystems eine Rolle, ebenso wie die Leistungsbeurteilung, die am Ende der Grundschulzeit die Übergangsempfehlung für die weiterführende Schule bestimmt. Hier könnten bei Lehrkräften (wie bei alle Menschen) subjektiv verzerrte Wahrnehmungen zum Tragen kommen, d.h. ähnliche Leistungen von Kindern unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Und auch Eltern hätten einen starken Einfluss auf den Bildungsweg ihrer Kinder, etwa durch die in der Familie zur Verfügung stehenden Ressourcen und die Wahl der weiterführenden Schulform. Je höher der soziale Status der Eltern, so Diewald, desto stärker seien sie darum bemüht, ihr Kind auch bei mäßigen Fähigkeiten so zu fördern, dass ein sozialer Abstieg vermieden wird.
Im Podcast kommt auch der amerikanische Verhaltensgenetiker Eric Turkheimer von der Universität Virginia zu Wort, der als einer der ersten Forschenden anhand von Zwillingsstudien empirisch untersuchte, wie sich die genetische Ausstattung auf die Intelligenzentwicklung auswirkt. In seinen Studien stellte er fest: Die sozialen Verhältnisse, in denen Kinder aufwuchsen, hatte einen deutlichen Einfluss darauf, inwieweit sie ihr genetisches Potenzial ausschöpfen konnten. Bei Kindern aus Mittelschicht-Haushalten waren fast ausschließlich die Gene für ihre Intelligenzentwicklung ausschlaggebend. Offenbar, so die Erklärung, wurden diese Kinder intensiv gefördert und stießen kaum auf soziale Barrieren, die sie an der Entfaltung ihres genetischen Potenzials hinderten. Je ungünstiger jedoch die Lebensbedingungen der untersuchten Kinder, desto geringer wurde der Einfluss der genetischen Ausstattung auf die Intelligenzentwicklung und verschwand bei Kindern, die in Armut aufwuchsen, sogar fast vollständig. Dieses Muster zeige sich fast überall auf der Welt, so Turkheimer, jedoch seien die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten in den USA aufgrund der größeren sozialen Ungleichheiten ausgeprägter als in den europäischen Ländern.
Dass ein Aufwachsen in Armut – und zwar unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern – ein eigenständiger Faktor ist, der die Entwicklung von Kindern beeinträchtigt, bestätigt auch der Geograf Thomas Groos vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR). Mit Daten aus der Schuleingangsuntersuchung der Stadt Mühlheim an der Ruhr konnte er nachweisen, dass Kinder aus armen Familien schon bei der Einschulung deutlich geringere Grundfähigkeiten aufwiesen. Und dieser sozial bedingte Entwicklungsrückstand fiel bei Kindern aus Kita-Gruppen mit einem hohen Anteil an armen Kindern sogar noch stärker aus.
Soziale Faktoren beeinflussen also nachweislich, wie gut jemand sein Potenzial ausschöpfen kann. Aber niemand werde allein durch Bildung zum Genie. Dennoch, so Riemann, sei es eine gesellschaftliche Aufgabe, allen Heranwachsenden die bestmöglichen Bedingungen zur Entfaltung ihres genetischen Potenzials zu schaffen und vor allem auch Bildungswege offenzuhalten, um unterschiedlichen Entwicklungsverläufen gerecht zu werden.