Viele Menschen glauben, dass Lernen besonders dann gut klappt, wenn der Unterricht zum jeweils individuellen Lernstil von Lernenden passt – bekannt ist dafür zum Beispiel die Einteilung in einen visuellen, auditiven oder kinästhetischen Lernstil. Obwohl dieser Mythos schon lange und mehrfach widerlegt wurde, ist er in der pädagogischen Literatur immer noch weit verbreitet (Wininger u.a., 2019). Da wundert es nicht, dass in Umfragen unter Lehrkräften in verschiedenen Ländern fast 90 Prozent von ihnen angeben, dass Schüler:innen besser lernen, wenn der Unterricht ihrem Lernstil angepasst ist (Newton & Salvi, 2020).
Tatsächlich haben Menschen individuelle Vorlieben dafür, über welche Art der Sinneswahrnehmung (Modalität) sie Informationen bevorzugt aufnehmen. Zum Beispiel, wenn es Mika mehr Freude macht, sich Lerninhalte anzuhören, während Kim sich zum Lernen lieber etwas durchliest. Das bedeutet aber nicht, dass Mika automatisch erfolgreicher lernt, wenn ihm im Unterricht etwas erzählt wird oder dass Kim besser lernt, wenn sie im Unterricht einen Text vorgelegt bekommt. Zwischen diesen Vorlieben und tatsächlichem Lernerfolg besteht ein großer Unterschied. In verschiedenen Studien wurde der Erfolg von Unterricht, der an den Lernstilen von Schüler:innen ausgerichtet wurde, experimentell untersucht. Die Forschenden fanden jedoch keine Effekte dieses Ansatzes (Aslaksen & Lorås, 2018; Rogowsky u.a., 2020). Das heißt, es machte für den Lernfortschritt der Schüler:innen keinen Unterschied, ob sich der Unterricht an den bevorzugten Lernstilen ausrichtete oder nicht.
Eine Erklärung dafür ist, dass Lernprozesse in der Regel mehrere Wahrnehmungskanäle gleichzeitig beanspruchen. Wenn zum Beispiel Lehrkräfte einen Vortrag halten, lernen Schüler:innen gleichzeitig auditiv und visuell. Sie hören den Lerninhalt und sehen gleichzeitig das Tafelbild, eine Präsentation oder die Mimik und Gestik der Lehrkraft. Das heißt, unabhängig davon, auf welche Art und Weise man es mag zu lernen, ist Lernen bei allen Menschen immer ein komplexer Vorgang, bei dem mehrere Sinne zum Einsatz kommen (multimodal). Daher ist multimodal ausgerichteter Unterricht, in dem Lerninhalte etwa zusätzlich mit Videos veranschaulicht werden, besonders sinnvoll für das Lernen. Außerdem hängt es auch von der Art des jeweiligen Lerninhalts ab, auf welche Weise er sich gut vermitteln lässt. Im Fremdsprachunterricht ist das Hören gesprochener Sprache unverzichtbar (auditiv), einen Handstand im Sportunterricht lernt man erst, wenn man ihn körperlich praktisch durchführt (kinästhetisch) – und das ganz unabhängig davon, ob man eine Vorliebe für auditives visuelles oder kinästhetisches Lernen hat.
Dass es sich bei den Lernstilen um einen Mythos handelt, bedeutet allerdings nicht, dass Unterricht für alle Schüler:innen gleich gestaltet sein sollte. Individualisierung gehört durchaus zu einem guten Unterricht (siehe Beitrag Banneck: Interner Link: Wie lässt sich das Lernen im Klassenverband individuell gestalten?). Für den Lernerfolg ist dann jedoch weniger die Vorliebe der Schüler:innen für eine Lernmodalität von Bedeutung als andere Faktoren wie etwa ihr individuelles Vorwissen zu den Unterrichtsthemen oder ihre persönliche Motivation für ein Schulfach.