Die Bildungsungleichheit in Deutschland hat eine sehr lange Geschichte und im Laufe der Zeit mehrere Gestaltwandel erlebt.
In den 1950er Jahren mussten durch ihre Leistungen auffallende Talente aus bildungsfernen Elternhäusern von ihren aufmerksamen Volksschullehrer:innen noch gezielt auf die "höhere Schule" geleitet werden – kluge "katholische Arbeitertöchter vom Lande" etwa. Das selten erwähnte gedankliche Gegenkonstrukt, der eher leistungsschwächere "evangelische Arztsohn aus der Stadt" und seinesgleichen verließen schon immer wie selbstverständlich die Volksschule nach der vierten Klasse und gingen auf das Gymnasium. Ab etwa Mitte der 1960er Jahre wurden die Institutionen höherer Bildung sehr stark ausgebaut (und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn es wurden sehr viele neue Gymnasien gebaut!). Seitdem konnten auch die bisher Benachteiligten leichter ihren Weg ins Gymnasium finden. Sie brauchten niemanden zu verdrängen: Sie kamen einfach hinzu!
Diese ursprünglich von aufmerksamen Volksschullehrer:innen betriebene individuelle Förderung von auffallenden Talenten ist heute nur selten nötig. Die allermeisten Eltern wissen um den Vorteil eines höheren Bildungsabschlusses und wollen, dass ihre Kinder ihn erreichen. Dies gilt vor allem auch in Milieus von Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Eltern möchten, dass ihre Kinder "es einmal besser haben", deshalb sind sie migriert. Oder sie haben durch Migration einen sozialen Abstieg erlebt, wollen diesen aber durch eine erfolgreiche Bildungslaufbahn ihrer Kinder kompensiert sehen. Trotz einer starken Bildungsexpansion – immer mehr Menschen verbringen immer mehr Lebenszeit in immer höherwertigen Bildungswegen – sind die Kinder aus "bildungsfernen" Milieus bei den höheren Bildungswegen und -abschlüssen weiterhin deutlich unterrepräsentiert, wohingegen – spiegelbildlich – diejenigen aus "bildungsnahen" Milieus überrepräsentiert sind.
Um die Ursachen für die Benachteiligung von Kindern aus sozial ausgegrenzten, sogenannten "bildungsfernen" Milieus zu erklären, unterscheidet man in der Forschung unter Rückgriff auf den Soziologen Raymond Boudon üblicherweise zwischen primären Effekten (soziokulturelle Voraussetzungen und mitgebrachte Fähigkeiten der Schüler:innen) und sekundären Effekten (Bildungsentscheidungen von Eltern und Schüler:innen) (siehe Kai Maaz
Im Folgenden geht es um diesen speziellen Effekt: um die Lehrer:innen, die im Schulalltag, in der Notenkonferenz, am heimischen Schreibtisch beim Korrigieren von Klausuren usw. die abstrakte Auslese-Funktion der Schule umsetzen, sie durch ihr Entscheiden und Handeln konkrete soziale Wirklichkeit werden lassen und dabei bestimmte Gruppen von Schüler:innen benachteiligen. In der englischsprachigen Forschungsliteratur verwendet man hierfür die Begriffe doing difference – doing inequality, was so viel heißt wie: Verschiedenheit erzeugen – Ungleichheit schaffen.
QuellentextDer Befund: gleiche Leistung - unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe
In einer Meta-Studie (aus Daten der TIMSS-, Element- und TOSCA-Studie) hatten die Bildungsforscher Kai Maaz, Franz Baeriswyl und Ulrich Trautwein bereits vor zehn Jahren auf den systematischen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft von Schüler:innen und einer benachteiligenden Leistungsbeurteilung bei gleichen Schulleistungen hingewiesen:
"Die Befunde der vorliegenden Expertise konnten zeigen, dass Leistungsbewertung in Form von Schulnoten nicht ausschließlich leistungsrelevanten Kriterien folgt. Vielmehr zeigen sich auch Einflüsse leistungsfremder Merkmale. (...) Demzufolge erhielten Kinder aus sozial weniger begünstigten Familien bei gleichen Leistungen in einer standardisierten Leistungsmessung schlechtere Noten als Kinder aus sozial begünstigten Familien. (...) Des Weiteren machen die Befunde der Expertise darauf aufmerksam, dass es differenzierterer Analysen bedarf, um an die Prozesse und Mechanismen zu gelangen, warum Lehrkräfte für Kinder bei gleichen Leistungen unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe ansetzen."
aus: Maaz, K., Baeriswyl, F. & Trautwein, U. (2013): Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule. In D. Deißner (Hrsg.), Chancen bilden. Wege zu einer gerechteren Bildung – ein internationaler Erfahrungsaustausch (S. 185 – 305). Wiesbaden Springer.
Angesichts dieser Sachlage ergibt sich eine Reihe von Fragen: Warum und wie entsteht im Unterrichtsalltag, beim Blick eines Lehrers oder einer Lehrerin auf Schüler:innen, beim Elterngespräch, in Zeugniskonferenzen usw. Bildungsbenachteiligung – entgegen dem erklärten Willen und dem beruflichen Selbstverständnis der Lehrkräfte? Wenn es "auf den Lehrer ankommt", wie es in der Hattie-Studie heißt (John Hattie: Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler 2013): Sind Lehrkräfte dann auch in Bezug auf die Stabilität von Chancenungerechtigkeit ein wichtiger oder doch eher unwichtiger Faktor? Und wenn Lehrkräfte an diesem Prozess ungewollt und unbewusst mitwirken: Könnte durch ein verändertes Denken und Handeln von Lehrkräften dieser tertiäre Effekt bei der Entstehung sozialer Ungerechtigkeiten abgebaut werden? Schließlich: Wie ließe sich dies praktisch vorbereiten, etwa in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, und auf diese Weise im Unterrichtsalltag verwirklichen?
Soziale Auslese durch das Lehrer:innenurteil – Erklärungsansätze
Spätestens seit dem berühmt und zum Sprichwort gewordenen Buchtitel "Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung" des Erziehungswissenschaftlers Karlheinz Ingenkamp aus dem Jahre 1971 ist durch empirische Forschung vielfach gezeigt worden, dass die Benotungspraxis von Lehrkräften recht fehleranfällig ist (siehe Infobox).
InfoTypische Fehler, die Lehrkräften beim Beurteilen unterlaufen können
Halo-Effekt (Hof-Effekt): allgemeiner Eindruck zur Person o. Ä. wirkt sich auf das spezielle Urteil/die Note aus
Logischer Fehler: aus hoher/niedriger Leistung in Fach A wird auf hohe/niedrige Leistung in Fach B geschlossen
Milde- oder Strenge-Fehler: bei einem guten Schüler werden Fehler milde beurteilt, bei einem schwächeren Schüler bleibt Gutes unberücksichtigt
Tendenz zur Beharrlichkeit: neue Entwicklungen (positiv/negativ) werden kaum wahrgenommen
Reihenfolgeneffekt: Abfolge von bisher erhaltenen Prüfungsleistungen (viele gute/schlechte Noten) prägt die weitere Notengebung
Rhythmische Schwankungen: Tagesrhythmus, Wechsel von Strenge und Milde
Kontrasteffekt: Eigenart des Prüfers im Verhältnis zu Eigenart des Prüflings
Tendenz zur Mitte oder zu Extremen: Neigung zu mittleren Noten oder aber zu eher schlechten/guten Noten
Wissen-um-die-Folgen-Fehler: Folgen für den Schüler werden bei der Bildung der Note mitbedacht
Sozial-Korruption: tendenziell günstige Notenvergabe, um Wohlverhalten und Duldung der Schüler zu erreichen
Verzerrte Wahrnehmung: Fehler aufgrund von Sympathien, Vorurteilen, einseitig verarbeiteten Erfahrungen etc.
Quelle: E.Terhart, Vorlesungsfolie, 2020
Im Folgenden geht es jedoch nicht um diese Fehleranfälligkeit ganz allgemein, sondern im engeren Sinne um diejenigen Fehler, die in der Benotungspraxis zu Bildungsungerechtigkeiten führen. Welche Erkenntnisse und Erklärungen hat die empirische Bildungsforschung bislang zur Rolle der Lehrkräfte bzw. zur Rolle der Benotungspraxis beim ständigen Wiederherstellen sozialer (und anderer) Ungleichheit vorgelegt?
Erklärung 1 – Rekrutierung: Die soziale Herkunft und Situation der Lehrkräfte
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein kamen Lehrkräfte an höheren Schulen meist selbst aus den höheren Bildungsschichten. Die damaligen Gymnasiallehr:innen besaßen ein ausgeprägtes konservatives Gesellschafts- und Menschenbild (vererbte Begabungen, stabile Unterschiede zwischen gesellschaftlichem "Oben" und "Unten" etc.). Dieses trug dazu bei, Schüler:innen aus bildungsfernen Schichten den Zugang zu und Erfolg im Gymnasium zu erschweren bzw. sie offen zu diskriminieren (im Sinne von: "Ihr Sohn gehört einfach nicht auf diese Anstalt!"). Das Gymnasium wurde in den frühen 1950er Jahren von ca. 15 Prozent der 12-Jährigen besucht; ca. 75 Prozent gingen zur achtjährigen "Volksschule" (nach 1964 aufgeteilt in: vier Jahre Grundschule und fünf oder sechs Jahre Hauptschule). Der Volksschullehrerberuf galt als Aufsteigerberuf (für Männer) aus unteren Schichten.
Diese "eindeutigen" Verhältnisse sind heute passé, da die gesellschaftliche Schichten- und Milieustruktur mittlerweile unübersichtlicher geworden ist. Die einfachen Schichtenmodelle aus früheren Zeiten (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht) haben sich gesellschaftlich zu einer zunehmenden Vielfalt von Milieus und flexibleren Lebensstilen entwickelt. Insofern ist nicht nur die Schüler:innenschaft, sondern inzwischen auch die Rekrutierung der Lehrkräfte längst vielfältiger geworden. Konkret: Der Anteil von Lehramtsstudierenden und Lehrkräften etwa mit Migrationshintergrund ist zwar immer noch niedrig, aber er steigt: Während der Anteil von Schüler:innen mit Migrationshintergrund an allen Schüler:innen allgemeinbildender Schulformen derzeit ca. 40 Prozent beträgt, haben lediglich 6 Prozent aller Lehrkräfte einen entsprechenden Hintergrund, immerhin jedoch circa 10 bis 12 Prozent aller derzeitigen Lehramtsstudierenden.
Dieser Blick auf die soziale Herkunft von Lehrkräften als Erklärung für sozial-selektive Beurteilungen sitzt dabei womöglich einem gedanklichen schicht- oder milieubezogenen Kurzschluss auf: Aus der sozialen Herkunft der Lehramtsstudierenden wird geschlossen, dass sie stabile diskriminierende Haltungen und Überzeugungen gegenüber Schüler:innen aus bildungsfernen Milieus an den Tag legen. Dabei ist es umgekehrt doch viel eher naheliegend, von jahrelang ausgebildeten Pädagogen und Pädagoginnen ein entsprechendes Problembewusstsein und die angemessene Sensibilität beim Umgang mit der Milieuherkunft und -zugehörigkeit ihrer Schüler:innen zu erwarten.
Erklärung 2 – Platzierung: Welche Lehrkräfte arbeiten an welchen Schulen?
Schlechter ausgebildete und qualifizierte Lehrkräfte finden sich eher an sozialen Brennpunktschulen bzw. in weniger finanzkräftigen Kommunen (in der Forschung teacher sorting genannt). Diese Ungleichverteilung besteht in den USA mit einem wenig zentralistischen, sondern kommunal organisierten Schulsystem schon lange. Dort hängt die Finanzierung von Schulen von der Finanzkraft der jeweiligen Kommunen ab. Dies führt unter anderem dazu, dass die Gehälter der Lehrkräfte und damit die Attraktivität der Schulen als Arbeitsorte von Kommune zu Kommune unterschiedlich sind. Das ist in den europäischen Staaten und Deutschland anders. Hier sind Ausbildung und Bezahlung von Lehrkräften eher standardisiert. Richtig aber ist, dass derzeit bei einem Mangel an ausgebildeten Lehrkräften in bestimmten Schulformen, Fächern und Regionen, Seiteneinsteiger:innen angeworben werden (müssen). Diese finden sich dann nachgewiesenermaßen eher an Schulen in schwierigem sozialem Umfeld wieder. Insofern gibt es hierzulande doch eine milde Form von teacher sorting. Und dabei weiß man aus der Forschung, dass insbesondere Schüler:innen aus bildungsfernen Milieus gut ausgebildete und sehr fähige Lehrkräfte benötigen, um ihr Potenzial in der Schule entfalten zu können.
Erklärung 3 – Interaktion: Benachteiligende Entscheidungen und Wahrnehmungen
Eine Schüler:innenleistung ist nicht eine "im Kopf" einer Schülerin oder eines Schülers feststehende, unsichtbare und deshalb von außen einzukreisende Eigenschaft, die es zu identifizieren und mit einer möglichst präzisen Note zu belegen gilt. Leistungsurteile über Schüler:innen ("Noten") sind das Ergebnis von Zuschreibungsprozessen, die Lehrer:innen anhand von Handlungen, Verhaltensweisen, Arbeitsergebnissen usw. der Schüler:innen vornehmen. Noten werden nicht einfach irgendwo abgelesen, sie werden stets sozial erzeugt (doing difference). Zu den dahinterliegenden Prozessen und Folgen ist national wie international unendlich viel geforscht worden. Vorurteilsstrukturen, selektive Wahrnehmung, Vermutungen und Gewissheiten der Lehrkräfte über stabile und veränderbare Eigenschaften von Schüler:innen und deren Ursachen, Beurteilungsgewohnheiten im Kollegium usw. – dies alles spielt auf der Seite der Lehrkräfte eine Rolle.
In diesem Kontext sollte man die Schüler:innen übrigens nicht nur als passive, von ihren Lehrer:innen "gelabelte", mit einem bestimmten Etikett versehene, Objekte sehen. Sie sind natürlich Teil des Prozesses, sie beobachten und beeinflussen ihre Lehrkräfte, gehen auf Zuschreibungen ein oder wehren sie ab, verhalten sich lernökonomisch und notenstrategisch (impression management, Mogeln, Schülertaktiken etc.).
Entscheidungen: Auf welche Schulform nach der Grundschule?
Dieser Übergang ist wohl eine der besterforschten Schnittstellen im deutschen Schulsystem – er ist international ja auch beinahe einzigartig: Die Grundschüler:innen werden sehr früh auf die verschiedenen Schulformen verteilt und ihnen damit mehr oder weniger anspruchsvolle schulische Bildungsmöglichkeiten zugeteilt bzw. vorenthalten. Diese Aufteilung wiederum führt zu unterschiedlichen Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen. Und weil dieser Übergang so bedeutsam ist für die einzelnen Schüler:innen und ihren Lebenslauf, ja sogar in der Generationenfolge in den Familien und schließlich für die Gesellschaft insgesamt, ist er selbst bzw. sind seine Regelung bildungspolitisch und pädagogisch stets sehr umkämpft.
Untersuchungen über die Rolle der Lehrer:innenempfehlungen bei der Entscheidung über die weiterführende Schule zeigen, dass man es hier mit einer Art Lotteriespiel zu tun hat: Die Schüler:innen im mittleren Leistungsbereich bekommen jede Übergangsempfehlung; sehr starke Schüler:innen bekommen sehr wahrscheinlich eine Gymnasialschulempfehlung, sehr schwache eine Hauptschulempfehlung. In dieser Lotterie gewinnen aber immer dieselben: Ein Kind aus einem bildungsnahen Milieu hat eine vierfach so hohe Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, wie ein Kind aus einem bildungsfernen Milieu – bei (durch Tests gemessenen) gleichen kognitiven Voraussetzungen! Die Chance steigt noch auf das Viereinhalbfache, wenn man auf die tatsächlich vollzogenen Übergänge zum Gymnasium schaut (siehe auch Beitrag von Wulf Hopf und Benjamin Edelstein:
Es liegt also eine klare soziale Verzerrung vor, die Kinder aus bildungsfernen Schichten benachteiligt. Nicht die tatsächlichen kognitiven und schulkonformen psychosozialen Fähigkeiten (Disziplin, Anstrengungsbereitschaft usw.) sind entscheidend, sondern vielmehr, wie Lehrkräfte diese Fähigkeiten und Veranlagungen bei ihren Schüler:innen sowie vor allem auch die mögliche schulische Unterstützung durch das Elternhaus einschätzen und beurteilen (siehe Infobox).
QuellentextWarum Grundschullehrkräfte sozial unterschiedliche Empfehlungen für den weiteren Bildungsweg geben
"Es gibt zahlreiche empirische Belege dafür, dass Kinder höherer sozialer Herkunft, bei gleichen schulischen Leistungen und Schulnoten wie Kinder niedrigerer sozialer Herkunft, einfacher eine Lehrerempfehlung für den akademischen Bildungszweig erhalten und häufiger an der nächsthöheren Bildungsinstitution aufgenommen werden. Für diese Bevorzugung von Kindern aus Familien mit höheren Herkunftsressourcen gibt es mindestens drei Gründe (...):
(a) Generell bescheinigen Lehrer Kindern aus Familien mit besseren Herkunftsressourcen höhere schuladäquate nicht-kognitive Fähigkeiten (...). Es scheint also so zu sein (...), dass höhergebildete Eltern ihre Kinder mit einem kulturellen Kapital ausstatten, welches sie im Schulkontext erfolgreicher sein lässt.
(b) Grundschullehrer unterstellen besser gebildeten Eltern, dass sie eher in der Lage sind, ihre Kinder bei Problemen auf der höheren Schule zu unterstützen. Folglich schreiben sie diesen Kindern höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten im Hinblick auf deren Bildungskarriere zu. Und
(c) üben besser gebildete Eltern generell mehr Druck auf Lehrer und Bildungsinstitutionen aus, falls dies aus ihrer Sicht nötig sein sollte."
aus: Blossfeld, H.-P., Blossfeld, G.-J. & Blossfeld, P. N. (2019). Soziale Ungleichheiten und Bildungsentscheidungen im Lebensverlauf: Die Perspektive der Bildungssoziologie. JERO Journal for Educational Research Online, 11 (1), S. 16 – 30, Zitat S. 23. Online: Externer Link: https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=3994
Diese spezielle Übergangsproblematik am Ende der Grundschule wird jedoch nicht durch die Lehrer:innenschaft erzeugt, sondern ist Folge der eigentümlichen Tatsache, dass bislang und wohl auch weiterhin in Deutschland Zehnjährige bzw. in Berlin und Brandenburg Zwölfjährige je nach Bundesland auf zwei bis fünf unterschiedlich anspruchsvolle und für den weiteren Bildungsweg unterschiedlich chancenreiche Schulformen aufgeteilt werden müssen. Das Problem der gerechten Beurteilung von Schüler:innen ist also immer im Zusammenhang mit übergeordneten, strukturellen Eigenarten des Bildungssystems zu sehen.
Wahrnehmungen: Haben Kevin und Aise keine Chance?
Betrachtet man den konkreten Umgang, das heißt die Interaktionsebene und die Mikroprozesse des wechselseitigen Wahrnehmens und Beurteilens von Lehrkräften und Schüler:innen, so bleibt festzuhalten, dass früher wie heute Vorurteile und Stereotypen bei zu benotenden Schüler:innen-Leistungen wirksam sind. Das unterschiedliche Wahrnehmen und Einteilen von Schüler:innen auf der Leistungsskala (doing difference) geschieht als komplexer, nicht immer bewusster Entscheidungsprozess. Es ist eine in das soziale Geschehen im Schulalltag eingebettete Urteilsbildung über Schüler:innen, deren aktuelle fachliche Leistungen und deren (vermutetes) Potenzial. Schüler:innen werden bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, und zugleich entwickeln Lehrer:innen Vorstellungen darüber, was wohl die Ursachen für diese Eigenschaften sind – und ob sich diese Ursachen ändern werden bzw. ändern lassen. Entsprechend zu diesen Vorstellungen und privaten, stillen Hintergrundtheorien sehen und behandeln Lehrkräfte ihre Schüler:innen.
In der empirischen Forschung zu den Ungerechtigkeiten des Lehrer:innenurteils spielt der Umgang mit Kindern mit einem Migrationshintergrund, mit Kindern aus gesellschaftlichen Minderheiten, mit Kindern aus geflüchteten Familien usw. eine wichtige Rolle. Die hiesige Forschung kann dabei auf die in der internationalen Bildungsforschung sehr viel breiteren Erfahrungen zum Umgang mit Kindern aus racial and ethnical minorities in Schule und Unterricht zurückgreifen. In den USA, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland, in einigen Staaten in Asien und Afrika wurde sehr viel zu den Exklusions-, Inklusions- und Diskriminierungsprozessen geforscht, die auf die komplexe ethnische Zusammensetzung der Schüler:innenschaft (und der Lehrer:innenschaft!) zurückzuführen sind. Insbesondere die bei manchen Lehrkräften an Schulen in einem schwierigen sozialen Umfeld verbreitete Defizitorientierung (deficit thinking) trägt dazu bei, dass sich Benachteiligungen verfestigen. Lehrkräfte mit diesem Denkmuster erwarten zu häufig zu wenig von den Schüler:innen – und aus Erwartungen wird dann schnell Wirklichkeit, wie man aus der Forschung zur "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" weiß.
Die Forschung zur Heterogenität der Schüler:innen macht darüber hinaus immer wieder darauf aufmerksam, dass sich bei einzelnen oder Gruppen von Schüler:innen mehrere, mit Benachteiligungen einhergehende Eigenschaften überlagern (die "Intersektionalität" von sozialer Herkunft, Ethnie, Beeinträchtigungen, Geschlecht bzw. sexueller Orientierung usw.). Deshalb wird von der Forschung culturally sensible assessment, also eine kultursensible Beurteilungspraxis, eingefordert. Hier ist die Lehrer:innenschaft tatsächlich verpflichtet, Diskriminierungen aktiv abzubauen. Wie kann das hierzulande gelingen?
Was tun? Die Rolle der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften
Klar ist: Ein völlig offenes, nicht-kategorisierendes Wahrnehmen anderer Menschen ist nicht möglich. Zu den allgemeinen Bedingungen menschlicher Wahrnehmung in einer komplexen Welt gehört es, die zahlreichen Informationen einzuordnen und zu bewerten. Wohl aber können die Art, die Stabilität, die Offenheit, die Reflektiertheit des kategorisierenden Wahrnehmens und Einteilens unterschiedlich ausgeprägt sein. Wahrnehmungs- und Beurteilungsgewohnheiten können sich auch verändern oder verändert werden.
QuellentextKritik an der Lehrer:innenbildung zu sozialer Benachteiligung
"Insgesamt erscheint die lückenhafte Vorbereitung angehender Lehrpersonen auf den Umgang mit sozialen Benachteiligungen ihrer künftigen Schülerinnen und Schüler nicht nur in einem potenziellen Ausweichen vor Problemen zu resultieren, die sich mit sozialen Disparitäten verbinden; die Lehrerbildung selbst könnte soziale Disparitäten reproduzieren, indem sie nicht nur bezüglich der Inhalte, sondern auch der Selektion Studierender bestimmte Fachkulturen und soziale Hintergründe nur bedingt anspricht."
aus: Cramer, C., Bohl, Th., du Bois-Reymond, M. (2013). Zum Stellenwert der Vorbereitung angehender Lehrpersonen auf den Umgang mit Bildungsbenachteiligungen – Ergebnisse aus Dokumentenanalysen und Experteninterviews in drei Bundesländern. In A. Gehrmann, B. Kranz, S. Pelzmann & A. Reinhartz (Hrsg.), Formation und Transformation der Lehrerbildung. Entwicklungstrends und Forschungsbefunde (S. 206-223). Bad Heilbrunn: Klinkhardt, Zitat S. 222.
Insbesondere in pädagogischen bzw. schulischen Kontexten sollte man daher als Lehrkraft vorsichtig dabei sein, wenn man Schüler:innen bestimmte Eigenschaften zuteilt bzw. zuspricht. Man sollte stets offen für Überraschungen sein und bleiben. Vor allem aber ist es wichtig, dass insbesondere Pädagogen bzw. Pädagoginnen ihre persönlichen Eigenarten des Wahrnehmens und Urteilens kennen. Der bekannte Schul- und Lehrerforscher Werner Helsper spricht in diesem Zusammenhang davon, dass man als Lehrer:in eine Art "habitualisiertes Misstrauen" gegen sich selbst und seine Einteilungsgewohnheiten bei der Beurteilung von Schüler:innen entwickeln sollte (Helsper, 2002). Das ist sicherlich empfehlenswert, wenngleich im Alltag schwer durchzuhalten. Doch man kann seine beruflichen Wahrnehmungen und Beurteilungen zum Beispiel mit den Argumenten, Perspektiven und Urteilen anderer kompetenter Kollegen und Kolleginnen abgleichen. Dabei ist ein offenes, personengerechtes, förderndes Beurteilen kein Hexenwerk. Es kann als eine berufliche Fähigkeit erlernt werden.
Angehende Lehrer:innen sollten bereits in ihrer Ausbildung über diese Zusammenhänge aufgeklärt werden und während ihres Studiums in den Pflichtmodulen zu Unterricht und Didaktik das Thema "Schüler:innenbeurteilung" fest verankert sein. Zwar sind die Lehrangebote durch die Umstellung und Modularisierung der Lehramtsstudiengänge gegenüber früheren Zeiten klarer und verbindlicher strukturiert. Allerdings ist damit keineswegs gesichert, dass dabei alle Lehramtsstudierenden in den bildungswissenschaftlichen und/oder fachbezogen-fachdidaktischen Studienveranstaltungen entsprechende Informationen erhalten.
Im Referendariat sollte die Praxis des differenzierten, flexiblen, sach- und personengerechten Wahrnehmens und vorsichtigen Beurteilens von Schüler:innen und ihren Leistungen mithilfe kompetenter Ausbilder:innen und Mentoren wie Mentorinnen eingeübt werden. Hierbei sollten angehende Lehrkräfte auch lernen, wie differenzierte Lernentwicklungsberichte erstellt werden und wie Kompetenzraster oder individualisierte Rückmeldungen jenseits von Ziffernoten usw. einzusetzen sind (siehe auch Beitrag von Silvia-Iris Beutel, Eva-Maria Espermüller-Jug und Hans Anand Pant:
Vielleicht höhere Bedeutung als diese Erstausbildung in Universität und Referendariat hat jedoch die kontinuierliche Fortbildung, das Lernen im Beruf. Vor dem Hintergrund eigener Berufserfahrungen sollten Fortbildungs- und Beratungsangebote auf die Entwicklung einer schülersensiblen Wahrnehmungs- und Beurteilungskompetenz der Lehrer:innen gerichtet sein.
Lehrer:innenurteile über Schüler:innen verlangen wegen ihrer kurz- und längerfristigen Folgewirkungen aus moralischen und sachlichen Gründen hohe professionelle Kompetenz. Diese auch tatsächlich möglichst hoch auszuprägen bzw. zu entwickeln ist einerseits Pflicht jeder einzelnen Lehrkraft. Andererseits sollte dafür auch ein von Schulverwaltung und Einzelschule zu gestaltendes Unterstützungssystem bereitstehen (zum Beispiel über Fortbildungen speziell zu diesem Problem u. ä.), das dieses Kompetenzniveau auch erreichbar macht und ein Unterschreiten von elementaren Standards einer fairen Schüler:innenbeurteilung wirksam verhindert.
Zum Schluss: Ein Plädoyer für Realismus
Ungleichheit als gesellschaftliches Phänomen und die dadurch bedingte Ungleichheit der Lebenswelten, Milieus und persönlichen Präferenzen bildet den Hintergrund für die weiterhin bestehende Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Schichten. Sehr viele Faktoren tragen dazu bei, dass Kinder aus "bildungsfernen" Schichten "bildungsfern" bleiben und diese soziale Positionierung wiederum an ihre Kinder sozial vererben – und immer so weiter. Analoges gilt im Prinzip für die "bildungsnahen" Milieus.
In diesem Prozess spielen die Lehrkräfte sicherlich eine wichtige Rolle. Aber kann man von ihnen erwarten, dass durch ein sach- und personengerechteres berufliches Handeln und Entscheiden die beschriebenen Kreisläufe regelmäßig durchbrochen, gar stillgelegt werden? Dies wäre sicherlich eine Überforderung und würde den dahinterliegenden gesellschaftlichen Sachverhalt der realexistierenden sozialen Ungleichheit pädagogisieren und damit entpolitisieren. Eine für die Problematik stärker sensibilisierte Lehrer:innenschaft könnte dazu beitragen, Bildungsungerechtigkeiten innerhalb des schulischen Kontexts zu verringern. Der Abbau von Ungleichheit in den Lebensverhältnissen selbst ist jedoch eine gesellschaftspolitische Aufgabe – sie kann nicht von Pädagogen und Pädagoginnen allein erledigt werden.