Laut Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) waren Ende des Jahres 2017 weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Darunter sind 25,4 Millionen Menschen, die ihre Heimat infolge von kriegerischen Konflikten, Verfolgung oder schweren Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, 40 Millionen Binnenvertriebene, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind und 3,1 Millionen Asylsuchende (UNHCR 2016).
Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bearbeitete im Jahr 2016 Asylanträge von insgesamt rund 746.000 Personen (BAMF 2017). Dies ist der höchste Jahreswert seit Bestehen des Bundesamtes. Ein Großteil der Geflüchteten
Die Geflüchteten aufzunehmen und gesellschaftlich zu integrieren, zählt derzeit zu den zentralen gesellschaftspolitischen Aufgaben Deutschlands. Da mehr als drei Viertel der Geflüchteten jünger als 30 Jahre und sogar über die Hälfte von ihnen unter 25 Jahre alt sind, kommt insbesondere dem Bildungssystem mit seinen allgemein- und berufsbildenden Angeboten eine zentrale Rolle bei der Integration zu.
Herr Christ, was wissen wir über die Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind? Welche Qualifikationen bringen sie mit?
Alexander Christ: Bereits bei der Einreise nach Deutschland und auch später, sobald sie einen Asylantrag stellen, nimmt das BAMF von den Geflüchteten Daten auf und sammelt sie, allerdings keine über ihren Bildungs- und Qualifikationsstand. Weil es bisher also kaum amtliche Daten zur Schulbildung und zu den Qualifikationen von Geflüchteten gibt, greifen wir auf Daten aus der Forschung zurück, die über die direkte Befragung von Geflüchteten erhoben werden.
Eine solche groß angelegte und repräsentative Studie ist etwa die IAB-BAMF-SOEP-Befragung, in der geflüchtete Menschen, die im Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis 31. Januar 2016 nach Deutschland einreisten und einen Asylantrag beim BAMF gestellt hatten, unter anderem zu ihrem Bildungshintergrund und ihren Berufserfahrungen befragt worden sind. Aus dieser Studie wissen wir, dass die Geflüchteten ein sehr breites Spektrum an schulischen und beruflichen Vorerfahrungen und Bildungsniveaus aus ihren Herkunftsländern mitbringen. Wir haben hier einerseits einen überdurchschnittlich hohen Anteil an hohen und mittleren Bildungsabschlüssen, andererseits auch einen hohen Anteil an niedrigen oder fehlenden Abschlüssen, die zum Teil anderen Bildungssystemen, aber auch den vielfach gerade bei den jungen Geflüchteten durch Krisen und Fluchterfahrungen unterbrochenen Bildungsbiografien geschuldet sind. Aus den Daten der Studie können wir entnehmen, dass 40 Prozent der über 18-jährigen Geflüchteten eine weiterführende Schule (nach International Standard Classification of Education, ISCED) besucht und 35 Prozent einen Abschluss erworben haben (IAB 2017). 31 Prozent der Befragten gingen auf eine Mittelschule und 25 Prozent konnten diese abschließen (ebd.). 12 Prozent waren auf einer Grundschule und 13 Prozent besuchten keine Schule (ebd). Je nach Herkunftsland der Geflüchteten gibt es dabei bedeutende Unterschiede.
Beim beruflichen Bildungsniveau zeigt die Studie, dass 17 Prozent der erwachsenen Geflüchteten eine Universität oder eine Hochschule besucht haben und 11 Prozent über einen Hochschulabschluss oder eine abgeschlossene Promotion verfügen (ebd.). Weitere 7 Prozent der erwachsenen Geflüchteten haben eine berufliche Ausbildung durchlaufen und 5 Prozent haben einen Ausbildungsabschluss (ebd.). Diese Zahlen lassen aber nur bedingt Rückschlüsse auf das berufliche Qualifikationsniveau insgesamt zu. Keines der Herkunftsländer, aus denen die Geflüchteten stammen, hat ein Ausbildungssystem, das mit dem deutschen System vergleichbar wäre. Das muss aber nicht bedeuten, dass Geflüchtete keine beruflichen Qualifikationen mitbringen. Viele waren im Herkunftsland erwerbstätig und haben sich dabei berufliche Fertigkeiten angeeignet. Was oftmals fehlt, ist ein zertifizierter Abschluss, so wie wir ihn in Deutschland kennen.
Ein Großteil der Geflüchteten ist jünger als 25 Jahre. Was bedeutet eine berufliche Ausbildung für die Integration insbesondere der jungen Geflüchteten?
Alexander Christ: In Politik und Wirtschaft besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt gegenwärtig eine der zentralen Aufgaben ist, die das Bildungssystem, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt vor große Herausforderungen stellt. Dabei nimmt insbesondere das duale Ausbildungssystem, wie wir es in Deutschland haben, eine Schlüsselrolle ein. Eine abgeschlossene qualifizierende Ausbildung kann der erste wichtige Grundstein im Integrationsprozess sein und den Geflüchteten in ihrer Lebensplanung vielfältige Perspektiven eröffnen. Neben der arbeitsmarktnahen und praktisch orientierten Qualifizierung werden laut Lehrplan im schulischen Bereich auch Allgemeinbildung sowie gesellschaftliche Werte und Normen inner- und außerhalb der Arbeitswelt vermittelt. Für die Integration in die berufliche Bildung bringen die in den letzten Jahren nach Deutschland zugewanderten Geflüchteten gute Voraussetzungen mit. Erstens: Sie sind noch jung. Drei von vier der Asylbewerber und Asylbewerberinnen sind unter 30 Jahre alt. Zweitens: Drei Viertel der Geflüchteten im Alter zwischen 18 bis 24 Jahren haben der IAB-BAMF-SOEP-Befragung nach mindestens eine Mittelschule oder ein Gymnasium besucht (Brücker 2016). Auch wenn es nach einzelnen Herkunftsländern zum Teil deutliche Unterschiede gibt, sind vor allem die jüngeren Geflüchteten schulisch gut vorgebildet. Zudem zeigen die Ergebnisse der Studie, dass Geflüchtete insgesamt eine hohe Bildungsmotivation mitbringen. Rund zwei Drittel der 18- bis 24-jährigen Geflüchteten streben in Deutschland einen schulischen und 84 Prozent einen beruflichen Abschluss an (Romiti u.a. 2016).
Es sind jedoch nicht nur die Geflüchteten, die von unserem Berufsbildungssystem profitieren können. Seit einigen Jahren gibt es vermehrt Passungsprobleme auf dem deutschen Ausbildungsmarkt. In einigen Berufszweigen und Regionen finden ausbildungssuchende Jugendliche und Ausbildungsbetriebe nur schwer zusammen (Matthes u.a. 2018), viele Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt. Insbesondere Betriebe mit einem Überhang an unbesetzten Ausbildungsstellen haben deshalb ein Interesse an der Ausbildung Geflüchteter. Hierzu zählen vor allem Betriebe aus dem Handwerk oder dem Restaurant- und Gaststättengewerbe, die durch die Ausbildung Geflüchteter ihren Fachkräftebedarf decken könnten.
Wie gut gelingt es, Geflüchtete in die berufliche Ausbildung einzubinden?
Alexander Christ: Die Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten, denn es gibt nicht "die eine Statistik" oder gar "die eine Zahl", die hierzu umfassend Auskunft gibt. Problematisch ist zunächst, dass die vorhandenen amtlichen Daten zur beruflichen Ausbildung kaum Rückschlüsse auf alle in Deutschland lebenden Geflüchteten zulassen. Denn viele amtliche Statistiken weisen lediglich die Staatsangehörigkeit der Menschen aus, nicht jedoch, ob es sich bei ihnen um Geflüchtete handelt. Zudem erfasst jede Statistik eine andere Grundgesamtheit (zum Beispiel die eine Statistik alle bei der Bundesagentur für Arbeit registrierten Ausbildungsstellenbewerber und die andere alle Teilnahmen an bestimmten Übergangsmaßnahmen) und jede Statistik deckt einen anderen Bereich ab. Um zu bewerten, wie gut die Integration Geflüchteter in die berufliche Bildung bislang gelingt, müsste man also eigentlich viele verschiedene Datenquellen nebeneinander betrachten und so vorsichtig Rückschlüsse darauf ziehen, wie viele Geflüchtete es bereits geschafft haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, wie viele sich noch in vorbereitenden Maßnahmen befinden und wie viele etwas ganz Anderes tun. Da die amtlichen Statistiken hier jedoch bei weitem nicht alles erfassen, sind endgültige Aussagen schwierig.
Einen ersten wichtigen Anhaltspunkt zur Einschätzung der Frage, wie gut die Integration Geflüchteter in Ausbildung gelingt, stellt dennoch die Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) dar, in der alle bei der BA registrierten Ausbildungsstellenbewerberinnen und-bewerber und ihre Verbleibe aufgeführt werden. Seit Juli 2016 enthält die Statistik das Merkmal "Personen im Kontext von Fluchtmigration", sodass die Identifizierung Geflüchteter möglich ist. Wie viele Geflüchtete ohne Unterstützung der Beratungs- und Vermittlungsdienste der BA nach einer Ausbildung gesucht haben und ggf. erfolgreich in eine Ausbildung eingemündet sind, lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten.
Von den im Berichtsjahr 2017 insgesamt 547.824 registrierten Bewerbern und Bewerberinnen hatten laut BA-Ausbildungsmarktstatistik 26.428 einen Fluchthintergrund, was einem Anteil von 4,8 Prozent entspricht. Im Vergleich zum Vorjahr sehen wir, dass die Zahl der registrierten Bewerber und Bewerberinnen mit Fluchthintergrund von 10.253 (2016) auf 26.428 (2017) angewachsen ist. Das entspricht einem Anstieg von mehr als 150 Prozent innerhalb eines Berichtsjahres. Von diesen rund 26.500 Bewerbern und Bewerberinnen konnten bis zum Stichtag (30.09.2017) 9.475 Geflüchtete, also 35,9 Prozent, eine duale Ausbildung beginnen. Zwar ist die Quote im Vergleich zum Vorjahr um 2,2 Prozentpunkte gestiegen, jedoch liegt sie weiterhin deutlich unter dem Anteil der erfolgreichen Bewerber und Bewerberinnen ohne Fluchthintergrund (49,1 Prozent) (Matthes u.a. 2018a). Forschung zu den Gründen hierfür steht noch aus. Es ist jedoch naheliegend, dass sprachliche Hürden eine Rolle spielen, ebenso wie die vielfältigen Herausforderungen im Alltag, die geflüchtete Bewerber und Bewerberinnen im Gegensatz zu Bewerbern und Bewerberinnen ohne Fluchthintergrund zu überwinden haben. Geflüchtete durchlaufen nach ihrer Ankunft in Deutschland zunächst ein teilweise mehrstufiges Asylverfahren, absolvieren Integrations- und Sprachkurse sowie oftmals weitere ausbildungsvorbereitende Maßnahmen und müssen sich auch in kultureller Hinsicht an ihre neue Umgebung gewöhnen. Der Weg in Ausbildung kann also oftmals lange dauern. Wie viele Geflüchtete sich derzeit noch in Angeboten zur Vorbereitung auf Ausbildung befinden, lässt sich nicht genau sagen. Wenngleich für einzelne Maßnahmen Daten vorliegen (so ist zum Beispiel bekannt, dass 2017 im Jahresdurchschnitt rund 4.900 Geflüchtete an einer Einstiegsqualifizierung teilgenommen haben, 1.400 bzw. 39 Prozent mehr als im Vorjahr), gibt es – auch aufgrund von unterschiedlichen Zuständigkeiten und Ebenen, auf denen die Angebote bestehen – keinen Gesamtüberblick. Klar ist jedoch, dass es für eine nachhaltige und tragfähige berufliche Integration Zeit und zusätzliche Bildungsressourcen braucht, das heißt Geflüchteten die Möglichkeit zu geben, die deutsche Sprache zu erlernen als auch ihnen die Teilnahme und den Abschluss einer beruflichen Qualifizierung zu ermöglichen (Granato 2017) (siehe
Was muss getan werden, damit Geflüchteten der Einstieg in eine berufliche Ausbildung gelingt?
Alexander Christ: Wir haben uns diese Frage im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) auch gestellt und deshalb in einer Migrationsstudie 2016 gemeinsam mit der BA knapp 1.600 Personen mit Fluchthintergrund, die bei der BA als ausbildungsplatzsuchend registriert waren, dazu befragt. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Chancen, erfolgreich eine Ausbildung beginnen zu können, dann steigen, wenn die Bewerber und Bewerberinnen bereits praktische Erfahrungen im Betrieb etwa durch Einstiegsqualifizierungen, Praktika oder Probearbeiten gesammelt haben. Eine wichtige Herausforderung ist daher, die komplexe Angebotsstruktur an Fördermöglichkeiten für Geflüchtete zugänglich und transparent zu gestalten und ihnen aufzuzeigen, welche Angebote unter welchen Bedingungen in Anspruch genommen werden können. Auf der Basis könnte Geflüchteten vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Lebenslagen, Fluchterfahrungen und Bildungsvoraussetzungen ein möglichst passgenaues Angebot bereit gestellt werden (Granato u.a. 2017). Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Bewerber und Bewerberinnen mit Fluchthintergrund davon profitieren, wenn sie individuell, beispielsweise in Alltagsangelegenheiten oder direkt im Betrieb, durch Mentoren bzw. Mentorinnen oder Paten bzw. Patinnen betreut werden (Matthes u.a. 2018b). Das zivilgesellschaftliche Engagement kann in der aktiven Flüchtlingshilfe daher eine sehr wichtige Rolle beim Integrationsprozess spielen. Die Analysen weisen in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass sich die Geflüchteten insbesondere mehr Unterstützung in alltagspraktischen Anliegen wie bei der Wohnungssuche oder der kontinuierlichen Sprachförderung wünschen. Der Ausbau von Praktikums- oder Einstiegsqualifizierungsstellen sowie die Entwicklung und Förderung von Patenschaftskonzepten könnte sich somit langfristig auszahlen.
Welche Rolle spielen die Betriebe?
Alexander Christ: Die Bereitschaft der Betriebe, zukünftig auch Geflüchtete auszubilden, ist durchaus hoch. Darauf weisen unterschiedliche Unternehmensbefragungen hin. Zurzeit haben aber nur wenige Betriebe tatsächlich Ausbildungsverträge mit Geflüchteten abgeschlossen, wie die Ergebnisse des BIBB-Qualifizierungspanels zeigen. 2,7 Prozent der Betriebe, die nach dem Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung (BBiG/HwO) ausbilden, gaben zum Zeitpunkt der Befragung (Februar bis September 2017) an, mindestens einen Geflüchteten auszubilden. Hochgerechnet entspricht das einer Zahl von rund 12.000 Betrieben, die mit mindestens einem Geflüchteten einen Ausbildungsvertrag geschlossen haben (Gerhards 2018).
Dieser Wert erscheint erst einmal gering. Man sollte jedoch berücksichtigen, dass die Ausbildung von Geflüchteten die meisten Betriebe vor neue und vielseitige Herausforderungen und Unwägbarkeiten stellt. So gibt es etwa einen großen Bedarf daran, dass Geflüchtete zunächst systematische und berufsbezogene Deutschkenntnisse erwerben sowie teils auch schulische und berufliche Grundkenntnisse. Deren Vermittlung ist jedoch sehr zeitintensiv. Vor allem Klein- und Kleinstbetriebe haben da oftmals trotz ihres Interesses, auch junge Menschen mit Fluchthintergrund auszubilden, nicht die zeitlichen und personellen Ressourcen, um diese Aufgaben zu bewältigen (Ebbinghaus 2016). Der Großteil der Betriebe spricht sich daher für stärkere Unterstützung bei der Ausbildung Geflüchteter aus. Gerade berufsvorbereitende Maßnahmen für Geflüchtete, wie sie im Übergangsbereich der beruflichen Bildung angeboten werden, halten die meisten Betriebe für hilfreich. Genauso wünschen sie sich aber auch mehr Unterstützung bei Rechtsfragen sowie bei der Vermittlung von geeigneten Geflüchteten (Gerhards 2018).