Deutschland kann im Jahr 2018 mit unter sieben Prozent Jugendarbeitslosigkeit auftrumpfen – eine der geringsten Quoten in der Europäischen Union. Das deutsche
Vereinfachend wird im Folgenden von Hauptschülerinnen und Hauptschülern gesprochen. Gemeint sind jedoch alle Jugendlichen, die eine vergleichbare Schule (beispielsweise die "Mittelschule " in Bayern oder die "Werkrealschule" in Baden-Württemberg) oder einen vergleichbaren Schulzweig an einer integrierten Schulform besucht haben und einen dem Hauptschulabschluss vergleichbaren Schulabschluss erreicht haben.
Was ist das Übergangssystem?
Das Übergangssystem bezeichnet eine Vielzahl berufsvorbereitender Maßnahmen für Jugendliche, die nach Verlassen der Schule keinen Ausbildungsplatz finden. Die oft einjährigen Qualifizierungsangebote werden überwiegend von Schulabgängerinnen und -abgängern mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss besucht und sollen deren "Ausbildungsreife" fördern, damit sie anschließend bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Allerdings wird kritisiert, dass die Angebote sehr uneinheitlich sind und daher kaum von einem System gesprochen werden kann. Da die Angebote zu keinem regulären Berufsabschluss führen und die Jugendlichen, die sie absolvieren, häufig trotzdem keinen Ausbildungsplatz finden, weisen kritische Stimmen zudem auf die Gefahr unproduktiver "Warteschleifen" hin.
Die Situation ist paradox: Hauptschülerinnen und Hauptschüler haben heute nur geringe Chancen auf dem Ausbildungsmarkt, obwohl ihnen doch die demografische Entwicklung in die Hände spielen müsste, in deren Zuge es heute weniger junge Menschen gibt, die um die begehrten Ausbildungsstellen konkurrieren. Finden sie einen Ausbildungsplatz, dann meist in Berufsfeldern, in denen schlechtere Ausbildungs- und Erwerbsbedingungen vorherrschen (z. B. geringe Verdienstaussichten, untypische Arbeitszeiten oder körperlich belastende Tätigkeiten). Obwohl für duale Ausbildungen gesetzlich kein (bestimmter) Schulabschluss vorgeschrieben ist, münden Personen mit Mittlerem Schulabschluss und Abitur sehr viel häufiger in attraktivere Ausbildungsberufe ein, während Jugendliche mit geringerer Schulbildung sich mit weniger attraktiven Berufen begnügen müssen. Das hat sich auch bei einer nun allgemein entspannteren Situation auf dem
Mögliche Gründe für die schlechten Ausbildungschancen von Hauptschülerinnen und Hauptschülern
Der bisherige Forschungsstand bietet keine klare Antwort auf die Frage, warum das so ist. Eine verbreitete Annahme ist, dass Personen mit Hauptschulabschluss wegen gestiegener Ausbildungsanforderungen von den Betrieben abgelehnt werden. So wird häufig gesagt, die Anforderungen in der Arbeitswelt seien gestiegen. Da die Berufe immer anspruchsvoller und komplexer würden, hätten Betriebe zunehmend Zweifel, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler in der Lage seien die kognitiven Anforderungen der Ausbildung zu bewältigen und würden deshalb die Einstellungsvoraussetzungen in Form von Schulabschlüssen und Noten anheben. Wer die schulischen Erwartungen nicht erfülle, würde demzufolge als "weniger ausbildungsfähig" angesehen und in Auswahlverfahren nicht berücksichtigt.
Eine gegenteilige Annahme ist, dass Betriebe die Einstellungsvoraussetzungen auch unabhängig davon anheben, ob die Anforderungen in ihrem Berufsfeld tatsächlich gestiegen sind. Durch den langjährigen Trend zu höheren Bildungsabschlüssen ("Bildungsexpansion") hätten sich schlicht die Erwartungen geändert, die in Sachen Bildungserwerb an die nachwachsende Generation gestellt werden. Ein Hauptschulabschluss genüge heute nicht mehr der gesellschaftlichen Bildungsnorm. Jugendliche mit geringer Schulbildung würden demnach nicht nur als "weniger ausbildungsfähig" diskriminiert, sondern als "ausbildungsunfähig" diskreditiert und daher von der betrieblichen Ausbildung ausgeschlossen (Solga 2005).
Um diese beiden Thesen zu bewerten, muss man den Blick auf die Rolle der Betriebe und weiterer in der Berufsausbildung beteiligte Akteure richten. Auch muss man sich klar machen, wie unterschiedlich die Entwicklung in verschiedenen Berufsfeldern verlaufen ist.
Berufliches Gatekeeping
Damit rückt etwas in den Fokus, was in der Soziologie als Gatekeeping bezeichnet wird. Als Gatekeeper ("Pförtner") werden wichtige Entscheidungsträger an Übergangspassagen im Lebensverlauf bezeichnet. Für den Übergang "Schule – Ausbildung" sind zunächst die ausbildenden Betriebe zu nennen. Sie bestimmen über die Auswahlverfahren und -kriterien bei der Einstellung von Auszubildenden. Grundlegende Entscheidungen hinsichtlich der Gestaltung der Ausbildung werden jedoch unter Beteiligung vieler weiterer Akteure getroffen, wie es auch in anderen Ländern mit ähnlichen Ausbildungssystemen – in der Schweiz und in Österreich – üblich ist. Berufliches Gatekeeping vollzieht sich also auch bei der Aushandlung der generellen Spielregeln der Ausbildung. Vertreter von Bund und Ländern, Gewerkschaften sowie Arbeitgebervertretungen und -organisationen handeln die rechtlichen Bedingungen aus, die für die Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis in den Betrieben maßgeblich sind. Je nach Wirtschaftskraft und Attraktivität ihres jeweiligen Berufsfelds haben berufliche Gatekeeper unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, um auf Veränderungen wie etwa die Bildungsexpansion, den demografischen Wandel, die Konjunktur oder technologische Innovationen zu reagieren. Über die Zeit werden so je nach Berufsfeld recht unterschiedliche Standards bezüglich der Ausbildungsinhalte und des Anforderungsniveaus sowie bezüglich der Rekrutierung und Auswahl von Auszubildenden geschaffen. Und einmal etablierte Standards werden nur schwer revidiert, auch wenn sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse wieder ändern.
Vergleicht man die Entwicklung auf dem westdeutschen Ausbildungsmarkt von Mitte der 1950er bis Anfang der 2000er Jahre zeigt sich: In den attraktiveren Berufsfeldern wie zum Beispiel den Büro-, Elektro- oder Gesundheitsberufen sind längerfristige bis dauerhafte Einschnitte für Hauptschülerinnen und Hauptschüler zu beobachten. Offensichtlich ist hier der Handlungsspielraum der beruflichen Gatekeeper größer. Die Betriebe können hier aus einem breiten Bewerberpool schöpfen und bestimmte Bewerbergruppen leichter ausschließen als in weniger attraktiven Berufen, etwa in der Gastronomie, dem Metall- oder Verkaufssegment, wo eher ein Mangel an Ausbildungsinteressenten besteht.
Betrachtet man die Ausbildungsordnungen von besonders häufig erlernten Berufen über die Zeit, offenbaren sich weitere relevante Unterschiede zwischen den Berufsfeldern. Zwar weisen die Rahmenpläne einiger Ausbildungsgänge heute in der Tat kognitiv anspruchsvollere Ausbildungsinhalte auf als früher, was für die Annahme spricht, dass die geringeren Ausbildungschancen von Hauptschülerinnen und Hauptschülern zumindest teilweise auf steigende berufliche Anforderungen zurückzuführen sind. Andererseits wird deutlich, dass weniger attraktive Berufe auch kognitiv anspruchsvoller werden können, ohne dass sich die Ausbildungschancen verändert haben. Umgekehrt hängen verringerte Zugangschancen für Jugendliche mit geringer Schulbildung in attraktiven Berufsfeldern nicht zwingend mit einem gestiegenen Anspruchsniveau der Ausbildung zusammen – auch wenn die betriebliche Einstellungspraxis häufig pauschal so gerechtfertigt wird. Letztlich haben also beide Entwicklungen dazu beigetragen, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler immer stärker von Berufen ausgeschlossen wurden, die gute Erwerbsaussichten bieten (siehe auch Protsch 2013).
Verschenkte Potenziale: Blinde Flecken der betrieblichen Auswahlverfahren
Interviews, die wir mit Personalverantwortlichen in größeren Betrieben geführt haben, zeigen, dass sich dieser Zustand in attraktiveren Segmenten des Ausbildungsmarkts auch zukünftig nicht von alleine verbessern wird. Denn auch der demografisch bedingte Rückgang der Schulabgangszahlen insgesamt wird vermutlich für wenig Entspannung auf dem Lehrstellenmarkt sorgen. Die befragten Betriebe sehen die demografische Entwicklung vielmehr als Gelegenheit, wieder stärker "nach Bedarf" auszubilden und die Ausbildungskapazitäten einzuschränken. Zwar werden Jugendliche mit Hauptschulabschluss von vielen der betrieblichen Gatekeeper als eine Gruppe sozial Benachteiligter wahrgenommen, denen das Unternehmen gerne eine Chance geben möchte. Es stellt sich jedoch die Frage: Lassen dies die betrieblichen Auswahlverfahren überhaupt zu?
Auswahlverfahren sind auch im Bereich der dualen Berufsausbildung standardisierte, mehrstufige Selektionsprozesse, die das Ziel haben, den für eine Position aus der Sicht des Arbeitgebers am besten geeigneten Bewerber zu ermitteln. Vor dem eigentlichen Verfahren signalisieren die Unternehmen bereits über ihre Stellenanzeigen, dass sie für die meisten der angebotenen Berufe einen Realschulabschluss oder ein Abitur erwarten. Auf der ersten Stufe der Auswahlverfahren werden die schriftlichen Bewerbungen nach Schulabschlüssen und Schulnoten sortiert. Bewerbungen von Jugendlichen mit Hauptschulabschluss würden nach Aussage der Personalverantwortlichen nur dann eine Stufe weiterkommen, wenn sie sehr gute bis gute Noten vorweisen können. Allerdings: Im Bundesland
Selbst wenn eine Einladung zur zweiten Auswahlstufe, den schriftlichen Einstellungstests, erfolgt, ist es höchst unwahrscheinlich, dass Jugendliche mit Hauptschulabschluss diese erfolgreich meistern werden und zur letzten Auswahlstufe, den Vorstellungsgesprächen, eingeladen werden. Überwiegend wird in den Tests Schulwissen abgefragt, das sich eher am Realschulniveau orientiert und für jemanden, der auf Hauptschulniveau unterrichtet wurde, nur begrenzt verfügbar ist. Bei solchen Tests bleiben also kognitive Fähigkeiten, die in der Schulzeit nicht erkannt wurden, auch weiterhin verborgen (Protsch/Solga 2012). Auch eine positive Persönlichkeitseigenschaft wie Gewissenhaftigkeit, die natürlich ebenfalls Einfluss darauf hat, ob jemand die Herausforderungen einer Ausbildung meistert, verbessert die Chance auf einen Übergang in Ausbildung nur für Jugendliche mit Realschulabschluss, nicht aber für diejenigen mit Hauptschulabschluss (Protsch/Dieckhoff 2011). Aussagen der Personalverantwortlichen bestätigen diesen Befund. Aspekte der Persönlichkeit und Soft Skills dienen in den Betrieben erst in den Vorstellungsgesprächen als Selektionskriterien – in einer Auswahlstufe also, die Jugendliche mit Hauptschulabschluss meist gar nicht erreichen. Und bereits bei der Stellensuche und beim Schreiben von Bewerbungen zahlen sich Soft Skills wie Beharrlichkeit und Gründlichkeit je nach Bildungsgruppe unterschiedlich aus. Wenn die meisten Stellen von vornherein kaum zu erreichen sind, nützt am Ende auch kein gewissenhaftes Suchverhalten.
Gesellschaftliche Implikationen
Das deutsche Ausbildungssystem hat in der Vergangenheit vielen Jugendlichen mit und auch ohne Hauptschulabschluss einen guten Start ins Berufsleben ermöglicht. Heute aber entspricht der Hauptschulabschluss überwiegend nicht mehr der Bildungsnorm. Nicht einmal unbesetzte Ausbildungsplätze und ein zu erwartender Fachkräftemangel veranlassen die betrieblichen Gatekeeper, insbesondere nicht die in attraktiveren Berufsfeldern, die Praxis der "Bestenauslese" grundlegend zu überdenken. Dies hat Konsequenzen für die betroffenen Jugendlichen. Ohne eine zweite Chance beim Übergang in die Ausbildung sind sie später auf dem Arbeitsmarkt vielen Risiken ausgesetzt. Auch aus gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Perspektive ist diese Situation höchst problematisch, da jugendliche Potenziale systematisch ungenutzt bleiben und damit soziale Bildungsungleichheiten, die zu einem frühen Zeitpunkt in der Biografie entstanden sind, im Erwachsenenalter fortbestehen.
Einseitig auf die Jugendlichen bezogene Maßnahmen, die etwa darauf abzielen ihre Berufsorientierung und ihr Bewerbungsverhalten zu optimieren, haben sich in der Vergangenheit als wenig hilfreich erwiesen. Interventionen sind dann erfolgreich, wenn sie frühzeitig einen intensiven Kontakt zwischen Jugendlichen und Ausbildungsbetrieben herstellen (Kohlrausch/Baas/Solga 2014). Dazu zählen sozialpädagogisch begleitete Langzeitpraktika und die betriebliche Einstiegsqualifizierung, bei der Ausbildungsinteressierte ein 6 oder 12 monatiges sozialversicherungspflichtiges Betriebspraktikum machen, das von der Bundesagentur für Arbeit gefördert wird. Solche Maßnahmen können in Einzelfällen kompensieren, was im deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem an Integration versäumt wird. Weitergehende Reformen ersetzen sie aber nicht. Nur tiefgreifende Neuerungen können längerfristig gewährleisten, dass möglichst alle Jugendlichen eine gute und anerkannte berufliche Ausbildung erhalten. Die gegenwärtige Situation, die viele junge Menschen von einem sicheren Erwerbsleben ausschließt, muss einem inklusiveren Bildungs- und Ausbildungssystem weichen, das auch denjenigen, die mit der Schule Probleme hatten, Chancen ermöglicht.
Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung folgender Publikation: Protsch, Paula (2014): Probleme auf dem Ausbildungsmarkt. Warum für Jugendliche mit Hauptschulabschluss der Einstieg so schwer ist. WZBrief Bildung 28, Februar 2014. Ebenfalls erschienen unter dem gleichen Titel in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Ausgabe 3, 2014.