Im 19. Jahrhundert erlebt Deutschland einen bildungspolitischen Boom. War Bildung bisher vor allem Sache der Kirchen gewesen, tritt jetzt der Staat auf den Plan und macht sich die Entwicklung des Bildungswesens zur Aufgabe. Eine handlungsfähige Bildungsverwaltung entsteht. Lehrkräfte werden professionell ausgebildet. An die Stelle variabler Lerninhalte treten verbindliche Lehrpläne. Studieren darf nur noch, wer das Abitur vorweisen kann. Bildungsabschlüsse – anfangs nur Voraussetzung für den Zugang zum Staatsdienst – entscheiden zunehmend über den Platz des Einzelnen in der beruflichen und gesellschaftlichen Hierarchie. Aus einem Wirrwarr von unverbundenen höheren und niederen Schulen, Universitäten, Fach- und Gewerbeschulen entsteht bis zum Ende des Jahrhunderts ein zusammenhängendes System, das in seinen Grundzügen bis in die Gegenwart Bestand hat.
Doch nicht nur das Bildungssystem, auch die Bildungspolitik erhält im Kaiserreich ihre entscheidende Prägung. Es beginnt das Zeitalter der Massenpolitik. Parteien, Verbände und Interessengruppen melden sich lautstark zu Wort. Das Bildungswesen gerät ins Spannungsfeld gegensätzlicher gesellschaftlicher Interessen. Durchlässigkeit, Einheitsschule, Akademisierungswahn – viele der heutigen Konfliktlinien und Streitthemen haben eine lange Geschichte. Der Blick in die Vergangenheit hilft die Gegenwart besser zu verstehen.