Wie viel Präsenzunterricht seit dem ersten Lockdown im März 2020 inzwischen für jeden Schüler und jede Schülerin in Deutschland ausgefallen ist, lässt sich schwer erheben – manche Schätzungen liegen zwischen 350 und 800 Unterrichtsstunden. Der Umfang des Ausfalls und die Qualität des digital unterstützten Distanzunterrichts variieren dabei nicht nur zwischen den Schulformen, sondern auch von Schule zu Schule stark. Die mittel- und langfristigen Folgen für die Einzelnen dürften sehr unterschiedlich ausfallen, je nach Bundesland, Schulsituation, Schulklasse und Familie. Überall aber stellt sich die Frage, wie mit den Folgen der Corona-Schuljahre umzugehen ist. Eines ist schon jetzt klar: Einfache Lösungen dafür gibt es nicht. Dieser Beitrag soll daher auf Fragen hinweisen, die in der öffentlichen Diskussion bisher weitgehend ausgespart wurden, und gegenwärtig diskutierte Vorschläge für den Umgang mit den Corona-Jahren analytisch einordnen.
Lernlücken aufholen?
Einigkeit bestand in der öffentlichen Diskussion um die Aufarbeitung der Lernrückstände bis ca. März/April 2021 nur bei einer Frage: Der verpasste Lernstoff gilt als wichtig und soll nachgeholt werden. Am Ende des Schuljahres 2020/21 mehren sich nun aber auch Stimmen – nicht zuletzt aus der Wissenschaft, manchen Kultusministerien und Lehrerverbänden –, die diesem "Konsens" durchaus kritisch gegenüberstehen. So argumentieren einige Akteure im Bildungssystem, dass gar nicht der gesamte verpasste Lernstoff am Ende so wichtig sei, weil die Schule Schulstoff heute ohnehin vor allem "kompetenzorientiert" vermittelt. In diesem Sinne sei auch der Wegfall einiger Lerninhalte, über die diese Kompetenzen erworben werden, nicht zentral. Auch die neu eingerichtete Ständige wissenschaftliche Kommission (StäwiKo) der Kultusministerkonferenz (KMK), die seit 2021 die Bundesländer in Fragen der Herausforderungen und Weiterentwicklung des Bildungswesens berät, empfiehlt hauptsächlich auf die Lerninhalte in den Kompetenzdomänen Deutsch und Mathematik zu fokussieren (siehe: StäwiKo 2021). Andere Kompetenzdomänen seien nachrangig, solange diese Basiskompetenzen sitzen. Ob diese Argumentationen ausreichend pädagogisch begründet sind, oder vor allem geführt werden, weil sie unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt realistisch umsetzbar erscheinen, ist dabei offen. Denn vielen Akteuren im Bildungswesen dürfte mittlerweile klar sein, dass es derzeit keine ausreichenden Ressourcen an pädagogischem Personal und Zeit dafür gibt, verpassten Schulstoff wieder aufzuholen. In Bereichen wie zum Beispiel dem Erlernen von Fremdsprachen, aber auch der politischen Bildung greifen diese Argumentationen aus meiner Sicht ohnehin zu kurz. Oder sollte man wirklich darauf setzten, dass alle Schüler und Schülerinnen verpasste Vokabeln und Sprachübungen nachholen, oder sich Wissen über den Holocaust in ihrer Freizeit selber aneignen, nur weil sie über die Basiskompetenzen im Lesen verfügen?
Darüber hinaus stellen sich weitere zentrale und noch offene Fragen: Wie groß sind überhaupt die entstandenen Lernlücken? Und wie können mittelfristige und langfristige Lösungen aussehen, um diese zu schließen?
Lernlücken: das Ausmaß des Schadens
Um sich den Fragen, wie wir mit den erwartbaren Lernrückständen umgehen können, sinnvoll und empirisch solide zu nähern, müssen wir zunächst einmal abschätzen, wie groß das Ausmaß der Lernrückstände für die Schülerschaft insgesamt und für unterschiedliche (soziale) Gruppen von Schülerinnen und Schülern ist.
Der aktuelle Forschungsstand zu den Folgen der Schulschließungen für die Kompetenzentwicklung der Kinder ist sehr unübersichtlich und bezieht sich ausschließlich auf die Folgen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Studien aus Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg sowie Belgien, den Niederlanden und den USA kommen dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Während einige feststellen, dass die Schüler und Schülerinnen in Mathematik und der jeweiligen Muttersprache geringe Kompetenzrückstände aufweisen, stellen andere fest, dass die Lernlücken aus dem ersten Lockdown so groß sind, als hätte es noch nicht einmal digitalen Unterricht gegeben (für einen Überblick: siehe Helbig 2021).
In Deutschland werden in einigen, jedoch nicht allen Bundesländern zum Ende des Schuljahres 2020/21 bzw. am Anfang des Schuljahres 2021/22 Lernstanderhebungen durchgeführt. Diese werden bestenfalls im Herbst 2021 ausgewertet sein. Hinzu kommt die turnusgemäße deutschlandweite Erhebung des "IQB-Bildungstrends" über die Kompetenzen von Viertklässlern in Mathematik und Deutsch aus dem Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), die vermutlich Ende dieses Jahres verlässliche Ergebnisse für den Grundschulbereich bereithält. Darüber hinaus findet die nächste internationale PISA-Erhebung für den Sekundarschulbereich im Frühjahr 2022 statt, die sicherlich nicht vor Ende 2022 fundiertere Ergebnisse bereitstellt. Bis dahin wird die Diagnose zu Lernrückständen also vermutlich über die jeweils eigenen (individuellen) Erlebnishorizonte definiert. Und so gibt es auch unter Bildungsexperten und -expertinnen jene, die wahrscheinlich zu Recht der Meinung sind, dass es durchaus Kinder gibt, die im Distanzunterricht mit ihrer akademisch gebildeten Privatlehrkraft Mama oder Papa besser gelernt haben als im Klassenkontext mit mindestens 24 anderen Kindern. Unstrittig ist allerdings, dass die Pandemiesituation die Ungleichheit in den Bildungschancen je nach ökonomischen, kulturellen und zeitlichen Ressourcen der Familien oder ihrem Bezug zur deutschen Sprache noch verschärft hat. Darüber hinaus traten unter Pandemiebedingungen noch weitere Ungleichheitsfaktoren hinzu: Der Bildungserfolg hängt in der Pandemie auch davon ab, wie gut die Breitbandabdeckung (Stichwort: "schnelles Internet") in einer Region ist, wie umfangreich die Schulschließungen ausfallen, in welcher Klassenstufe ein Kind ist oder wie gut der Distanzunterricht an der jeweiligen Schule bzw. von der jeweiligen Lehrkraft organisiert ist. Ohne Zweifel haben viele Lehrkräfte während der Pandemie Großartiges geleistet. Gleichwohl gelang es nicht allen, den Distanzunterricht gut zu strukturieren, Schülern und Schülerinnen ein angemessenes Feedback zu geben und etwa gemeinsame Unterrichtseinheiten per Videokonferenz anzubieten. Klar ist, dass wir es nicht nur mit individuellen Lernrückständen einzelner Schüler und Schülerinnen zu tun haben, sondern mit der strukturellen Benachteiligung verschiedener Gruppen. Aus den ersten empirischen Studien sowie eigenen Überlegungen scheinen vor allem acht Dimensionen einen wesentlichen Einfluss auf die Größe der entstandenen Lernlücken zu haben (siehe Tabelle 1). Damit wird auch deutlich, dass die Gruppe von Schülern und Schülerinnen mit großen Lernlücken bisher wahrscheinlich zu klein veranschlagt wurde. Denn oftmals wird behauptet, dass es sich bei dieser Schülerschaft (fast) ausschließlich um Gruppen handele, die schon vor den Corona-Schuljahren benachteiligt waren: Schüler und Schülerinnen aus sozial benachteiligten Familien und mit Migrationshintergrund.
Wir werden auch zum anstehenden neuen Schuljahr nicht genau wissen, wie groß die Lernlücken nun sind und welche Gruppen davon besonders betroffen sind. Nahe liegend und teilweise empirisch bestätigt ist jedoch eine deutlich gestiegene Heterogenität der Schülerschaft. Die Frage, die sich aus den Überlegungen zu diesen Dimensionen der Bildungsbenachteiligungen während der Pandemie ergibt, ist: Wo können mittel- und langfristige Lösungen der Bildungspolitik ansetzen? Theoretisch sind drei grundlegende Wege und damit verbundene politische Entscheidungen vorstellbar:
Die Schüler und Schülerinnen mit kleinen Lernlücken sind der Maßstab für alle anderen hinsichtlich dessen, was gekonnt und gewusst werden soll. Der erwartete Lernstoff wird also daran bemessen, welcher Lernstoff in einem normalen Schuljahr hätte geschafft werden sollen. Das heißt, Kinder mit großen Lernlücken müssen an diese Wissensstände anschließen.
Die Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken sind der Maßstab. Allen Schülern und Schülerinnen wird mehr Zeit eingeräumt, um bestehende Lernlücken zu schließen, auch wenn dies bedeutet, dass Kinder mit kleinen Lernlücken vermehrt Schulstoff wiederholen müssen.
Für alle setzt der Lernstoff dort an, wo sie jeweils nach den Corona-Schuljahren stehen. Dies setzt eine ausgefeilte pädagogische Diagnostik, eine darauf basierende individuelle Förderung aller Schüler und Schülerinnen sowie eine flexible jahrgangsübergreifende Schulorganisation (und ggf. flexible Prüfungszeiten) voraus.
Die Debatte: Fünf bildungspolitische Lösungswege und ihre Einordnung
Aktuell werden mehrere Hauptstrategien diskutiert, um verpassten Lernstoff aufzuholen. Die Vorschläge unterscheiden sich vor allem darin, welche Gruppen von Schülern und Schülerinnen sie zum Maßstab nehmen. Im Folgenden werden die fünf Vorschläge vorgestellt, die in der öffentlichen Diskussion am präsentesten sind, und aus Sicht der Bildungsforschung bewertet.
Vorschlag 1: Schüler und Schülerinnen erhalten Nachhilfe bzw. zusätzlichen Unterricht an Samstagen oder in den Ferien.
Dieser Ansatz setzt Schüler und Schülerinnen als Maßstab, die gut durch die Corona-Schuljahre gekommen sind, und zielt darauf ab, dass jene mit großen Lernlücken diese schließen. Zielgruppen dieser Maßnahmen sind jene Schüler und Schülerinnen, die – zumindest gemessen am Lernstand – durch die Schulschließungen besonders benachteiligt waren. Für genau diese Kinder allerdings wäre ein Ausgleich, aber auch eine Erholung besonders wichtig. Verstärkter Unterricht am Wochenende und in den Ferien kann jedoch gerade bei diesen Kindern zu einer Schulentfremdung führen oder diese weiter verstärken. Zudem wird bei diesen Maßnahmen auf Freiwilligkeit gesetzt. Ob damit genau jene Schüler und Schülerinnen erreicht werden, die die größten Lernlücken aufweisen, ist fraglich. Abgesehen davon erscheint es sinnvoll, Zusatzunterricht durch die regulären Lehrkräfte der jeweiligen Kinder zu erteilen. Es ist aber nicht geplant (und wahrscheinlich auch nicht realistisch umzusetzen), die regulären Lehrkräfte für Nachhilfeangebote einzusetzen. Auch das milliardenschwere Aktionsprogramm von Bund und Ländern "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" setzt dafür auf externes pädagogisches Personal und investiert dieses Geld eben nicht in mehr Lehrkräfte. Derartige Zusatzangebote sollen vor allem durch private Nachhilfe-Anbieter, pensionierte Lehrkräfte, Lehramtsstudierende, Stiftungen u.a. bereitgestellt werden. Dadurch können die Zusatzangebote allerdings nicht oder nur mäßig systematisch mit dem fortlaufenden regulären Unterricht abgestimmt werden. Zudem mag der Einsatz von Lehramtsstudierenden in Großstädten funktionieren – dies in kleineren Städten abzusichern, die fernab von Universitäten mit einer Lehramtsausbildung liegen, dürfte hingegen schwer sein. Betrachtet man die ersten Umsetzungskonzepte der Bundesländer zu diesen Programmen, inklusive des personellen Rahmens, der dort eingesetzt werden soll, dann wird ziemlich schnell deutlich, dass die personellen Ressourcen knapp sind und überhaupt nur ein Bruchteil der Schüler und Schülerinnen von diesen Programmen profitieren kann.
Vorschlag 2: Schüler und Schülerinnen können freiwillig ein Schuljahr wiederholen.
Diesen Vorschlag haben mittlerweile einige Bundesländer ins Auge gefasst. Damit wird allerdings die Lösung eines kollektiven Problems nun als individuelle Entscheidung den Eltern und Kindern überlassen – und wir wissen seit Langem aus der Bildungsforschung, dass freie Bildungsentscheidungen der Eltern soziale Ungleichheiten eher vergrößern als verringern (Boudon 1974). So zeigen etwa Wößmann et al. (2021), dass auch freiwillige Nachhilfeangebote im Kontext der Schulschließungen eher von sozial privilegierten Familien in Anspruch genommen werden. Außerdem sind auch die Folgen der freiwilligen Wiederholung kaum absehbar. Zwei Folgen sind denkbar (weitere Ausführungen hierzu in Helbig 2021: 26f.): Die Klassenwiederholung könnte aus guten Gründen nur von sehr wenigen Schülern und Schülerinnen wahrgenommen werden (z.B. um Stigmatisierungen durch Klassenwiederholungen zu vermeiden und Freunde nicht zu verlieren). Im Folgeschuljahr orientiert sich der Lernstoff dann wieder an den Kindern, die gut durch die Corona-Schuljahre gekommen sind, also am regulären Lehrplan. Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken können dann nicht mehr anknüpfen. Als Konsequenz nehmen in den Folgejahren unfreiwillige Klassenwiederholungen zu und der Anteil von Schülern und Schülerinnen ohne Schulabschluss wird vermutlich steigen. Derartige Entwicklungen wären individuell, gesellschaftlich und ökonomisch die ungünstigsten Folgen, die sich aus den Corona-Schuljahren ergeben können. Auf der anderen Seite könnten sich vor allem an Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Kinder, in Kreisen mit längeren Lockdowns und Quarantänezeiten und in Schulen und Klassen, in denen digitaler Unterricht nicht gut umgesetzt wurde, viel mehr Eltern und Kinder für ein freiwilliges Zusatzjahr entscheiden. Es käme so zu massiven Verschiebungen, auf die die jeweilige Einzelschule gar nicht reagieren kann. Bei der freiwilligen Klassenwiederholung wird darauf verwiesen, dass die Schulen die Eltern bei ihrer Entscheidung beraten sollen. Kann eine Schule aber überhaupt mehreren Schülern und Schülerinnen einer Klasse empfehlen zu wiederholen, wenn sie gar nicht die Kapazitäten hat, diese Schüler und Schülerinnen im nächsten Schuljahr zu unterrichten? Auch wenn es hierzu noch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, weisen bereits jetzt einige Medien-Berichte auf Basis von Nachfragen in den Länderministerien darauf hin, dass von der individuellen Klassenwiederholung eher wenig Gebrauch gemacht wird.
Vorschlag 3: Das ganze Schuljahr wird für alle Schüler und Schülerinnen wiederholt.
Auch dieser Vorschlag wurde mehrfach in der öffentlichen Debatte vorgetragen, ist aktuell jedoch nicht mehr umsetzbar. Hier war zunächst offen, ob ein ganzes Jahr wiederholt werden soll oder nur die Monate, die nicht in Präsenz stattgefunden haben. Doch unabhängig davon hätte dieses Vorgehen das Grundschulnetz kurzfristig an seine Grenzen gebracht: Pro Schuljahr werden deutschlandweit rund 730.000 Kinder eingeschult. Um sie zu unterrichten, ohne dass wie üblich ein Jahrgang die Grundschule verlässt, wären ungefähr 40.000 zusätzliche Vollzeitlehrkräfte in fast ebenso vielen Klassenräumen erforderlich gewesen. Beides gibt es gerade in vielen Großstädten nicht annähernd in ausreichender Zahl. Dieser Vorschlag fasste die Corona-Schuljahre als eine Ausnahmesituation, die die (Schüler- und Schülerinnen-)Generationen zuvor nicht erlebt hatten. Grundsätzlich verbindet sich mit ihm die Frage, warum die derzeitigen Schüler und Schülerinnen überhaupt das Gleiche leisten sollten wie die Generationen davor und danach.
Vorschlag 4: Vermeintlich überflüssiger Lernstoff wird weggelassen, damit verpasster Lernstoff in den sogenannten zentralen Fächern nachgeholt werden kann.
Dieser Vorschlag setzt Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken als Norm und orientiert sich an ihren Wissensständen. Ob das Weglassen von Lernstoff gelingen kann, ist sehr schwer einzuschätzen. Letztlich wird sich die Umsetzbarkeit von Klassenstufe zu Klassenstufe und von Fach zu Fach unterscheiden. Eine Entscheidung für diesen Weg bedeutet aber sehr wahrscheinlich, dass dies auf Kosten von Lerninhalten in Fächern wie Kunst, Musik, Ethik oder politische Bildung geht – genau jenen Fächern also, die auch während der Corona-Schuljahre eher weniger Aufmerksamkeit erfahren haben. Bei diesem Vorschlag muss zudem darauf verwiesen werden, dass der letzte Versuch, Lehrpläne zu kürzen – nämlich bei der Gymnasialzeitanpassung von 9 auf 8 Jahre ("G8") – scheiterte. Dies ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass es nicht einfach ist, überflüssigen Lernstoff zu identifizieren und entsprechende Kürzungen mit den Fachvertretern und -vertreterinnen auszuhandeln. Denn Lehrpläne und die darin vermittelten Kompetenzen sind über Jahre entwickelt und diskutiert worden. Sobald es um konkrete Lerninhalte geht, wird es schwierig zu argumentieren, welche Inhalte etwa in Geschichte und politischer Bildung, in Englisch oder in den Naturwissenschaften verzichtbar sind.
Vorschlag 5: Wiederholen und Sichern des Lernstoffs mit einer mittel- und langfristigen Verlängerung der Schulzeit.
Eine pragmatische Lösung könnte es sein, den Schulstoff der letzten Monate im neuen Schuljahr zu wiederholen und zu festigen und erst dann weiter zu gehen, wenn der Stoff der Corona Schuljahre gesichert ist. Dann müsste natürlich auch der Schulstoff des nächsten Schuljahres zeitlich entsprechend verschoben werden. Damit ist auch die Hoffnung verbunden, dass Lehrkräfte pragmatisch Wichtiges von Unwichtigem trennen. Dies müsste jedes Schuljahr wiederholt werden, bis der verlorene Stoff über einen längeren Zeitraum aufgeholt worden ist. Gerade durch die vielerorts erfolgte Umstellung von klar vorgegebenen Stundentafeln hin zu sogenannten Kontingentstundentafeln bestehen hier Chancen. Dieser Ansatz dürfte jedoch schwieriger in den Klassen am Übergang auf weiterführende Schulen umzusetzen sein, da der Schulstoff in eine andere Schulform verschoben werden müsste.
Wenn es nicht gelingt den Schulstoff in der normalen Schulzeit aufzuholen, was auch in Anbetracht anderer wichtiger Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen nahe liegt (etwa Schulpraktika, Schwimmunterricht, Klassenfahrten etc.), könnte auch insgesamt eine Schulzeitverlängerung notwendig werden. Die Schulzeit würde dann für den Hauptschulabschluss 9 ½ dauern, für den Realschulabschluss 10 ½ und für das Abitur 12 ½ Jahre. Anders als bei einer kompletten Schuljahreswiederholung für alle Kinder, oder einer Schuljahresverlängerung des jeweils auslaufenden Schuljahres würden sich die Lehrkräfte- und Raumbedarfe bei den Sekundarschulen auf das Ende der Schulzeit konzentrieren, weil sich faktisch die Schulzeit für die Abschlussjahrgänge verlängert. Für ein zentrales Gegenargument zu dem Argument, dass ein Schuljahresende auch mit Blick auf den möglichen Ausbildungs- und Studienbeginn im Anschluss doch nicht einfach verlagert werden könne, sei hier vorweggenommen: In Rheinland-Pfalz beenden die Abiturienten und Abiturientinnen ihr Abitur seit Jahren ganz regulär im Winter und beginnen ihr Studium häufig zum Sommersemester. Dieser Vorschlag nimmt insgesamt jene Schüler und Schülerinnen zum Maßstab, die nicht so gut durch die Corona-Schuljahre kamen, und bietet Zeit für alle, um nicht adäquat behandelten Lernstoff nachzuholen – auch in den sogenannten kleinen Fächern.
Mit den skizzierten Vorschlägen sollen die Folgen der Corona-Schuljahre zumindest abgemildert werden. Implizit werden dabei unterschiedliche (Bildungs-)Ziele verfolgt. Die wichtigsten sind: Entstandene Ungleichheiten sollen abgebaut werden, Mindeststandards in den Kernfächern Mathematik und Deutsch, aber auch in den Nebenfächern sollen gesichert werden. Es soll kein Druck auf Kinder mit großen Lernlücken ausgeübt werden, aber auch keine Langeweile für jene entstehen, die weniger Lücken haben. Schließlich müssen die Maßnahmen auch flächendeckend umsetzbar sein. Diese Ziele werden mit den genannten Vorschlägen jeweils unterschiedlich gut erreicht (siehe Tabelle 2). Welche Maßnahmen oder Maßnahmenbündel von den politisch Verantwortlichen bevorzugt werden, hängt davon ab, welche Ziele ihnen dabei je nach politischer Ausrichtung besonders wichtig sind.
Fazit: Als hätte es Corona nicht gegeben
Die Corona-Pandemie ist eine außergewöhnliche Krise und zweifellos eine Bildungskrise, zu der es keine einfachen Lösungen gibt. Dieser Beitrag versteht sich als ein Angebot, offen darüber zu diskutieren. Die von der Bildungspolitik bisher präsentierten Lösungen (Nachhilfe oder freiwillige individuelle Klassenwiederholung) setzen an althergebrachten Stellschrauben des Systems Schule an, um "schlechte" Schüler und Schülerinnen wieder in die Spur zu bekommen. Maßstab sind also jene Schüler und Schülerinnen, die gut durch die Corona-Schuljahre gekommen sind und den Lehrplan trotz Corona erfüllt haben – die Lernlücken der anderen werden zum Defizit, das aufzuholen ist. Das System Schule verlangt, die Lücken zu schließen, und tut damit letztlich so, als hätte es Corona nicht gegeben.
Sollten sich die Antworten der Bildungspolitik aber nicht eher auf jene fokussieren, die keinen Internetanschluss, kein Endgerät hatten, deren Eltern kein Deutsch sprechen, denen die Eltern nicht helfen konnten, die psychisch stark unter den Schulschließungen gelitten haben, in deren Wohnort die Schulen häufig geschlossen waren, weil es hohe Virus-Inzidenzen gab, deren Lehrkräfte kein oder wenig Feedback gaben, den Distanzunterricht nicht gut strukturierten oder nicht erreichbar waren? Schon in vermeintlich "normalen Zeiten" ist es problematisch, einzelne Kinder für ihre Lernrückstände verantwortlich zu machen. Umso mehr haben wir es in dieser Pandemie nicht mit individuellem Versagen der Schüler und Schülerinnen zu tun, sondern mit systemischen Problemlagen. Die Antworten der entscheidungsrelevanten Akteure beziehen diese systemischen Problemlagen bisher nicht ausreichend mit ein, sondern individualisieren diese Defizite als Versagen des und der Einzelnen. Folgt man den dafür ganz aufschlussreichen Studien von Andrabi et al. (2020) und darauf aufbauend Kaffenberger (2021), die auch im Gutachten der StäwiKo (2021) zitiert werden, so geht die Bildungspolitik das Risiko ein, dass aus manifesten Lernrückständen einiger Monate, mittelfristig Lernrückstände von über einem Jahr werden. Denn wenn man die Schüler und Schülerinnen nicht da abholt wo sie stehen, dann besteht die Gefahr, dass diese Kinder Jahr für Jahr weiter zurückfallen, weil sie auf einem höheren Niveau unterrichtet werden, als sie es bewältigen können.
Gerade weil es keine einfache Lösungen gibt, braucht es nun vor allem Zeit: Zeit, um darüber zu diskutieren, wie es weitergehen soll; Zeit, um uns einen Überblick über die Schäden der Corona-Schuljahre zu verschaffen; und Zeit, um uns um die Schüler und Schülerinnen zu kümmern, die im Distanzunterricht eine schwere Zeit hatten.