Wie kommen die Bildungsvorteile von Kindern aus begünstigten sozialen Verhältnissen zustande? Die wichtigsten Ursachen und Erklärungsansätze.
Dies ist der dritte Beitrag einer vierteiligen Artikelserie, die zentrale Forschungsbefunde zum Thema Bildungsungleichheit im Überblick behandelt. Die weiteren Beiträge finden sich hier:
Worin aber liegen die Ursachen für die soeben dargestellten Ungleichheiten? Wie kommen die Vorteile von Kindern aus begünstigten sozialen Verhältnissen zustande? In der erziehungswissenschaftlichen, soziologischen und psychologischen Forschung werden insbesondere drei Bereiche ausgemacht, die für die Entstehung bzw. Veränderung von Bildungsungleichheiten relevant sind (vgl. Maaz, Baumert, Trautwein, 2009):
Bildungsübergänge. Vor allem die soziologische Ungleichheitsforschung konzentrierte sich bislang auf die "Gelenkstellen" zwischen Bildungsinstitutionen, etwa den Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen oder den Übergang von der Schule in das Berufsbildungssystem oder die Hochschule. Hier können soziale Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung einerseits dadurch entstehen oder verstärkt werden, dass das Beratungs- und Empfehlungsverhalten von Erzieherinnen/Erziehern und Lehrkräften soziale Verzerrungen in dem Sinne aufweist, dass Kindern aus sozial begünstigen Familien allgemein mehr zugetraut und im Zweifel eher eine höhere, mit den Erwartungen der Eltern konforme Empfehlung ausgesprochen wird. Anderseits unterscheidet sich auch das Entscheidungsverhalten von Eltern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach der sozialen Herkunft. So wird in sozial privilegierten Familien im Zweifel eher der prestigereichere Bildungsgang gewählt, während statusniedrige Familien eine gewisse Distanz zur höheren Bildung aufweisen und sich selbst bei ausreichenden Leistungen mitunter gegen entsprechende Bildungsgänge entscheiden (siehe die Ausführungen zu "sekundären Herkunftseffekten" weiter unten).
Unterschiedliche Lernzuwächse in Bildungsinstitutionen. Insbesondere die Gliederung des Sekundarschulbereichs in lehrplanmäßig unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge, die für den weiteren Bildungsweg unterschiedliche Anschlussoptionen eröffnen, kann den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schulleistungen verschärfen. Ausschlaggebend dafür ist vornehmlich das Zusammenwirken zweier Mechanismen (vgl. Maaz, Trautwein, Lüdtke & Baumert, 2008): Erstens ist der Übergang in die verschiedenen Schulformen bzw. Bildungsgänge des Sekundarschulbereichs mit dem sozialen Hintergrund assoziiert: je bildungsnäher die Eltern, desto größer ist die Chance der Kinder, auf ein Gymnasium zu wechseln – auch wenn man nur Kinder betrachtet, die gemessen etwa an der kognitiven Grundfähigkeit und/oder der Lesekompetenz leistungsmäßig gleichauf liegen. Zweitens entstehen durch die Aufteilung der Schülerschaft im Sekundarschulbereich relativ homogene Entwicklungsmilieus, d. h. in den Klassen der verschiedenen Bildungsgänge lernen jeweils Schülerinnen und Schüler mit ähnlichem sozialem Hintergrund und ähnlicher Leistungsfähigkeit. Gepaart mit den unterschiedlich anspruchsvollen Lehrplänen führt dies zu unterschiedlichen Lernzuwächsen in den einzelnen Bildungsgängen: Im gymnasialen Bildungsgang sind die Lernzuwächse der Schülerinnen und Schüler am stärksten, in der Hauptschule fallen sie am geringsten aus – und dies gilt auch für Kinder, die mit den gleichen kognitiven Voraussetzungen in die Sekundarstufe I eingetreten sind. In der Forschung spricht man in diesem Zusammenhang von sogenannten Schereneffekten (vgl. Abbildung 10).
Außerhalb des Bildungssystems. Schließlich können Bildungsungleichheiten auch außerhalb von Bildungseinrichtungen in der Familie, der Nachbarschaft oder der Region entstehen und wiederum dazu führen, dass sich die Ungleichheiten innerhalb von Bildungsinstitutionen intensivieren. Zu solchen außerschulischen Faktoren zählt beispielsweise die unterschiedliche Kompetenzentwicklung in der schulfreien Zeit, in der Kinder aus sozial begünstigten Familien von einem kognitiv anregenden häuslichen Umfeld profitieren. Auch das regionale Umfeld der Schule kann Bildungsungleichheiten verschärfen: Wohnen etwa in einem Stadtviertel viele sozial benachteiligte Familien, konzentrieren sich womöglich auch in den Schulklassen der örtlichen Grundschule soziale Problemlagen. In der Folge kann die Leistungsentwicklung einzelner Schülerinnen und Schüler ungünstiger verlaufen als es in einer sozial stärker durchmischten Schulklasse der Fall wäre.
Primäre und sekundäre Ungleichheiten – Der Übergang von der Grundschule als Schlüsselübergang
Wie bereits angesprochen, spielen bei der Entstehung von sozialen Bildungsungleichheiten die Übergänge zwischen Bildungsinstitutionen eine wichtige Rolle. In Deutschland ist der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I besonders bedeutsam, da die Schülerinnen und Schüler hier auf unterschiedliche Schulformen bzw. Bildungsgänge verteilt werden, an denen unterschiedliche Abschlüsse erworben werden. Dass dieser Übergang Schülerinnen und Schüler aus höheren sozialen Schichten weit häufiger auf das Gymnasium führt als jene aus weniger privilegierten Verhältnissen, wurde oben bereits gezeigt (Interner Link: Abbildung 4). Doch worauf genau sind diese schichtspezifischen Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung zurückzuführen?
In Anlehnung an den Soziologen Raymond Boudon (1974) kann zwischen zwei Faktoren unterschieden werden, die beim Übergang zwischen Bildungsinstitutionen zusammenspielen:
Primäre Herkunftseffekte: Soziale Unterschiede der Bildungsbeteiligung, die auf unterschiedlichen Leistungen und Fähigkeiten der Lernenden beruhen, werden als primäre Herkunftseffekte bezeichnet. Sie beziehen sich auf den Erwerb der für einen bestimmten Bildungsübergang vorausgesetzten Kompetenzen, die sich beispielsweise in den erreichten Schulnoten ausdrücken. Kompetenzunterschiede zugunsten von Kindern aus privilegierten sozialen Verhältnissen kommen vor allem dadurch zustande, dass sie in der Familie und Nachbarschaft, aber auch in der von ihnen besuchten Schule häufig ein lernförderliches Anregungs- und Unterstützungsmilieu vorfinden. Über die Frage, ob Unterschiede in der Bildungsbeteiligung, die daraus resultieren, dass Kinder je nach Elternhaus ungleiche Entwicklungsbedingungen vorfinden, "gerecht" sind, lässt sich streiten – müsste die Schule solchen herkunftsbedingten Nachteilen nicht stärker Rechnung tragen? Sie etwa durch gezielte Förderprogramme zu kompensieren versuchen oder sie gar in der Leistungsbewertung berücksichtigen? Festzuhalten bleibt, dass die genannten Unterschiede in der Bildungsbeteiligung durchaus mit gängigen Vorstellungen der leistungsbezogenen Verteilungsgerechtigkeit vereinbar sind, wie sie sich gerade auch in den schulrechtlichen Bestimmungen bezüglich des Zugangs zu den einzelnen Bildungsgängen widerspiegeln: Ausschlaggebend dafür, welcher Bildungsgang einem Schüler oder einer Schülerin nach der Grundschule offen steht, sind die bisherigen Schulleistungen, allen voran die in einzelnen Fächern erreichten Noten.
Sekundäre Herkunftseffekte: Darüber hinaus entstehen aber beim Übergang in die weiterführenden Schulen neue und zusätzliche Unterschiede der Bildungsbeteiligung, die nicht auf Begabung, Kompetenzen und Schulnoten zurückzuführen sind, sondern darauf, dass sich je nach Sozialschicht das Entscheidungsverhalten der Eltern hinsichtlich der Wahl der weiterführenden Schule unterscheidet. Soziale Unterschiede der Bildungsbeteiligung, die durch Unterschiede im Entscheidungsverhalten von Eltern bedingt sind, werden als sekundäre Herkunftseffekte bezeichnet. Sie kommen zustande, weil Eltern bei der Bildungsgangwahl in Abhängigkeit von der eigenen sozialen Schicht unterschiedliche Kosten-Nutzen-Abwägungen treffen. Demnach wägen Eltern bei der Übergangsentscheidung in die Sekundarstufe I ab, welcher Nutzen sich aus dem Besuch einer bestimmten Schulform ergibt (im Fall des Gymnasiums z. B. viele Anschlussmöglichkeiten und ein hohes soziales Prestige) und welche Kosten damit verbunden sind (im Fall des Gymnasiums z. B. eine längere finanzielle Abhängigkeit des Kindes wegen der längeren Dauer des Bildungsgangs), um dann für ihr Kind diejenige Schulform zu wählen, die den größten Nutzen verspricht, deren Kosten sie tragen können und die eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit auf Erfolg erwarten lässt. In diese Erwägungen fließt insbesondere auch das Motiv des sozialen Statuserhalts ein, wonach Eltern für ihre Kinder in der Regel mindestens das Bildungsniveau anstreben, über das sie selbst verfügen. Die hieraus resultierenden sozialen Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung verletzen in besonderer Weise das Gerechtigkeitsempfinden. Denn anders als die aus primären Herkunftseffekten resultierenden Ungleichheiten sind sie nicht das Ergebnis von Leistungsunterschieden zwischen den Schülerinnen und Schülern.
In Erweiterung des Boudonschen Modells lässt sich ferner die institutionelle und rechtliche Rahmung des Bildungssystems mit berücksichtigen (vgl. Maaz et al., 2010). So wird das Übergangsverhalten nicht nur durch die Schulleistungen und das aktive Entscheidungsverhalten der Eltern bestimmt, sondern auch durch Merkmale des Bildungssystems selbst. So zeigt sich z. B., dass das Ausmaß sozialer Ungleichheiten in der Sekundarschulbeteiligung auch davon abhängt, ob die Schullaufbahnempfehlung (wie z. B. in Bayern) einen bindenden oder (wie z. B. in Berlin) einen nicht-bindenden Charakter hat. Dabei tritt der Einfluss der sozialen Herkunft in der Bildungsbeteiligung stärker zutage, wenn die Übergangsentscheidung den Eltern überantwortet wird. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber mit Blick auf die Wirkung sekundärer Herkunftseffekte ganz logisch. Denn unter diesen Bedingungen können sozial begünstigte Familien ihre höheren Bildungsaspirationen mehr oder weniger unabhängig von Leistungsstand des Kindes realisieren, während eine feste Notenbindung diesbezüglich klare Grenzen setzt.
Direkte und indirekte Wirkung von Herkunftseffekten
Die primären und sekundären Effekte wirken sich sowohl direkt als auch indirekt auf die Übergangsentscheidung aus (siehe dazu Abb. B, vgl. Dumont, Neumann, Becker, Maaz & Baumert, 2013, S: 134 ff.; sowie Maaz & Nagy, 2009, S. 162).
Der direkte Effekt ist die unmittelbare Wirkung eines Merkmals auf eine abhängige (zu erklärende) Variable. Dies betrifft Merkmale der familiären Herkunft ebenso wie Leistungsmerkmale. Indirekte Effekte auf einen Übergang wirken "versteckt". So kann zum Beispiel die familiäre Herkunft einen direkten Effekt auf die erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler haben, gemessen etwa anhand eines Kompetenztests wie PISA. Diese Leistungen wiederum wirken direkt auf die Noten. Als indirekten Effekt der familiären Herkunft auf die Noten würde man Unterschiede in den Leistungen (die wiederum auf die Noten wirken) bezeichnen, die auf die familiäre Herkunft zurückzuführen sind (vgl. Abb.).
Eine Vielzahl empirischer Arbeiten hat die Bedeutsamkeit des Herkunftseffektes beim Übergang am Ende der Grundschule untersucht und nachgewiesen (vgl. Maaz & Nagy, 2009). Zusammenfassend kann die aktuelle Forschungslage so resümiert werden, dass Kinder aus sozial weniger begünstigten Familien im Vergleich zu Kindern aus sozial privilegierten Elternhäusern
über niedrigere schulische Kompetenzen verfügen,
bei gleichen Leistungen von den Lehrkräften schlechter bewertet werden,
auch bei gleichen Schulleistungen und Noten geringere Chancen auf den Erhalt einer Gymnasialempfehlung haben und
bei gleichen Leistungen seltener auf ein Gymnasium wechseln (Dumont, Maaz, Neumann & Becker, 2014; Maaz & Nagy, 2009).
Prof. Dr. Kai Maaz, geb. 1972 in Rathenow, ist Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und dort Direktor der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens". Zugleich ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssystem und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Schwerpunkte seiner Forschung sind u.a. soziale Disparitäten des Bildungserwerbs über den Lebens- und Bildungsverlauf, Bildungsmonitoring und -steuerung, Evaluation von Schulstrukturen, Bildungsprogrammen und Schulen sowie Schulentwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Transformationsprozessen im Bildungssystem.
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