Die Bedeutung der Grundschule für das "Leistungsprinzip" im selektiven deutschen Schulsystem
In Deutschland werden Schüler:innen in fast allen Bundesländern nach dem 4. Schuljahr auf unterschiedlich aussichtsreiche Bildungsgänge der weiterführenden Schulen verteilt (in Berlin und Brandenburg nach dem 6. Schuljahr). Das ist weltweit nahezu einzigartig – nur in Österreich und in einigen Kantonen der Schweiz wird genauso früh aufgeteilt. In den meisten Bildungssystemen reicht die gemeinsame Schulzeit bis zum 8. Schuljahr, oft auch bis zum Ende der Pflichtschulzeit. Das heißt, dass in diesen Bildungssystemen die Schüler:innenschaft erst viel später oder gar nicht auf unterschiedliche Bildungsgänge verteilt wird. Die Schulformen der Sekundarstufe in Deutschland – von der Förderschule über Hauptschule, Realschule, Gesamtschule und Gymnasium (siehe auch
Was unterschiedliche "Lern und Entwicklungsumwelten" für die Bildungschancen bedeuten
Wie in der Bildungsforschung empirisch nachgewiesen wurde, haben die unterschiedlichen Bildungsgänge der Sekundarstufe einen eigenständigen Einfluss auf den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler. Das heißt: unabhängig von deren individuell mitgebrachten Lernvoraussetzungen stellt jeder Bildungsgang derart qualitativ unterschiedliche "Lern- und Entwicklungsumwelten" für Schülerinnen und Schüler bereit, dass allein diese Kontextbedingungen die Möglichkeiten der individuellen Leistungsentwicklung fördern oder hemmen. So beeinflussen etwa einerseits die je nach Schulart unterschiedlich anspruchsvollen Lehrpläne, die Art und Weise, wie unterrichtet wird (Unterrichtskultur), aber andererseits auch die je Schulform unterschiedlich zusammengesetzte Schülerschaft, wie gut oder schlecht Schülerinnen und Schüler ihr Leistungsvermögen unter diesen Umständen entwickeln können (vgl. Baumert et al. 2006).
Gerechtfertigt wird diese ungleiche Verteilung von Bildungs- und damit auch Einkommens- und Aufstiegschancen, indem man den einzelnen Schülerinnen und Schülern im Laufe ihrer Grundschulzeit unterschiedliche "Leistungen" bzw. "Leistungsvermögen“ zuschreibt. Während etwa die 9-jährige Lisa aufgrund ihrer gezeigten Leistungen direkt für das Gymnasium empfohlen wird, wird dem gleichaltrigen Karl gesagt, dass seine "Leistungsfähigkeit" nur für die Hauptschule ausreiche.
In einer modernen Gesellschaft kann es tatsächlich auch keine andere Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern im Bildungssystem geben. Man kann sich heute bei der Verteilung von Privilegien nicht mehr (wie in vormodernen, traditionalen Gesellschaften) auf die gesellschaftliche Stellung der Eltern oder Merkmale wie etwa Geschlechtszugehörigkeit beziehen, sondern muss Privilegien, wie z.B. bessere berufliche und gesellschaftliche Positionen, in persönlichem Verdienst, sprich: "Leistung", begründen (Becker und Hajdar 2017) (siehe Infobox).
Allerdings ist inzwischen wissenschaftlich gut belegt und auch in Öffentlichkeit und Forschung weithin bekannt, dass die reale Verteilung der Schüler:innen nach der Grundschule auf die Bildungsgänge der Sekundarstufe in Deutschland keineswegs ausschließlich nach "Leistung" erfolgt, sondern in mehrfacher und gravierender Weise von ihrer sozialen Herkunft abhängt (vgl. van Ackeren & Klemm 2019).
Dies ändert aber nichts daran, dass die gesellschaftliche Rechtfertigung für diese Verteilung dennoch nur eine meritokratische sein kann
Um die Verteilung der Schüler:innen auf ungleiche Bildungsgänge im Übergang zur Sekundarstufe legitimieren zu können, ist nun aber die Behauptung einer egalitären Primarstufe unabdingbar: Die Grundschule muss systematisch allen Kindern die gleichen Chancen geboten haben, damit Übergangsentscheidungen als Auslese an deren Ende als gerechtfertigt gelten können.
Der Gründungsmythos der Grundschule als "Schule für alle!"
Die Institution der Grundschule wurde in Deutschland vor über 100 Jahren als "Schule für alle Kinder" politisch hart erkämpft: Vor allem die SPD setzte in den Verhandlungen zur Weimarer Verfassung eine für alle Kinder gemeinsame Grundschule durch, "auf der sich auch das mittlere und höhere Schulwesen aufbaut" (Reichsgrundschulgesetz 1920, § 1). Damit waren zwar die kostenpflichtigen "Vorschulen", die in der Regel bürgerliche Kinder direkt auf das Gymnasium führten, abgeschafft. Mit der Etablierung der gemeinsamen Grundschule als Voraussetzung eines im Anschluss daran gegliederten Schulsystems war allerdings von vorneherein zugleich der Auftrag der Auslese von "leistungsstärkeren" und "leistungsschwächeren" Schülerinnen und Schülern für die weiterführenden Schulformen verbunden.
Dabei war die Dauer der gemeinsamen Grundschule in Deutschland immer wieder umstritten. Die vierjährige Dauer, die im Reichsgrundschulgesetz 1920 festgelegt wurde, war ein Kompromiss, den die SPD mit der Zentrumspartei eingehen musste. Nach 1945 wurde in den SPD-geführten westdeutschen Bundesländern zunächst eine 6-oder sogar 8-jährige Grundschule eingeführt, die aber nach Wahlverlusten Anfang der 1950er Jahre auf 4 Jahre reduziert wurde (außer in Berlin). Die 8 und dann 10jährige gemeinsame Schule der DDR (POS) wurde in den schulpolitischen Debatten des Westens als "sozialistische Einheitsschule" verunglimpft und nach 1990 in den neuen ostdeutschen Bundesländern in das dreigliedrige Schulsystem mit vierjähriger Grundschule (in Berlin und Brandenburg 6 Jahre) nach westdeutschem Vorbild überführt. Ein Versuch von CDU und GRÜNEN in Hamburg, die Grundschule auf 6 Jahre zu verlängern, scheiterte 2010 in einem Volksentscheid, den ein Volksbegehren der Hamburger Bürgerschaft durchgesetzt hatte (vgl. Nicolai und Helbig 2019).
Ob sie will oder nicht, in der Grundschule wird weitgehend über Schullaufbahnen von Kindern entschieden. Denn unterschiedliche Noten und Kompetenzen am Ende der Grundschulzeit können dann als unterschiedliche schulische "Leistungen" jeder Schülerin und jedes Schülers verstanden werden, die auch deren mehr oder weniger aussichtsreiche weitere Bildungschancen rechtfertigen. Die meritokratische Legitimation von Ungleichheit verlangt zwingend die Idee einer Leistung, die dem Individuum als "Verdienst" zugerechnet werden kann (Nerowski 2018). Daher erscheint dies bei Kindern, die noch vor der Einschulung stehen, nicht sinnvoll. Denn im Zugang zur Grundschule gibt es noch keine den Kindern zuschreibbare "Leistungen". Sonst könnte man sechsjährige Kinder gleich bei der Einschulung auf unterschiedliche aussichtsreiche Bildungsgänge verteilen – etwa in Abhängigkeit von ihren mitgebrachten Lernvoraussetzungen. Der Grundschule kommt also die für das selektive deutsche Sekundarschulwesen unverzichtbare Aufgabe zu, schulische Leistungsunterschiede zwischen Kindern zu erzeugen und festzustellen, um die darauf basierenden Übergangsentscheidungen zum gegliederten Sekundarschulwesen zu legitimieren.
Ungleiche Grundschulen
Diese Grundkonstruktion im deutschen Schulsystem gerät nun massiv ins Wanken, sobald das Gleichheitspostulat für die Grundschule in Frage steht. Empirisch scheint klar, dass von gleichen Bedingungen für alle Grundschulen und alle Grundschüler:innen in Deutschland kaum die Rede sein kann (Heinzel und Parade 2020). In Deutschland gibt es für die staatlichen Grundschulen bestimmte Einzugsgebiete, die festlegen, welche Grundschule – in der Regel die nächstgelegene – das einzuschulende Kind besuchen wird. Dieses sogenannte "Sprengelprinzip" soll zwar verhindern, dass Eltern, die gut informiert sind und die es sich leisten können, sich die in ihren Augen beste Grundschule aussuchen und dadurch Ungleichheit entsteht. Aber die soziale Segregation deutscher (Groß-)Städte, das heißt die Entmischung der Stadtbezirke und damit einhergehende Konzentration sozial besser oder schlechter gestellter Gruppen in verschiedenen Stadtgebieten, wirkt sich über die Einzugsgebiete von Grundschulen unmittelbar auf die soziale Zusammensetzung der Schüler:innenschaften aus; sozial entmischte Schulbezirke spiegeln sich in sozial entmischten Schüler:innenschaften von Grundschulen wider. Das heißt, dass manche Grundschulen überwiegend mit Kindern arbeiten, die aus wohl situierten Familien mit reichhaltigen Ressourcen kommen, während andere Schulen mit Kindern arbeiten, die überwiegend in materieller Armut und verschiedenen sozialen Risikolagen leben und von denen viele bei Schulbeginn noch nicht gut Deutsch sprechen können.
Die erhebliche soziale Selektivität im Zugang zu Grundschulen schlägt sich in sehr unterschiedlichen Übergangsquoten von den Grundschulen sozial unterschiedlicher Einzugsgebiete auf das Gymnasium nieder. Vor dem Hintergrund insgesamt in den letzten Jahrzehnten gestiegener Bildungserwartungen von Eltern ist in manchen Grundschulen in eher bürgerlichen Wohnvierteln der Übergang zum Gymnasium der 'Normalfall' geworden, während in vielen Grundschulen in sozial benachteiligten Wohnvierteln in der Stadt oder in eher ländlichen Regionen immer noch nur eine Minderheit der Kinder auf das Gymnasium wechselt.
Diese Ungleichheit zwischen Grundschulen, die durch sozial entmischte Einzugsgebiete gegeben ist, verstärkt sich aktuell noch: Seit einigen Jahren behandeln manche Eltern, insbesondere die bildungsambitionierten, die Einschulung in die Grundschule nicht mehr als Selbstverständlichkeit, sondern verstehen diese schon als individuelle Wahl oder Entscheidung für eine nach ihren Maßstäben bessere (oder gegen eine schlechtere) Grundschule (Krüger et al. 2020). Eine solche Wahl wird z.B. in Form von sogenannten "Gastschulanträgen" und tatsächlichen oder über einen Zweitwohnsitz vorgetäuschten Umzügen realisiert, wenn die eigentliche Einzugsgebietsschule vermieden werden soll; zusätzliche Möglichkeiten für eine elterliche Schulwahl eröffnen darüber hinaus die (in der Regel kostenpflichtigen) Privatschulen, die insbesondere im Primarbereich einen wahren Boom erleben. Privatschulen sind allerdings nicht die Hauptursache für schulische Segregation in der Primarstufe, diese ist in erster Linie eine Folge der sozialen Segregation der Wohnviertel und Einzugsgebiete (Stirner et al. 2019). Insgesamt steigern diese Schulwahlaktivitäten von Eltern einzuschulender Kinder bei einer Schulform, die eigentlich bloß administrativ zugewiesen wird, auch den Wettbewerb zwischen Grundschulen. Diese bemühen sich zunehmend um ein besonderes Profil (als "musikbetont", "bewegungsorientiert", "zweisprachig" …) und entsprechende Formen der Selbstpräsentation. Dieser Wettbewerb wird, so ist zu befürchten, die Ungleichheit zwischen Grundschulen eher noch verstärken.
Warum es schwer fällt über die Ungleichheit der Grundschulen zu sprechen
Diese umrissenen offenkundigen und sich aktuell verstärkenden Ungleichheiten zwischen Grundschulen sind jedoch kaum ein Thema – weder in der Bildungspolitik, noch in der Bildungsforschung oder in der Grundschulpädagogik. Man kann hier fast von einem Tabu sprechen (Breidenstein 2020). Woran liegt das? Dieser Frage widmet sich der letzte Abschnitt.
Das Problem der sozialen Ungleichheit im deutschen Bildungssystem wird in Forschung und Politik systematisch im Übergang zum Sekundarschulwesen verortet, wo der Anspruch der Leistungsgerechtigkeit durch den empirisch für Deutschland mehrfach und über lange Zeit nachgewiesenen großen Einfluss der sozialen Herkunft auf die Übergangsentscheidungen konterkariert wird. Unterschiede zwischen Grundschulen jedoch, die Ungleichheiten im Primarbereich selbst erzeugen oder zumindest reproduzieren, werden kaum zum Thema. Stattdessen findet sich nahezu durchgängig ein anderes Muster, von "Ungleichheit" in Bezug auf "die Grundschule“ zu sprechen. Etwas zugespitzt: Ungleich sind die Kinder, die in die Schule kommen (in ihren Lernvoraussetzungen, ihrer Motivation, ihrem Sprachvermögen etc.), während "die Grundschule" sich redlich bemüht (mit mehr oder weniger Erfolg), mit dieser Ungleichheit zurecht zu kommen oder sie nach Möglichkeit abzubauen.
Aktuell ist die "Heterogenität" der (Grundschul-)Kinder das große Thema: die Zuwanderung von Kindern, die zunächst kein Deutsch sprechen; die Umsetzung einer inklusiven Schule, die auf Sonderschulzuweisungen verzichtet; zunehmende Kinderarmut in Deutschland – all diese Entwicklungen werden als pädagogische und didaktische Herausforderungen der Grundschule verstanden und diskutiert. Dies ist dort, wo sich Grundschulpädagogik und -forschung auf pädagogisches und didaktisches Handeln richten, auch sehr plausibel: Hier steht tatsächlich die Heterogenität der Lerngruppe als didaktische Herausforderung für den Unterricht im Vordergrund. Wenn aber Ungleichheit lediglich als ein Problem verstanden wird, das von außen an die Institution Grundschule herangetragen wird, gerät jene Ungleichheit aus dem Blick, die im und durch den Primarbereich selbst erzeugt bzw. reproduziert wird: die ungleichen Lernbedingungen und damit Lernchancen, die ungleiche Grundschulen bieten. Letztlich trägt also die (grund-) schulpädagogische Diskussion um "Heterogenität" – unfreiwillig – dazu bei, dass jene Ungleichheit, die systematisch im Primarbereich selbst erzeugt wird, gar nicht erst zum Thema wird.
Derzeit lässt sich mit der vorhandenen Forschungslage empirisch nicht eindeutig sagen, ob Ungleichheiten, die aus unterschiedlichen familialen und sozialen Kontexten in die Grundschule "mitgebracht" werden, im Primarbereich lediglich stabilisiert und fortgeschrieben oder insgesamt verstärkt werden. Möglicherweise gelingt sogar in gewissem Umfang der Ausgleich von ungleichen Eingangsvoraussetzungen im Primarbereich. Es fehlt an Forschung, die die Effekte sozialer Ungleichheit am Beginn der Grundschule mit denen am Ende der Grundschulzeit vergleichen würde. Dennoch ist festzuhalten, dass es aufgrund der vorliegenden Befunde zu Ungleichheiten zwischen Grundschulen äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass es der Primarstufe gelingt, tatsächlich gleiche Chancen für alle Kinder im Bildungssystem zu schaffen. Die schulische Zuschreibung und Zertifizierung von "Leistungen" gegenüber individuellen Kindern, die die Grundschule für das selektive deutsche Schulsystem übernimmt, kann also kaum (im meritokratischen Sinn) "gerecht" sein. Dieser Zusammenhang ist von dem Tabu betroffen. Denn mit der Fiktion der Chancengleichheit im Primarbereich steht und fällt die Rechtfertigung der Selektion im Übergang zum Sekundarbereich des deutschen Bildungssystems.
Wenn man die Tatsache anerkennt, dass die Grundschule als Institution eine Chancengleichheit für alle Kinder nicht gewährleisten kann, steht die gesellschaftliche Legitimation für schulische Selektion insgesamt in Frage. Insbesondere die in Deutschland sehr frühe und folgenreiche Aufteilung von Schüler:innen auf unterschiedlich aussichtsreiche Schulformen wäre (neu) zu debattieren. Die Debatte um die Schulstruktur, die in Deutschland historisch und parteipolitisch sehr aufgeladen ist, kann hier nicht in der nötigen Differenziertheit geführt werden. Aber die in diesem Beitrag entwickelte Analyse macht deutlich, dass die frühe Selektion von Kindern in unterschiedliche Bildungsgänge mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit schwer in Einklang zu bringen ist. Unabhängig von diesen Überlegungen sollte die Thematisierung, Erforschung und Anerkennung von Ungleichheit zwischen Grundschulen dazu führen, dass benachteiligte Grundschulen (sehr viel) stärker unterstützt werden: Diese müssten mit höheren Budgets, kleineren Klassen und den besten Lehrkräften ausgestattet werden.