Zwar ist die 2006 von der UNO verabschiedete Behindertenrechtskonvention in Deutschland erst am 23.3.2009 in Kraft getreten. Aber die Idee des gleichen Rechts auf Bildung für alle ist viel älter. Sie ist Bestandteil verschiedener internationaler Konventionen seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und noch einmal 1994 ausdrücklich in der Salamanca-Erklärung auf der UNESCO-Konferenz "Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität" bekräftigt worden.
Eigentlich gab es also einen langen zeitlichen Vorlauf für die notwendigerweise tiefgreifenden Veränderungen im Bildungssystem, die sich nicht kurzfristig umsetzen lassen. Andere Länder wie Italien oder die skandinavischen Staaten haben deshalb die Entwicklung ihrer Bildungssysteme schon vor der Jahrtausendwende auf das Ziel "Inklusion" hin orientiert. Die deutschen Bundesländer haben diese Chance versäumt. Deshalb hinken sie schon strukturell deutlich hinter anderen Staaten her oder schaffen es nicht, die eigenen Vorgaben so umzusetzen, dass Inklusion im Alltag für Lehrer*innen und Schüler*innen förderlich wirkt – bestimmt durch ein umfassendes Verständnis von Inklusion, die Lernräume für alle Kinder eröffnet und sie bei ihrem individuell nächsten Schritt unterstützt (vgl. Eichholz 2018). Insofern stellt sich auch die Frage: Hat diese Reform wirklich schon richtig begonnen? Für die vorrangig diskutierte Aufnahme behinderter Kinder in Regelschulen zeigen die Statistiken Dreierlei (vgl. Klemm 2015; 2018):
Die Fortschritte hin zu einer inklusiven Schule unterscheiden sich dramatisch von Bundesland zu Bundesland.
Der Grad der Inklusion nimmt mit dem Alter der betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen deutlich ab.
Während auf der einen Seite immer mehr Kinder mit dem Etikett "sonderpädagogischer Förderbedarf" in Regelschulen unterrichtet werden, bleibt ihr Anteil in separaten Einrichtungen fast unverändert.
Angesichts dieser aktuell schwierigen Situation stellen sich für einen Rückblick drei Fragen:
Was hätte geschehen müssen?
Was ist tatsächlich passiert?
Wie kann es trotzdem weitergehen?
Was hätte geschehen müssen?
Versteht man Inklusion umfassend als Anspruch aller Kinder und Jugendlichen, in der Schule entsprechend ihren besonderen Bedürfnissen gefördert zu werden (Prengel 1995), müssen sowohl die Strukturen (keine Selektion nach Klasse 4, keine vergleichende Leistungsbeurteilung) als auch die Gleichschritt-Didaktik geöffnet werden für individuelle Lernwege (vgl. den "Standpunkt Inklusive Schule" des Grundschulverbands 2018). Eine solche Schul- und Unterrichtsentwicklung hätte anknüpfen können an den Erfahrungen der erfolgreichen Grundschulgeschichte, in deren Verlauf die Integration von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten, die Koedukation von Mädchen und Jungen, die Überwindung der Konfessionstrennung und der gemeinsame Unterricht von Behinderten und Nicht-Behinderten ausgebaut worden ist. Dabei wurden seit der Reformpädagogik strukturelle Veränderungen durch didaktisch-methodische Konzepte unterfüttert, auch wenn sie selbst heute den Alltag noch immer nicht bestimmen. Eine Vielzahl von gelungenen Beispielen (vgl. etwa die mit dem Jakob-Muth-Preis oder dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Schulen und die Schulverbünde Archiv der Zukunft sowie Blick über den Zaun) hat gezeigt, was auch andernorts möglich gewesen wäre – und kann zumindest für die weitere Entwicklung als Modell dienen.
Um heute ein inklusives System zu haben, dessen Struktur, dessen Pädagogik und dessen Ausstattung dem hohen Anspruch der Inklusion gerecht wird, hätte man einen 10- oder gar 20-Jahres-Plan mit klarem Ziel und verbindlichen Meilensteinen für realistische Zwischenschritte gebraucht. Ein solcher gradueller, aber konsequent durchgeführter Ausbau fand aber weder bei den Verfechter*innen der Inklusion noch bei den Bedenkenträger*innen Unterstützung.
Was ist tatsächlich passiert?
Das erste Problem war die verbreitete Reduktion des Anspruchs inklusiver Bildung auf die Integration Behinderter in eine strukturell und pädagogisch unveränderte Regelschule. So kritisierte Aaron Benavot, Direktor des Weltbildungsberichts bei dessen Vorstellung am 13. September 2016 in Bonn, der international gebräuchliche Begriff von "inclusiveness" werde hierzulande unter Einschränkung des Begriffskonzepts allein auf die Thematik von Menschen mit Behinderungen angewandt. Deutschland müsse dringend Anstrengungen unternehmen, um die Implikationen des international gebräuchlichen – umfassenden – Verständnisses von Inklusion zu erreichen (zit. nach Imhäuser 2016).
Die zeitliche Bindung der Bildungsstandards und Kompetenztests an Jahrgangsstufen statt einer Orientierung der Anforderungen an den individuellen Voraussetzungen und einer Messung des Lernerfolgs an den individuellen Fortschritten verhindern ein Aufbrechen des gleichschrittigen Unterrichts. Flexible Eingangsphasen oder gar Abitur im eigenen Takt sind nach wie vor Ausnahmen – wie auch individuell absolvierbare Zertifikate, z. B. "Führerscheine" zum 1 x 1, zu Rechtschreibstrategien oder Wortschatzstufen im Fremdsprachenunterricht immer noch nicht die Regel darstellen.
Als zweites Problem erweist sich die Delegation des Inklusionsanspruchs an Sonderpädagog*innen. Für Inklusion liegt die entscheidende Differenz aber nicht zwischen Sonder- und allgemeiner Pädagogik, sondern zwischen Gleichschritt-Didaktik und offenem Unterricht. Die inklusive Schule braucht sowohl "besondere Allgemeinpädagogen" als auch "allgemeine Sonderpädagogen" (Wocken 2005) mit einer großen Schnittmenge an Haltungen, Kompetenzen und gemeinsamer Verantwortung für alle Kinder (Franzkowiak 2011). Die Förderbedürfnisse einzelner Kinder sind nicht durch eine global definierte "Sonder"pädagogik zu befriedigen, sondern sehr viel spezifischer. Die eine Schülerin braucht Übersetzungshilfe: das kann die Gebärdensprache, Russisch oder Arabisch sein. Der andere braucht zusätzliche (Schrift-)Sprachförderung, aber nicht eine Sprachtherapeutin. Und auch Sonderpädagog*innen können oft weniger helfen als eine grundständig ausgebildete Lehrerin, die sich mit Lese-/ Rechtschreibschwierigkeiten oder in Deutsch als Zweitsprache auskennt. Auch die Vielfalt körperlicher und geistiger Behinderungen bzw. ihrer individuellen Kombination zeigt, dass selbst diese Kategorien zu global sind, um die auf Lehrer*innen-Seite jeweils notwendige Förderkompetenz zu bestimmen. Für die meisten Lehrer*innen sind zudem nicht die Lernschwierigkeiten von einzelnen Kindern das zentrale Problem, sondern deren Verhaltensweisen, die sie bzw. die Lerngruppe überfordern.
Das dritte Problem ist die Bindung von zusätzlichen Ressourcen an individuell diagnostizierte Schwächen. Aktuell wird der Anspruch auf Ressourcen allerdings schnell kleingerechnet oder ist unpräzise, weil zu pauschal. Die Zuweisung individueller Stunden oder Assistenzen wiederum führt oft nur zur punktuellen Addition von Kompetenzen statt zur Entwicklung des Kollegiums zu einem multiprofessionellen Team. Die Ansprüche an die Zusammenarbeit dürfen allerdings nicht überhöht werden: Mehrperspektivität ist realistischer als Multidisziplinarität – und schon sehr hilfreich, um einen neuen Blick auf alte Probleme und Handlungsroutinen zu gewinnen. Die Parallelexistenz von Sonder- oder Förderschulen kostet Ressourcen, die fehlen, um das Regelschulsystem zu stärken, indem es nach Schülerzahl bemessene Grundzuweisungen erhält und darüber hinaus Zugang zu speziellen Ressourcen für seltene Sonderbedürfnisse bekommt, z. B. bei spezifischen Sinnesbeeinträchtigungen. Auch Teamarbeit braucht Zeit – in doppelter Hinsicht: Entwicklungszeit und Planungszeit. Für beides sind zueinander kompatible Arbeitszeitmodelle der beteiligten Professionen und zusätzliche zeitliche und finanzielle Ressourcen – z. B. für Supervision, notwendig.
Bleibt ein viertes, grundsätzliches Problem: die Vereinfachungen in der medialen Diskussion. Situativ auftretende Schwierigkeiten in Einrichtungen, die Flüchtlinge oder behinderte Kinder aufnehmen, werden zu grundsätzlichen Hürden der Inklusion verallgemeinert. Ihnen werden Einzelfälle gelungener sonderpädagogischer Förderung gegenübergestellt, ohne sie in die vielfach dokumentierten Probleme separater Schulbildung einzuordnen. Nicht minder irreführend sind Erfolgsgeschichten inklusiven Unterrichts, die ausblenden, vor welchen Schwierigkeiten er andernorts durch unzureichende Ausstattung, nicht verlässliche Besetzung mit Fachkräften oder unausgewogene Zusammensetzung der Lerngruppe steht.
Wie es trotz der Hindernisse weitergehen kann
Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre zeigen Zweierlei: Es macht keinen Sinn, die Aufnahme von Kindern mit wenig ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten in ein Gymnasium zu fordern (vgl. den Fall Henry in Baden-Württemberg oder den Streit um das Gymnasium Horn in Bremen), wenn gleichzeitig weiter entwickelte Kinder auf eine Haupt- statt Realschule oder auf eine Sekundar-, Ober- bzw. Stadteilschule statt auf ein Gymnasium müssen. Die Einengung der Inklusionsdiskussion auf die Integration von Kindern mit besonders starkem Förderbedarf führt in Widersprüche. Inklusion ist nur möglich, wenn die selektive Struktur des Schulsystems grundsätzlich infrage gestellt wird.
Ebenso wenig Erfolg verspricht eine bloß organisatorische Veränderung der Schulstruktur. Wenn Haupt- und Realschule zusammengefasst oder mit Gymnasien zu Gesamtschulen entwickelt werden, ohne dass sich der Unterricht für die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder öffnet, dann werden viele von ihnen unter- oder überfordert. Wir brauchen deshalb ein verbindliches Fortbildungsprogramm, das unterrichtsbegleitend angelegt ist und auch den Lehrer*innen ermöglicht, ihre jeweils nächsten Schritte hin zu einem individualisierenden Unterricht zu gehen (vgl. Groeben/ Kaiser 2012) – und die personellen und zeitlichen Ressourcen in den Schulen, die einen solchen veränderten Unterricht attraktiv und realisierbar erscheinen lassen.
Die Bildungspolitik wird nicht umhinkommen nachzuholen, was vor und nach der Jahrtausendwende versäumt wurde: eine langfristige Reformplanung mit realistischen Zwischenschritten. Diese hat zwei Gegner: Diejenigen, die an einem gegliederten Schulsystem um jeden Preis festhalten, und diejenigen, für die Zwischenschritte Verrat an der Idee der Inklusion bedeuten. Hinzu kommen die Probleme, die sich aus den steigenden Schülerzahlen und dem wachsenden Lehrermangel ergeben: Eine durchgängige Doppelbesetzung zu fordern, wenn schon die verlässliche Versorgung mit einer Lehrkraft nicht gelingt, ist aktuell Utopie. Perspektivisch könnte deshalb für die Entwicklung der inklusiven Schule – analog zum Ganztagsschul-Programm – ein stärkeres Engagement des Bundes notwendig sein (Merz-Atalik 2018).
Die wohnortnahe "Schule für alle" muss das Ziel sein. Sie lässt sich aber heute qualitativ angemessen noch nicht flächendeckend anbieten. Auf dem Weg dahin ist allerdings so viel gemeinsamer Unterricht wie möglich zu gewährleisten – im Übergang z. B. durch inklusive Schwerpunktschulen, auch wenn sie für einige Schüler*innen längere Schulwege nötig machen. Diese – zumindest integrativen – Einrichtungen müssten nicht nur dafür besonders ausgestattet sein, sondern auch für den Auftrag, ihnen zugeordnete "Satellitenschulen" auf ihrem Weg zur Inklusion zu unterstützen. Erfolgreich wird das aber nur sein, wenn die Entwicklung über die Schule hinaus gedacht ist und das soziale Umfeld einbezieht (Montag Stiftung 2018).
Genauso wie ein gemeinsamer Unterricht mehr verlangt, als Kinder mit besonderen Belastungen (gleich welcher Art) in den traditionellen Regelunterricht zu "integrieren", kann sich auch die Entwicklung ganztägiger Bildungseinrichtungen nicht darin erschöpfen, der Halbtagsschule sozial- und freizeitpädagogische Elemente hinzuzufügen (Imhäuser/Köster-Ehling 2017) – für die zudem vielerorts kaum zusätzliche Räumlichkeiten vorhanden sind und deren Personal fachlich bzw. pädagogisch oft nicht zureichend ausgebildet und mit dem Kollegium der Schule nicht vernetzt ist.
Konflikte entstehen aber auch aus den unterschiedlichen Vorstellungen von Pädagog*innen und Eltern. Erstere fordern meist einen rhythmisierten Wechsel von Arbeits- und Erholungsphasen, von individuellen und gemeinsamen Aktivitäten, wie er nur im gebundenen Ganztag möglich ist. Viele Eltern dagegen wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und ihnen eigene Angebote machen (und können dies auch …). Um die pädagogische Qualität der inklusiven Ganztagsschule zu sichern und diese damit für alle attraktiv zu machen, brauchen wir deshalb einen Stufenplan für ihren Ausbau, der sich zunächst auf Schulen in schwieriger Lage konzentriert und der auf dem Weg zur gebundenen Ganztagsschule auch die offene Form oder eine Beschränkung auf zwei, drei Tage pro Woche als Zwischenschritte zulässt.