Inwiefern ist die Bildung von Kleinkindern etwas fundamental Anderes als das, was man sich landläufig unter schulischer Bildung vorstellt? Und was bedeutet das für den Beruf der Erzieherin und des Erziehers?
Dagmar Kasüschke: Kinder sind anders als Erwachsene. Sie sind Menschen in Entwicklung. Wenn Kinder geboren werden, ist die Welt für sie fremd. In jeder Lebensphase stellen sich ihnen andere und neue Entwicklungsaufgaben, aber in der Regel sind sie mit allen Potenzialen ausgestattet, diese zu bewältigen. Alters- und entwicklungsspezifisch nehmen Kinder die Welt anders wahr, sie denken und handeln anders und für Erwachsene manchmal unverständlich.
Darauf muss sich die Bildung von Kleinkindern einstellen. Wenn ein Kind mit drei Jahren in den Kindergarten kommt, steht es vor mehreren Herausforderungen: Es ist für eine längere Zeit von seinen Eltern getrennt, muss Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufbauen, sich in eine Spiel- und Lerngemeinschaft einfügen. Das Kind lernt noch ganzheitlich, das heißt, es lernt mit allen Sinnen. Der ganze Körper ist beteiligt. Man kann dem Denken des Kindes regelrecht zuschauen. Ein kleines Kind kann sehr sprunghaft in seiner Aufmerksamkeit sein. Es hat vielleicht wenig Geduld und will alles sofort wissen. Versteht es etwas nicht, wendet es sich nach erfolglosen Versuchen Neuem zu. Wenn man Kinder lässt, untersuchen sie alles. Wissbegierde und Lernmotivation sind quasi mit in die Wiege gelegt. Was Kinder brauchen, ist eine förderliche Umgebung, das heißt zum Beispiel anregende Spielmaterialien, freie Spielmöglichkeiten mit gleichaltrigen, aber auch jüngeren oder älteren Kindern und aufmerksame Erwachsene, die für Fragen bereitstehen und sich auf die Gedanken der Kinder einlassen.
Die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte ist es daher, das Kind in seiner Neugierde und Weltoffenheit zu unterstützen. Das Kind sollte die Möglichkeit haben, intensiv und lange mit anderen Kindern zu spielen. Dabei lernt es Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer. Durch geeignete (Spiel-) Materialien wie Bauklötze oder kreative Angebote wie Rollenspiele, Bauspiele, Malen, Werken und freies Experimentieren können die Neugierde und Entdeckerfreude des Kindes gefördert werden. Es wird so weiter motiviert und hat Freude am Lernen. Durch die Übernahme von kleinen Aufgaben und Verantwortungen im Alltag lernt es soziale Fähigkeiten. Und letztendlich lernt es durch die Teilnahme am Gruppenalltag und einen regelmäßigen Tagesablauf zunehmend, sich selbst zu organisieren. Das sind alles wichtige Voraussetzungen für die Schule. Laut Ludwig Duncker, einem Grundschulwissenschaftler, soll das Kind während der Grundschulzeit vom spielerischen Lernen zum systematisch-methodischen Lernen, vom Lernen mit allen Sinnen zum abstrakten Lernen, vom selbsttätigen Lernen zum angeleiteten Lernen geführt werden. Sowohl in der Schule als auch im Kindergarten ist die Aufgabe der pädagogischen Fachkraft, die Kinder in ihren spezifischen Entwicklungsaufgaben zu unterstützen, darin liegt die Gemeinsamkeit. Der Unterschied liegt in der inhaltlichen und methodischen Herangehensweise, die von der Alters- und Entwicklungsphase bestimmt wird.
Inwiefern muss dabei zwischen der Bildung von unter Dreijährigen und über Dreijährigen unterschieden werden, wie es häufig mit der Unterscheidung vom Krippen- und Kitabereich bzw. den getrennten Gruppen der "Kleinen" und der "Großen" in der Praxis geschieht?
Dagmar Kasüschke: Hier kann ich nur an das bisher Gesagte anknüpfen. Viele Kinder kommen heute bereits früher in eine Einrichtung als noch vor 20 Jahren und bleiben pro Tag länger. Wenn ein Kind schon im ersten Lebensjahr eine Ganztagsbetreuung besucht, dann macht es hier Erfahrungen, die es früher ausschließlich in der Familie gesammelt hat. Es lernt hier laufen und sprechen, es lernt viel früher den Umgang mit mehreren anderen Kindern, es lernt andere Erwachsene als Bezugspersonen zu akzeptieren. Bildung ist in diesem Alter noch viel stärker körpergebunden als bei einem Kindergartenkind. Es gilt, eigene und andere Bedürfnisse wahrzunehmen, Bedürfnisse wie Hunger und Durst, Geborgenheit, Schlaf und Ruhe, Vertrauen zu entwickeln und die Welt zu entdecken. Die pädagogischen Fachkräfte müssen noch stärker Beziehungspartnerin bzw. -partner sein. Deshalb benötigt man hier mehr Fachkräfte für weniger Kinder. Die Fachkräfte müssen viel intensiver emotional und körperlich ansprechbar sein, liebevolle und warme Zuwendung geben. Sie müssen alle Bildungsbereiche erst noch anbahnen, wie zum Beispiel bei der Sprache, bei den körperlichen Erfahrungen, in der Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmung wie Hören, Schmecken, Riechen und Tasten usw. Sie müssen den Kindern die Möglichkeit geben, vielfältige Ausdrucksformen zu erlernen wie Singen, Tanzen, Malen oder Bauen. Sie müssen das Kind viel stärker bei der Anbahnung von Kontakten mit Gleichaltrigen unterstützen und bei der Bewältigung von Konflikten. Bildung geschieht hier noch viel eher selbsttätig, nebenbei und in alltäglichen Situationen wie beim Essen, beim An- und Ausziehen oder in der Untersuchung von Gegenständen. Dabei unterscheiden Kinder nicht zwischen Spielzeug und Gegenständen des Alltags wie einem Löffel oder einem Mobiltelefon. Alles ist gleich interessant und die Aufmerksamkeit wechselt schnell. Daher sollten Spielkreise und Gruppen(bastel-)angebote für die Jüngsten eher die Ausnahme sein. Denn letztendlich müssen sie erst in unsere Welt eingeführt werden.
Ab dem dritten Lebensjahr gilt es, an diese Erfahrungen anzuknüpfen. Die Kinder haben, je älter sie werden, nicht nur andere Interessen, sondern sie entwickeln ihre Kompetenzen permanent weiter. Das, was ich als Anbahnung bei den Jüngsten bezeichnet habe, muss nun bei den Älteren ausdifferenziert und vertieft werden. Sie können schon komplexere Rollenspiele verfolgen, sich auf mehrere Kinder gleichzeitig einlassen, in größeren Gruppen spielen. Sie wollen ihre körperlichen Kräfte austesten, sie bleiben länger bei der Sache und wollen die Gesetze hinter den Dingen verstehen und fragen, warum ist das so? Während bei den jüngeren Kindern die pädagogischen Fachkräfte präsenter sein müssen, müssen sie sich bei den Älteren stärker zurücknehmen.
Sind altersgemischte Gruppen dann überhaupt gut für die Kleinsten, werde ich oft gefragt. Nun, es gibt keine empirischen Untersuchungen, die das bestätigen oder widerlegen. Entscheidend ist vielmehr, dass in altersgemischten Gruppen in der pädagogischen Arbeit viel stärker differenziert werden muss als in klassischen Krippen- oder Kindergartengruppen. Das heißt, es muss Zeiten geben, in denen man die Jüngsten und die Älteren trennt und ihren jeweiligen Entwicklungsbedürfnissen nachkommt. Die Kleinen brauchen viel häufiger Ruhephasen und kleine überschaubare Räume. Die Vorschulkinder brauchen Raum, in dem sie ihren eigenen Interessen nachgehen können und nicht immer Rücksicht auf die Kleinen nehmen müssen. Raum, in dem sie zum Beispiel mal ein Bauwerk stehen lassen können, ohne dass ein Krabbelkind es aus Neugierde gleich wieder zerstört. Raum aber auch für andere Angebote, die ihren Wissensdurst befriedigen, wie zum Beispiel an der Werkbank ein Vogelhaus zu bauen oder ein Geschichtenbuch zu "schreiben".
Fröbel, Montessori, Freinet, Reggio, Situationsansatz, offener Kindergarten, eine Mischung aus verschiedenen Ansätzen – Eltern begegnen heute bei der Kitasuche einer kaum überschaubaren Vielfalt an pädagogischen Profilen. Bei allen pädagogischen Unterschieden: Gibt es aus Sicht der Frühpädagogik gemeinsame wesentliche Merkmale einer guten und fördernden Didaktik? Worauf sollten Eltern bei der Kita-Wahl achten?
Dagmar Kasüschke: Knapp zusammengefasst? Die wichtigsten Merkmale, die sie in allen Ansätzen finden und die auch internationale Studien belegen, sind eine anregend gestaltete Lernumgebung und qualifizierte pädagogische Fachkräfte. Gut qualifizierte Fachkräfte verfügen über geeignetes Fachwissen zu kindlichen Lernprozessen, zum Beispiel darüber, was Zweijährige im Bereich der Sprache, Motorik, Gefühle usw. können und was sie überfordert. Sie haben didaktisches Wissen, Wissen also, wie Angebote, Räume und Materialien gestaltet werden, damit sie bei Kindern Lernprozesse anregen. Sie verfügen über die Kompetenz, sich dem kindlichen Sprachniveau anzupassen, Kinder zum Denken herauszufordern und nicht sofort Antworten zu liefern. Kinder zu fragen, was sie damit meinen, wenn sie etwas fragen oder sagen. Häufig glauben wir zu wissen, was Kinder wissen wollen. Wenn wir sie aber fragen, stellen wir häufig fest, dass wir falsch liegen. Pädagogische Fachkräfte verfügen über die Fähigkeit, Kinder in Konfliktsituationen und Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen.
Kitas werden heute verstärkt als Bildungseinrichtungen wahrgenommen. Insbesondere Vertreter und Vertreterinnen der Frühpädagogik warnen jedoch davor, die Kita auf die Förderung schulischer Vorläuferkompetenzen zu verengen. Was sollte ein Kind nun insgesamt am Ende der Kita-Zeit können? Worauf kommt es an und welchen Stellenwert haben dabei die sogenannten schulischen Vorläuferkompetenzen?
Dagmar Kasüschke: Gerade in den letzten Jahren hat die öffentliche Diskussion um den "Forschergeist in Windeln" und die "frühe Bildung" als die wichtigste Zeit, viele Eltern, Kitas und Grundschulen verunsichert oder zum Teil unter Druck gesetzt. Im Ergebnis glauben viele Eltern, ihre Kinder müssten im Kindergarten und zu Hause stärker durch Förderprogramme unterstützt werden, damit sie nicht bereits am Anfang der Schulzeit ins Hintertreffen geraten.
Die Frage ist daher, was erwartet die Schule? Die Schule erwartet in der Regel, dass ein Kind Jacke und Schuhe selbst an- und ausziehen kann, dass es längere Zeit stillsitzen und zuhören kann, dass es seine Schultasche selbst packen kann, Hefte, Mappen und Bücher in Ordnung hält, Zettel des Lehrers an die Eltern weitergibt und umgekehrt. Sie erwartet, dass es den Anweisungen der Lehrerin oder des Lehrers folgt und sich in eine Klasse einpasst. Die Schule erwartet nicht, dass die Kinder schon Buchstaben schreiben, lesen oder rechnen können. Das ist nicht Aufgabe des Kindergartens. Die Anbahnung sogenannter Vorläuferkompetenzen geschieht durch das, was ich am Anfang beschrieben habe. Aber die Kinder kommen halt mit unterschiedlichen Voraussetzungen und auch Begabungen in die Schule. Deshalb versuchen die Lehrkräfte in den ersten Wochen, dem gerecht zu werden, um alle Kinder da abzuholen, wo sie stehen. Manchen Eltern geht es dann nicht schnell genug. Wenn ein Kind bereits seinen Namen, Mama, Papa, Oma usw. schreiben kann, dann langweilt es sich in den ersten Wochen möglicherweise. Während Eltern, die sich bewusst entschieden haben, ihr Kind nicht schon vor der Schulzeit in schulischen Techniken zu trainieren, bestürzt feststellen müssen, dass 90 Prozent aller anderen Schulanfänger bereits ihren Namen und mehr schreiben können.
In der Politik verspricht man sich vom Kita-Ausbau auch eine Verringerung sozialer Ungleichheiten. Kinder aus sozial benachteiligten Familien würden von einer frühen Förderung besonders profitieren. Bisher gibt es allerdings kaum Studien, die das belegen. In welchem Maße können Kitas tatsächlich herkunftsbedingte Nachteile ausgleichen? Ist das auch eine Frage der "richtigen" Didaktik?
Dagmar Kasüschke: Sie haben Recht, es gibt wenige Studien dazu, aber diese wenigen sind Langzeitstudien und daher sehr aussagekräftig. Verschiedene internationale Studien wie das HEAD-Start-Programm, die EPPE-Studie oder auch nationale Studien belegen, dass die sogenannten herkunftsbedingten Nachteile im Kindergarten kaum eine Rolle spielen, das heißt, der Kindergarten vermindert bereits soziale Ungleichheiten zwischen Kindern und leistet hier gute Arbeit. So ist durch diese Studien bewiesen, dass gerade Kinder aus sozial benachteiligten Familien vom Kita-Besuch in allen Bildungsbereichen profitieren, sei es in der Sprache, in der Bewegungsförderung, in der Auffassungsgabe oder in der sozialen Integration in Kindergruppen. Je früher sie in eine Kita gehen, umso besser. Dabei ist es egal, ob sie diese halbtags oder ganztags besuchen. Die soziale Schere geht erst im Laufe der Schulzeit wieder auseinander, wenn es um den Erwerb der Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen geht. Insofern müssen hier verstärkt die Ursachen gesucht werden. Augenblicklich haben wir mit der wachsenden Zahl an Kindern zu kämpfen, die die deutsche Sprache nicht oder nur wenig sprechen können. Wir sind eine Migrationsgesellschaft und brauchen hier andere Antworten, die nur bedingt mit der sozialen Herkunft zu tun haben. Und auch hier haben wir im Bereich der Didaktik noch keine abschließenden Erkenntnisse, auch wenn es schon vielfältige Sprachförderprogramme gibt. Jedoch haben wir noch zu wenige empirische Erkenntnisse darüber, welche Sprachförderkonzepte sinnvoll sind. Da bedarf es noch mehr Forschung.
Aber um noch mal auf Ihre Frage nach einer "richtigen" Didaktik einzugehen: Eine Didaktik, die für immer gültig ist, kann es nicht geben, weil wir es immer wieder mit unterschiedlichen Individuen und wechselnden gesellschaftlichen Herausforderungen zu tun haben. Diese Herausforderungen verlangen immer wieder neues Nachdenken und neue Antworten. Wenn wir unter einer richtigen Didaktik eine solche verstehen wollen, die die Kinder bestmöglich unterstützt, dann müssen wir über die Rahmenbedingungen einer guten Didaktik reden, also über Qualitätsstandards: in der Ausstattung von Einrichtungen und der Qualifikation von Fachkräften. Und auch hier sind die Ergebnisse der Studien eindeutig. Die Fragen, wie viele Kinder von einer Fachkraft betreut werden müssen und welches Qualifikationsniveau eine Fachkraft benötigt, haben einen statistisch bedeutsamen Effekt auf die Qualität der geleisteten pädagogischen Arbeit. Das heißt, je besser das Fachkraft-Kind-Betreuungsverhältnis ist und je höher die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte, desto besser ist die Qualität der pädagogischen Arbeit.