Eva Espermüller-Jug: Die Deutsche Schulakademie (siehe Infobox), der Sie beide angehören, will bildungspolitisch relevante Themen profilieren und gute schulische Praxis fördern, was heißt das für die Leistungsbeurteilung?
Hans Anand Pant: Die Leistungsbeurteilung in der klassischen Form von Ziffernnoten ist so allgegenwärtig im Schulalltag, dass man ruhig einmal nach dem tieferen Sinn fragen sollte. Es treten dann Gründe hervor, die erklären, warum wir Noten kaum infrage stellen. Der eine Denkansatz geht dahin, dass Schulen gegenüber der Schulaufsicht oder auch der Bildungspolitik einen "stillen Pakt" geschlossen haben: Lasst uns doch in Ruhe mit Reformen, so lange wir euch die Noten liefern und damit eine der zentralen Aufgaben von Schule erfüllen, nämlich die Berechtigungen zur weiteren Bildung zu liefern. Man beschreibt damit ein "lose" oder gar nicht gekoppeltes System zwischen der Schule als eigener Handlungseinheit und den sie umgebenden Strukturen wie Bildungsverwaltung und Bildungspolitik. Die Noten nehmen da eine Art Abwehrfunktion ein. Man könnte auch sagen, Schulen gehen – meistens unreflektiert – einen Deal ein: Wenn wir euch Noten liefern, lasst ihr uns in Ruhe arbeiten, so wie wir das für richtig halten. Ein anderer Aspekt ist, dass es bisher zu wenig gute Praxis gibt. Deshalb sind die Schulpreisschulen, die ja in nicht unerheblicher Zahl die Notengebung bis einschließlich der achten Jahrgangsstufe abgeschafft haben, so wichtig. Deren Praxis sichtbar zu machen und zu fördern, dafür tritt die Schulakademie ein.
QuellentextDie Deutsche Schulakademie
"Die Deutsche Schulakademie ist eine bundesweit aktive und unabhängige Institution für Schulentwicklung und Lehrerfortbildung. Sie wendet sich mit ihren Angeboten an alle Schulen in Deutschland sowie an Ministerien, Lehrerfortbildungsinstitute, Kommunen und private Schulträger. Die Akademie stellt Materialien über gute Schulpraxis zur Verfügung, lädt zum Erfahrungsaustausch ein, berät zu Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung und organisiert innovative Fortbildungsmaßnahmen wie auch umfangreiche Schulentwicklungsprogramme.
Die Programme der Akademie basieren auf dem Wissen der Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises, deren Vertreter ihre Erfahrungen zur Weiterentwicklung unseres Schul- und Bildungssystems bereitstellen. Ziel ist es, die Modelle ausgezeichneter Schulpraxis aus rund zehn Jahren Deutscher Schulpreis in die Breite der bundesdeutschen Schullandschaft zu tragen. Dazu pflegt, koordiniert und moderiert die Deutsche Schulakademie ein Netzwerk reformerfahrener und engagierter Schulleiter und Lehrer. Mit Unterstützung von Wissenschaftlern und weiteren Experten werden erfolgreiche Konzepte aus der Praxis aufbereitet und praxisnahe Fortbildungsangebote organisiert. Im Mittelpunkt stehen dabei Themen, die für die Weiterentwicklung des Bildungs- und Schulwesens von entscheidender Bedeutung sind, wie zum Beispiel der Umgang mit Heterogenität. So bietet sie Schulen die Möglichkeit, im Austausch von und mit exzellenten Schulen zu lernen. Dieser konsequente Praxisansatz ist einzigartig in Deutschland."
Quelle: Externer Link: www.deutsche-schulakademie.de/akademie/profil/
Noten scheinen erwiesenermaßen kein geeignetes Verfahren zur Kompetenzbeurteilung zu sein. Weshalb sind Noten im schulischen Alltag dennoch so bedeutsam?
Hans Anand Pant: Noten sind eine Art "Bad Bank" im Schulsystem. Wir wissen genau, sie produzieren sehr viel psychisches Leid, Angst und Ungerechtigkeit, werden aber als systemrelevant angesehen, so dass man sie nicht einfach abschaffen kann. Die Systemrelevanz liegt darin, dass sie scheinbar das einzige Instrument sind, das meritokratische Versprechen zu gewährleisten. Das meint das Versprechen, dass es jeder in unserer Gesellschaft durch Leistung zu Ansehen, Geld, Macht und Glück bringen kann. Die Noten sind der kleinste, aber objektivierbare oder sichtbare Code, in dem diese Leistungslogik sich realisieren kann.
Wie können wir Lehrer*innen darin unterstützen, die Freiräume bei der Leistungsbeurteilung zu entdecken und professionell auszugestalten?
Hans Anand Pant: Schon in der Lehrer*innenausbildung müsste es ein entsprechendes Angebot an den ausbildenden Hochschulen geben, dies ist bisher zu wenig der Fall. Stattdessen werden Studierende schon früh in ein Leistungs-/Bewertungssystem "hineinsozialisiert", das auf Ziffernnoten beruht. Es geht nicht darum, dass man einfach Ziffernnoten abschafft, sondern dass man die gesamte Herangehensweise an die Feststellung von Leistungen verändert. Es ist zu unterscheiden zwischen einer Leistungsfeststellung, einer Leistungsbeurteilung und einer Leistungsbewertung. Leistung feststellen kann ich vielfältig, daraus folgt noch nichts für Schüler oder Schülerinnen. Beurteilen heißt, ich bilde mir ein Urteil über das, was das Kind kann, und bewerten heißt, auch den kommunikativen Aspekt dazu zu nehmen, d. h. eine Beurteilung festzuschreiben und mitzuteilen. Für die Leistungsfeststellung haben wir viele Instrumente. Das Problem ist nur, dass wir am Ende des Tages immer wieder sagen: Bei der Bewertung verlassen wir uns aber auf die Ziffern, beziehen uns auf den Systemzweck der Schule, zu zertifizieren bzw. Übergangsentscheidungen zu rechtfertigen. Ich glaube, was wir als Akademie machen können, ist gute Modelle anzubieten. Unsere Werkstatt "Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung", die Silvia-Iris Beutel entwickelt hat, ist ein schönes Beispiel dafür, das Hamsterrad des Denkens in Ziffernnoten zu verlassen.
Was sind denn die typischen Fallstricke, auf die Lehrkräfte und Schulen achten müssen, wenn sie alternative Formen der Leistungsbeurteilung anwenden?
Silvia-Iris Beutel: Hier hilft ein Blick in die Forschungen zur Leistungsbeurteilung. Dort zeigt sich, dass die Qualität der Instrumente und Verfahren häufig entwicklungsfähig, aber auch entwicklungsbedürftig ist. Oder aber diese häufig nur in bestimmten Schulstufen angewendet und nicht aufeinander abgestimmt sind, nicht fortgesetzt werden und keinen hinreichenden Adressatenbezug haben. Hinzu kommt ein fehlendes Reflexionsangebot aufseiten der Lernenden oder keine Konsequenzen für die Förder- und Unterrichtsplanung. Ebenso zeigt sich, dass Instrumente stark auf eine zensurenorientierte und curriculare Rückmeldung hin angelegt sind, aber individuelle Prozessqualitäten wenig einfangen oder sprachlich sperrig sind: Je jünger die Kinder, desto deutlicher muss man einen narrativen Sprachgestus pflegen, der zum Dialog einlädt. Die besten Instrumente können nicht wirken, wenn sie eingewurzelt sind in eine frontale Kultur des Lernens. Eine förderliche Diagnostik vermeidet Selbstdiskriminierung, die entstehen kann, wenn zehnmal am Tag ein trauriges Gesicht angekreuzt werden muss.
Welche Rolle spielt die Schulleitung dabei?
Hans Anand Pant: Die Schulleitung ist dafür verantwortlich, welche pädagogischen Grundprinzipien in der Schule wirksam werden, und sie sollte den Verständigungsprozess im Kollegium ermöglichen: Was haben wir für einen Leistungsbegriff, was für eine Vorstellung von Gerechtigkeit? Das sind die Foren, die die Schulleitung ermöglichen kann, indem sie dem Austausch einen Wert zumisst und nicht sagt: Hauptsache ihr liefert rechtzeitig eure Noten ab und sorgt dafür, dass die entsprechenden schulrechtlichen Vorgaben erfüllt werden. Die in der Notenvergabe bei Lehrkräften angelegte Widersprüchlichkeit muss, wie Habermas es gesagt hat, "kommunikativ verflüssigt" werden, das heißt, das Thema im Kollegium besprechbar zu machen. Wir sehen das gerade an dem großen Bund-Länder-Projekt "Leistung macht Schule", wo es darum geht, Begabungsförderung in Schulen besser hinzukriegen – das geht gar nicht ohne Schulleitung und ohne Schulentwicklungsprozess –, es ist keine Aufgabe, die man beim einzelnen Lehrer oder der Lehrerin abliefern kann. Zudem führt die "Inklusion" dazu, dass wir plötzlich auch auf der Seite der Leistungsbeurteilung mit Ziffernnoten ganz schön ins Schwimmen geraten sind, weil wir einerseits den Anspruch haben, dass wir gemeinsamen Unterricht ermöglichen, aber gleichzeitig sehen: Diese sechs Ziffernnoten sind so schlecht verankert und so schwammig, dass wir damit auf keinen Fall die Leistungsbreite abdecken können, die im inklusiven Setting möglich sein sollte und ja auch gewollt ist. Es geht auch nicht ohne Kooperation: Der Kollege Dirk Richter von der Universität Potsdam und ich haben eine Untersuchung gemacht, an der repräsentativ über tausend Lehrkräfte beteiligt waren, und wir haben auch gefragt, wie oft sie sich denn regelmäßig mit der Frage auseinandersetzen, was schulweite Leistungs- und Bewertungsstandards sind. Jede fünfte Lehrkraft gab an, sie hätten sich noch nie darüber unterhalten, was eigentlich gemeinsame Bewertungsstandards seien. Und nur 33 % sagen, sie täten dies regelmäßig. Das zeigt schon, wie viel Bedarf für diese Frage noch in deutschen Schulen besteht.
Was brauchen Lehrkräfte, um im Rahmen einer Feedbackkultur eine gute Beziehung aufbauen zu können?
Silvia-Iris Beutel: Viele Schulen fragen derzeit: Was ist eine gute professionelle Beziehung und wie müssen wir diese didaktisch anbahnen und pädagogisch verantworten? Es darf keine lästige Pflicht sein, ein tägliches Gespräch mit jedem Schüler und jeder Schülerin zu führen. Das setzt voraus, dass Zeit und Rhythmus jedem Lernenden diese Aufmerksamkeit gewähren. Zu jeder guten Beziehung gehört ein Autonomieerleben. Das heißt, und dies stellt eine Erwartung an Schülerpartizipation dar, ich kann nicht nur durch eine Beziehung geführt werden, sondern sollte Gelegenheit haben, diese Beziehung mitzugestalten und dazu gehört auf Schulebene, dass ich ein Lehrerfeedback regelmäßig erteilen kann und dass natürlich meine Stimme Einfluss hat auf die künftige Unterrichtsentwicklung. Es gehören auch die Erfahrung der Lerngruppenzugehörigkeit dazu und erlebte Anerkennung. Beziehung ist das Grundfundament der Veränderung von Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung.
Soziale Gewohnheiten bei Eltern und Schüler*innen gelten als Reformbremse bei der Veränderung von Beurteilungskulturen. Wie kann eine Schule damit umgehen?
Hans Anand Pant: Die Schulleitung muss strategiefähig sein. Strategie heißt, dass ich alle wichtigen Player, und das sind die Eltern nun einmal, frühzeitig durch eine entsprechende, sich langsam steigernde Dosis von Information und Überzeugung mit ins Boot hole. Konkret bedeutet das, ich nutze Pädagogische Tage, Elterngespräche und Schulkonferenzen. Der – im wörtlichen Sinne – "Mehr-Wert" von Alternativmodellen kann Eltern so aufgezeigt werden. Das Deutsche Schulportal bietet dazu viel Anschauung. Hinzu kommt: Es gibt in jeder großen Studie – sei es PISA, sei es in den deutschen Studien des IQB – einen Fragenblock zu den Eltern, zu deren Bildungserwartungen und Bildungszielen und da sieht man immer einen Mix von materiellen und immateriellen Zielen bei den Eltern. Natürlich ist es so, dass Eltern, die ganz stark an das bestehende System glauben, sagen, die Noten sind ein ganz wichtiger Eckstein in dem ganzen Gebäude, dass mein Kind erfolgreich durch die Schulzeit kommt. Eltern, die stark auf eine solche Leistungskultur festgelegt sind, zu überzeugen, ist eine Herausforderung. Eltern wollen immer "das Beste" für ihr Kind. Das Lehrpersonal muss jedoch denken: "Ich will das Beste für alle oder möglichst viele Kinder in meiner Klasse". Da besteht eben manchmal ein Widerspruch. Von daher ist es sinnvoll, sich die professionellen Modelle von Leistungsbeurteilung anzuschauen und nicht nur das, was einzelne Eltern glauben über Noten als Bestes für ihr Kind herausholen zu können.
Gibt es in der Bildungsforschung Ergebnisse zu diesem Thema?
Hans Anand Pant: Es gibt Ergebnisse, allerdings keine, die einheitlich wären, sodass man jetzt daraus eine allgemeingültige Handlungsanweisung ableiten könnte. Deshalb muss ich sagen, die empirische Bildungsforschung hat zu dem Thema noch nicht wirklich ein "Wort zum Sonntag" beizusteuern. In den 1970er-Jahren hat der Kollege Ingenkamp, ein Diagnostiker aus der Psychologie, mit vielen Studien dargestellt, dass Ziffernnoten ungerecht sind, dass Lehrer*innen damit nicht gut beurteilen können und dass viele Fehler damit verbunden sind. Interessant ist darüber zu forschen, warum Noten trotz diesem Wissen so beharrlich in unserem System sind. Das wären Forschungen, die auch aus der Soziologie und anderen Disziplinen zu tätigen wären. Aber machen wir doch mal das Gedankenexperiment, wir würden das Berechtigungswesen für die weiterführenden Bildungsetappen völlig von Noten unabhängig machen – was würde dann passieren? Wir sehen es in manchen Ländern ja schon, unter der Oberfläche auch in Deutschland. Dann würden die Abnehmersysteme von schulischer Bildung wie Ausbildungsbetriebe und Universitäten selbst festlegen, wen sie nach welchem Mechanismus auswählen. Die wichtigen Funktionen, die Noten derzeit erfüllen, nämlich Platzierungen und Selektionen, die würden dann an die Abnehmersysteme delegiert. Das könnte zur Folge haben, dass sich Schulen plötzlich in einem ganz anderen Wettbewerb sähen, weil sie nicht mehr sagen: Wir sind diejenigen, die die Berechtigung verteilen können, sondern wir stellen nur noch sozusagen die Lernwege, das Material zur Verfügung, damit die Abnehmer am Ende sagen: Ja, das reicht uns oder das reicht uns nicht. Die Gefahr dabei wäre, dass Schulen sich in ihren Inhalten komplett an dem ausrichten, was die Abnehmersysteme vorgeben.
Noten und Leistungsbeurteilung sind der Schlüssel zum Zugang zur universitären Bildung und zu besseren Einkommensperspektiven. Welche besondere Verpflichtung für Leistungsbeurteilung und Notengebung erwächst der Schule aus diesem Auftrag?
Silvia-Iris Beutel: Dass Schule ihre Diskriminierungsmechanismen bearbeitet! Die empirische Bildungsforschung liefert uns ja seit vielen Jahren hinreichend Erkenntnisse darüber, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, damit überhaupt so etwas wie Teilhabe, Partizipation und Bildungserfolg gewährleistet werden können. Aufseiten der Leistungsbeurteilung muss die diagnostisch-kommunikative Seite betont werden, die kritikwürdige Beurteilungsrealität mit Noten aufgenommen werden. Mit dem Kriterium individuelle Leistung im 19. Jahrhundert ist ja ein Kriterium in der Schule etabliert worden, das eine emanzipatorische Funktion haben sollte, diese Liftbewegung ist bis heute eine Daueraufgabe, die hinderlichen Stufen zum Bildungsaufstieg sind bekannt.
Sind die alternativen Modelle der Leistungsbeurteilung besser geeignet, um für mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem zu sorgen?
Silvia-Iris Beutel: Im Prinzip ja, wenn diagnostisch vielfältige und abgesicherte Instrumente und Verfahren bereitstehen und professionell angewendet werden, wenn pädagogisch-kommunikative Aufgaben nicht im blinden Vertrauen an die Aussagekraft der Instrumente delegiert werden, wenn Prozessqualitäten im Lernen gesehen werden, wenn Förderung auf Dauer gestellt und wirkungspraktisch angewendet wird, aber auch Tests oder standardisierte Leistungsüberprüfungen immer wieder herangezogen werden, um subjektive Einschätzungen zu prüfen. Leistung zu sehen und ein Feedback zu bekommen, sind Grundbedürfnisse Heranwachsender, sie werden nur zunichte gemacht mit einem unterkomplexen System wie Ziffernnoten. Ich bin allerdings der Meinung, diese Zusammenhänge müssten wir empirisch viel mehr aufklären.
Schule in Deutschland bildet soziale Ungerechtigkeit stärker ab als in anderen Demokratien und vermag sie auch nicht merklich zu korrigieren. Wo sehen Sie die zentralen Ursachen dafür?
Hans Anand Pant: Da sitzt man zum Teil einer massenmedial verbreiteten Fehlwahrnehmung auf. Wenn man sich die Ergebnisse von Studien wie PISA im Lauf der Jahrzehnte mal anschaut, dann stellt man fest: Es hat sich in Deutschland etwas getan. Die soziale Kopplung ist nämlich merklich geringer geworden: Während im Jahr 2000 nur elf Prozent der Kinder von Arbeitern oder angelernten Arbeitern auf ein Gymnasium gingen, sind es inzwischen mehr als 20 Prozent. Wo sich nichts getan hat, ist im Übrigen in der Leistungsspitze. Das heißt immer noch nicht, dass das System gerecht ist. Das Interessante ist ja, welchen Begriff von Bildungsgerechtigkeit man zugrunde legt? Wollen wir wirklich so etwas wie Teilhabegerechtigkeit? Frau Beutel hat es eben angesprochen, dann müssten wir dafür sorgen, dass alle Kinder so ausgebildet werden, dass sie tatsächlich und nachweislich an der Gesellschaft nach ihrer Schulzeit teilhaben können. Wie diese "Mindeststandards" wirklich inhaltlich aussehen, wissen wir empirisch nicht.
Geben die flächendeckenden, implementierten Bildungsstandards eine Grundlage für eine gerechte, differenzierte auch alternativ zu Noten wirkende Form der Leistungsbeurteilung ab?
Hans Anand Pant: Das wäre im günstigsten Falle so gewesen. Das heißt, wenn tatsächlich Lehrer*innen ein positives Verhältnis zu der Vorstellung hätten, sie haben Kriterien des Lernerfolgs, an denen sie ihr eigenes professionelles Handeln ausrichten. Das passiert ja nicht wirklich, solange auch ein anderes alternatives und weitgehend unverbundenes Notensystem das eigentlich Entscheidende für die Erfolgsaussichten der Kinder bleibt. Wir wissen nicht, bedeutet Note "eins" jetzt eigentlich so etwas wie "Optimalstandard" in der Diktion der Bildungsstandards oder bedeutet eine "vier" eigentlich, dass der Mindeststandard erreicht ist. Das steht völlig unverbunden nebeneinander. Von daher haben wir immer noch einen "Clash of Cultures" zwischen solchen Leistungsfeststellungen, die an Standards und inhaltlichen Kriterien orientiert sind, und solchen, die das eben nicht sind, wie die Notengebung.
Wie können veränderungsbereite Schulen pädagogisch fachlich und auch wissenschaftlich begleitet werden?
Silvia-Iris Beutel: In der Werkstatt "Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung" erstellen wir Organigramme, um darauf aufmerksam zu machen, dass eine professionelle und nicht nur eine personelle Zuständigkeit an Schulen von Nöten ist, damit man überhaupt Veränderungen erwirken kann. Dann gehört dazu die Vergewisserung zum "State-of-the-Art" der Forschung einerseits und von "Best-Practice" andererseits, wie wir das ja im DSP und in der Arbeit der DSA berücksichtigen. Zudem Langzeitbegleitung der Schulen in Entwicklung und Implementation. Kurze Interventionen machen wenig Sinn, wir müssen mit Bildungspartnern überlegen, wie wir langfristig solche Projekte begleiten können. Auch in der wissenschaftlichen Begleitforschung müssen Schulen einen Erkenntnisgewinn finden. Und last not least ermutige ich Schulen, Widerstand nicht zu unterdrücken, sondern ihn als Denkoption zu nutzen, denn kollegialer Widerstand macht häufig Hindernisse im System deutlich und die müssen in der Tat beseitigt werden, damit überhaupt ein Reformengagement entstehen kann.
Dieses Interview erschien in einer längeren Fassung zuerst in: Gemeinsam Lernen – Zeitschrift für Schule, Pädagogik und Gesellschaft, Ausgabe 3/2019, S. 8 – 15. Frankfurt/M.: Debus Pädagogik Verlag.