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Als hätte es Corona nicht gegeben Fünf bildungspolitische Reaktionen auf Schulschließung und Distanzunterricht

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Nach den pandemiebedingten Schulschließungen und Distanzunterricht entwickelten sich die Kenntnisse und Bildungschancen von Kindern in Deutschland so ungleich wie nie. Was kann gegen die durch die Pandemie verursachten Bildungslücken und -ungleichheiten mittelfristig getan werden? Welche bildungspolitischen Ansätze gibt es bisher und wie sind diese aus Sicht eines Bildungsforschers zu bewerten? Ein Diskussionsbeitrag aus der Reihe WZBrief Bildung des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Ein Mädchen sitz an einem Schreibtisch mit einem Laptop und nimmt von zuhause aus am Fernunterricht teil.
Ein Mädchen nimmt von zuhause aus am Fernunterricht teil. (© picture-alliance, PhotoAlto | Frédéric Cirou)

Wie viel Präsenzunterricht seit dem ersten Lockdown im März 2020 inzwischen für jeden Schüler und jede Schülerin in Deutschland ausgefallen ist, lässt sich schwer erheben – manche Schätzungen liegen zwischen 350 und 800 Unterrichtsstunden. Der Umfang des Ausfalls und die Qualität des digital unterstützten Distanzunterrichts variieren dabei nicht nur zwischen den Schulformen, sondern auch von Schule zu Schule stark. Die mittel- und langfristigen Folgen für die Einzelnen dürften sehr unterschiedlich ausfallen, je nach Bundesland, Schulsituation, Schulklasse und Familie. Überall aber stellt sich die Frage, wie mit den Folgen der Corona-Schuljahre umzugehen ist. Eines ist schon jetzt klar: Einfache Lösungen dafür gibt es nicht. Dieser Beitrag soll daher auf Fragen hinweisen, die in der öffentlichen Diskussion bisher weitgehend ausgespart wurden, und gegenwärtig diskutierte Vorschläge für den Umgang mit den Corona-Jahren analytisch einordnen.

Lernlücken aufholen?

Einigkeit bestand in der öffentlichen Diskussion um die Aufarbeitung der Lernrückstände bis ca. März/April 2021 nur bei einer Frage: Der verpasste Lernstoff gilt als wichtig und soll nachgeholt werden. Am Ende des Schuljahres 2020/21 mehren sich nun aber auch Stimmen – nicht zuletzt aus der Wissenschaft, manchen Kultusministerien und Lehrerverbänden –, die diesem "Konsens" durchaus kritisch gegenüberstehen. So argumentieren einige Akteure im Bildungssystem, dass gar nicht der gesamte verpasste Lernstoff am Ende so wichtig sei, weil die Schule Schulstoff heute ohnehin vor allem "kompetenzorientiert" vermittelt. In diesem Sinne sei auch der Wegfall einiger Lerninhalte, über die diese Kompetenzen erworben werden, nicht zentral. Auch die neu eingerichtete Ständige wissenschaftliche Kommission (StäwiKo) der Kultusministerkonferenz (KMK), die seit 2021 die Bundesländer in Fragen der Herausforderungen und Weiterentwicklung des Bildungswesens berät, empfiehlt hauptsächlich auf die Lerninhalte in den Kompetenzdomänen Deutsch und Mathematik zu fokussieren (siehe: StäwiKo 2021). Andere Kompetenzdomänen seien nachrangig, solange diese Basiskompetenzen sitzen. Ob diese Argumentationen ausreichend pädagogisch begründet sind, oder vor allem geführt werden, weil sie unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt realistisch umsetzbar erscheinen, ist dabei offen. Denn vielen Akteuren im Bildungswesen dürfte mittlerweile klar sein, dass es derzeit keine ausreichenden Ressourcen an pädagogischem Personal und Zeit dafür gibt, verpassten Schulstoff wieder aufzuholen. In Bereichen wie zum Beispiel dem Erlernen von Fremdsprachen, aber auch der politischen Bildung greifen diese Argumentationen aus meiner Sicht ohnehin zu kurz. Oder sollte man wirklich darauf setzten, dass alle Schüler und Schülerinnen verpasste Vokabeln und Sprachübungen nachholen, oder sich Wissen über den Holocaust in ihrer Freizeit selber aneignen, nur weil sie über die Basiskompetenzen im Lesen verfügen?

Darüber hinaus stellen sich weitere zentrale und noch offene Fragen: Wie groß sind überhaupt die entstandenen Lernlücken? Und wie können mittelfristige und langfristige Lösungen aussehen, um diese zu schließen?

Lernlücken: das Ausmaß des Schadens

Um sich den Fragen, wie wir mit den erwartbaren Lernrückständen umgehen können, sinnvoll und empirisch solide zu nähern, müssen wir zunächst einmal abschätzen, wie groß das Ausmaß der Lernrückstände für die Schülerschaft insgesamt und für unterschiedliche (soziale) Gruppen von Schülerinnen und Schülern ist.

Der aktuelle Forschungsstand zu den Folgen der Schulschließungen für die Kompetenzentwicklung der Kinder ist sehr unübersichtlich und bezieht sich ausschließlich auf die Folgen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Studien aus Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg sowie Belgien, den Niederlanden und den USA kommen dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Während einige feststellen, dass die Schüler und Schülerinnen in Mathematik und der jeweiligen Muttersprache geringe Kompetenzrückstände aufweisen, stellen andere fest, dass die Lernlücken aus dem ersten Lockdown so groß sind, als hätte es noch nicht einmal digitalen Unterricht gegeben (für einen Überblick: siehe Helbig 2021).

In Deutschland werden in einigen, jedoch nicht allen Bundesländern zum Ende des Schuljahres 2020/21 bzw. am Anfang des Schuljahres 2021/22 Lernstanderhebungen durchgeführt. Diese werden bestenfalls im Herbst 2021 ausgewertet sein. Hinzu kommt die turnusgemäße deutschlandweite Erhebung des "IQB-Bildungstrends" über die Kompetenzen von Viertklässlern in Mathematik und Deutsch aus dem Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), die vermutlich Ende dieses Jahres verlässliche Ergebnisse für den Grundschulbereich bereithält. Darüber hinaus findet die nächste internationale PISA-Erhebung für den Sekundarschulbereich im Frühjahr 2022 statt, die sicherlich nicht vor Ende 2022 fundiertere Ergebnisse bereitstellt. Bis dahin wird die Diagnose zu Lernrückständen also vermutlich über die jeweils eigenen (individuellen) Erlebnishorizonte definiert. Und so gibt es auch unter Bildungsexperten und -expertinnen jene, die wahrscheinlich zu Recht der Meinung sind, dass es durchaus Kinder gibt, die im Distanzunterricht mit ihrer akademisch gebildeten Privatlehrkraft Mama oder Papa besser gelernt haben als im Klassenkontext mit mindestens 24 anderen Kindern. Unstrittig ist allerdings, dass die Pandemiesituation die Ungleichheit in den Bildungschancen je nach ökonomischen, kulturellen und zeitlichen Ressourcen der Familien oder ihrem Bezug zur deutschen Sprache noch verschärft hat. Darüber hinaus traten unter Pandemiebedingungen noch weitere Ungleichheitsfaktoren hinzu: Der Bildungserfolg hängt in der Pandemie auch davon ab, wie gut die Breitbandabdeckung (Stichwort: "schnelles Internet") in einer Region ist, wie umfangreich die Schulschließungen ausfallen, in welcher Klassenstufe ein Kind ist oder wie gut der Distanzunterricht an der jeweiligen Schule bzw. von der jeweiligen Lehrkraft organisiert ist. Ohne Zweifel haben viele Lehrkräfte während der Pandemie Großartiges geleistet. Gleichwohl gelang es nicht allen, den Distanzunterricht gut zu strukturieren, Schülern und Schülerinnen ein angemessenes Feedback zu geben und etwa gemeinsame Unterrichtseinheiten per Videokonferenz anzubieten. Klar ist, dass wir es nicht nur mit individuellen Lernrückständen einzelner Schüler und Schülerinnen zu tun haben, sondern mit der strukturellen Benachteiligung verschiedener Gruppen. Aus den ersten empirischen Studien sowie eigenen Überlegungen scheinen vor allem acht Dimensionen einen wesentlichen Einfluss auf die Größe der entstandenen Lernlücken zu haben (siehe Tabelle 1). Damit wird auch deutlich, dass die Gruppe von Schülern und Schülerinnen mit großen Lernlücken bisher wahrscheinlich zu klein veranschlagt wurde. Denn oftmals wird behauptet, dass es sich bei dieser Schülerschaft (fast) ausschließlich um Gruppen handele, die schon vor den Corona-Schuljahren benachteiligt waren: Schüler und Schülerinnen aus sozial benachteiligten Familien und mit Migrationshintergrund.

Tabelle 1: Dimensionen von Ungleichheiten während der Corona-Schuljahre

Keine/Kleine LernlückeDimensionGroße Lernlücke
hohe ökonomische, kulturelle und zeitliche RessourcenRessourcen der Familieniedrige ökonomische, kulturelle und zeitliche Ressourcen
Deutsch in der FamilieFamiliensprachekein Deutsch in der Familie
Hohe BreitbandabdeckungLand vs. StadtNiedrige Breitbandabdeckung
wenig Schließungen wegen lokaler InzidenzRegionale Unterschiedeviele Schließungen wegen lokaler Inzidenz
Textinterpretation von "Faust" in der OberstufeKlassenstufe und LehrstoffSchriftspracherwerb in der ersten Klasse
hohe IT-Kompetenz (9. Klasse)Klassenstufe und Medienkompetenzgeringe IT-Kompetenz (1. Klasse)
Mathe und DeutschFächer"kleine Fächer" (wie politische Bildung, Chemie, Physik, Kunst)
strukturierter gemeinsamer Unterricht über Videokonferenzen und andere digitale Formate mit FeedbackLehrkraftunstrukturierte Themenpläne und Aufgabenblätter ohne Feedback und direkten Austausch über Videochat

Wir werden auch zum anstehenden neuen Schuljahr nicht genau wissen, wie groß die Lernlücken nun sind und welche Gruppen davon besonders betroffen sind. Nahe liegend und teilweise empirisch bestätigt ist jedoch eine deutlich gestiegene Heterogenität der Schülerschaft. Die Frage, die sich aus den Überlegungen zu diesen Dimensionen der Bildungsbenachteiligungen während der Pandemie ergibt, ist: Wo können mittel- und langfristige Lösungen der Bildungspolitik ansetzen? Theoretisch sind drei grundlegende Wege und damit verbundene politische Entscheidungen vorstellbar:

  1. Die Schüler und Schülerinnen mit kleinen Lernlücken sind der Maßstab für alle anderen hinsichtlich dessen, was gekonnt und gewusst werden soll. Der erwartete Lernstoff wird also daran bemessen, welcher Lernstoff in einem normalen Schuljahr hätte geschafft werden sollen. Das heißt, Kinder mit großen Lernlücken müssen an diese Wissensstände anschließen.

  2. Die Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken sind der Maßstab. Allen Schülern und Schülerinnen wird mehr Zeit eingeräumt, um bestehende Lernlücken zu schließen, auch wenn dies bedeutet, dass Kinder mit kleinen Lernlücken vermehrt Schulstoff wiederholen müssen.

  3. Für alle setzt der Lernstoff dort an, wo sie jeweils nach den Corona-Schuljahren stehen. Dies setzt eine ausgefeilte pädagogische Diagnostik, eine darauf basierende individuelle Förderung aller Schüler und Schülerinnen sowie eine flexible jahrgangsübergreifende Schulorganisation (und ggf. flexible Prüfungszeiten) voraus.

Die Debatte: Fünf bildungspolitische Lösungswege und ihre Einordnung

Aktuell werden mehrere Hauptstrategien diskutiert, um verpassten Lernstoff aufzuholen. Die Vorschläge unterscheiden sich vor allem darin, welche Gruppen von Schülern und Schülerinnen sie zum Maßstab nehmen. Im Folgenden werden die fünf Vorschläge vorgestellt, die in der öffentlichen Diskussion am präsentesten sind, und aus Sicht der Bildungsforschung bewertet.

Mit den skizzierten Vorschlägen sollen die Folgen der Corona-Schuljahre zumindest abgemildert werden. Implizit werden dabei unterschiedliche (Bildungs-)Ziele verfolgt. Die wichtigsten sind: Entstandene Ungleichheiten sollen abgebaut werden, Mindeststandards in den Kernfächern Mathematik und Deutsch, aber auch in den Nebenfächern sollen gesichert werden. Es soll kein Druck auf Kinder mit großen Lernlücken ausgeübt werden, aber auch keine Langeweile für jene entstehen, die weniger Lücken haben. Schließlich müssen die Maßnahmen auch flächendeckend umsetzbar sein. Diese Ziele werden mit den genannten Vorschlägen jeweils unterschiedlich gut erreicht (siehe Tabelle 2). Welche Maßnahmen oder Maßnahmenbündel von den politisch Verantwortlichen bevorzugt werden, hängt davon ab, welche Ziele ihnen dabei je nach politischer Ausrichtung besonders wichtig sind.

Tabelle 2: Schule nach Corona – Maßnahmen und Ziele

ZieleVorschlag 1: Nachhilfe etc.Vorschlag 2: Individuelles WiederholenVorschlag 3: kollektives Wiederholen Vorschlag 4: Lernstoff weglassenVorschlag 5: Schulzeit-verlängerung
Wenige wieder-holenViele wieder-holen
Ungleichheit abbauen+-++++
Mindeststandards in Mathe und Deutsch sichern+-++0+
Mindeststandards in kleinen Fächern sichern0-++-+
Kein Druck für Kinder mit großen Lernlücken--++++
Keine Langeweile für Kinder mit kleinen Lernlücken+++-0-
Keine systemischen Konsequenzen++--+-
flächendeckend gleichermaßen umsetzbar-+--+-
Tabellenbeschreibung

Tabelle 2: Schule nach Corona – Maßnahmen und Ziele

Fußnote: + Erfüllung des jeweiligen Ziels wahrscheinlich
0 unklar, ob das Ziel mit diesem Vorschlag zu erfüllen ist
- Erfüllung des jeweiligen Ziels eher unwahrscheinlich

Fazit: Als hätte es Corona nicht gegeben

Die Corona-Pandemie ist eine außergewöhnliche Krise und zweifellos eine Bildungskrise, zu der es keine einfachen Lösungen gibt. Dieser Beitrag versteht sich als ein Angebot, offen darüber zu diskutieren. Die von der Bildungspolitik bisher präsentierten Lösungen (Nachhilfe oder freiwillige individuelle Klassenwiederholung) setzen an althergebrachten Stellschrauben des Systems Schule an, um "schlechte" Schüler und Schülerinnen wieder in die Spur zu bekommen. Maßstab sind also jene Schüler und Schülerinnen, die gut durch die Corona-Schuljahre gekommen sind und den Lehrplan trotz Corona erfüllt haben – die Lernlücken der anderen werden zum Defizit, das aufzuholen ist. Das System Schule verlangt, die Lücken zu schließen, und tut damit letztlich so, als hätte es Corona nicht gegeben.

Sollten sich die Antworten der Bildungspolitik aber nicht eher auf jene fokussieren, die keinen Internetanschluss, kein Endgerät hatten, deren Eltern kein Deutsch sprechen, denen die Eltern nicht helfen konnten, die psychisch stark unter den Schulschließungen gelitten haben, in deren Wohnort die Schulen häufig geschlossen waren, weil es hohe Virus-Inzidenzen gab, deren Lehrkräfte kein oder wenig Feedback gaben, den Distanzunterricht nicht gut strukturierten oder nicht erreichbar waren? Schon in vermeintlich "normalen Zeiten" ist es problematisch, einzelne Kinder für ihre Lernrückstände verantwortlich zu machen. Umso mehr haben wir es in dieser Pandemie nicht mit individuellem Versagen der Schüler und Schülerinnen zu tun, sondern mit systemischen Problemlagen. Die Antworten der entscheidungsrelevanten Akteure beziehen diese systemischen Problemlagen bisher nicht ausreichend mit ein, sondern individualisieren diese Defizite als Versagen des und der Einzelnen. Folgt man den dafür ganz aufschlussreichen Studien von Andrabi et al. (2020) und darauf aufbauend Kaffenberger (2021), die auch im Gutachten der StäwiKo (2021) zitiert werden, so geht die Bildungspolitik das Risiko ein, dass aus manifesten Lernrückständen einiger Monate, mittelfristig Lernrückstände von über einem Jahr werden. Denn wenn man die Schüler und Schülerinnen nicht da abholt wo sie stehen, dann besteht die Gefahr, dass diese Kinder Jahr für Jahr weiter zurückfallen, weil sie auf einem höheren Niveau unterrichtet werden, als sie es bewältigen können.

Gerade weil es keine einfache Lösungen gibt, braucht es nun vor allem Zeit: Zeit, um darüber zu diskutieren, wie es weitergehen soll; Zeit, um uns einen Überblick über die Schäden der Corona-Schuljahre zu verschaffen; und Zeit, um uns um die Schüler und Schülerinnen zu kümmern, die im Distanzunterricht eine schwere Zeit hatten.

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