Klassenwiederholungen sind in Deutschland gängige Praxis. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter Lehrkräften werden sie mehrheitlich befürwortet (Asberger u.a., 2021). Dass die Wiederholung eines Schuljahres den betreffenden Schüler:innen dabei hilft, Leistungsmängel langfristig aufzuholen, ist allerdings fraglich. Dabei klingen die Ziele, die damit verbunden werden, erstmal ganz einleuchtend: Erstens sollen die betroffenen Schüler:innen mangelnde Leistungen, die sich etwa in schlechten Zeugnisnoten am Schuljahresende niederschlagen, mit dem nochmaligen Besuch der Jahrgangsstufe aufholen und so auch besser mit steigenden Leistungsanforderungen in den folgenden Jahrgangsstufen zurechtkommen. Zweitens wird erwartet, dass Schulklassen einheitlicher (homogener) sind, wenn nur Schüler:innen oberhalb eines bestimmten Leistungsniveaus in die nächste Jahrgangsstufe versetzt werden. Dahinter steht die Annahme, dass Schüler:innen in homogenen Klassen besser lernen.
Im Schuljahr 2021/2022 wiederholten in Deutschland insgesamt 155.795 Schüler:innen eine Jahrgangsstufe, das waren 2,4 Prozent aller Schüler:innen (Destatis, 2022). Für den Staat bedeutet dies sogar beträchtliche Mehrausgaben (Klemm, 2009). Denn durch das Wiederholen von Jahrgangsstufen verweilen betroffene Schüler:innen länger in der Schule, was daher auch anteilige Kosten für Lehrkräfte, Unterrichtsmaterial und dergleichen nach sich zieht.
Die empirische Bildungsforschung zeigt allerdings, dass es sich beim „Sitzenbleiben“ um eine fragwürdige Maßnahme handelt. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Lernentwicklung von Klassenwiederholer:innen zeigen, dass die erwünschten Effekte langfristig ausbleiben, sich Lernrückstände also durch das Wiederholen einer Klasse nicht im erhoffen Maße vermindern (Goos u.a., 2021). Die aus den Untersuchungen gewonnenen Daten weisen vielmehr darauf hin, dass positive Effekte von Klassenwiederholung für die Betroffenen eher geringer und kurzfristiger Natur sind: Schüler:innen, die eine Jahrgangsstufe wiederholen, zeigen zu Beginn des neuen Schuljahres zwar oft eine positive Leistungsentwicklung, langfristig lassen die guten Leistungen aus dem Wiederholungsjahr allerdings nach und der Leistungsabstand zu den anderen Schüler:innen wird wieder größer (Klapproth u.a., 2016).
Gleichzeitig bringen Klassenwiederholungen für die Betroffenen ernstzunehmende Nachteile. Erstens besteht das nochmalige Durchlaufen einer Jahrgangsstufe oft in erster Linie aus reinem Wiederholen von Lerninhalten aller Schulfächer – nicht nur der Fächer, in denen Lernschwierigkeiten aufgetreten sind. Da die Wiederholer:innen in den anderen Fächern aber bereits ausreichend kompetent sind, werden sie in ihrem Leistungsfortschritt eher gebremst anstatt gefördert – sie wiederholen lediglich den schon gemeisterten Stoff, während ihre vormaligen Mitschüler:innen sich bereits neuen fachlichen Anforderungen stellen. Zweitens gehen für die Betroffenen erhebliche soziale und emotionale Belastungen mit einer Klassenwiederholung einher: Sie werden von ihren Freundinnen und Freunden sowie weiteren sozialen Kontakten in ihrer alten Schulklasse getrennt und müssen sich als Wiederholer:innen in einer neuen Klasse mit neuen Mitschüler:innen behaupten. Oft haben sie mit Gefühlen wie Scham oder Wut zu kämpfen. Das Wiederholen einer Klasse kann sich daher negativ auf das „akademische Selbstkonzept“, das Selbstvertrauen und die Freude am Lernen der Wiederholer:innen auswirken (Kretschmann u.a., 2019; Mathys u.a., 2019).
Während es in einzelnen Situationen von beispielsweise Krankheit, familiären Problemen, oder Umzug in ein anderes Bundesland (und Bildungssystem) durchaus sinnvoll sein kann, ein Schuljahr zu wiederholen, erscheint Klassenwiederholung als reguläre Maßnahme zur Behebung von Leistungsdefiziten im Licht der Forschungsbefunde als wenig zielführend. Eine Reihe von Bildungsforscher: innen in Deutschland spricht sich deshalb vor allem für den Einsatz alternativer Maßnahmen aus (z.B. Ehmke u.a., 2017). Um Leistungsmängel langfristig aufzuholen, sei es vielversprechender, die individuellen Leistungsvoraussetzungen und Lernentwicklungen von betroffenen Schüler:innen festzustellen und gezielt Lernangebote darauf anzupassen. Vereinzelt werden solche Alternativen auch bereits praktiziert. In Hamburg etwa wurde im Schuljahr 2010/11 das Sitzenbleiben abgeschafft. Stattdessen erhalten Schüler:innen, die im Lernen zurückgefallen sind, über verschiedenste Kursangebote die Möglichkeit, Lernstoff nachzuarbeiten und so wieder Anschluss an die Klassengemeinschaft zu finden. „Fördern statt Sitzenbleiben“ heißt das entsprechende Programm.