Im Spielwarenladen ist die Welt hellblau und pink: In der pinken Ecke reihen sich "märchenhafte" Experimentierkästen "für kleine Gärtnerinnen" neben Regalböden voller Einhörner und Eisprinzessinnen. Im blauen Universum heißen die Experimentierkästen "Roboter-Control" oder "Weltraum-Farm". Produkte, die gezielt Jungen oder Mädchen ansprechen, findet man auch in Drogeriemärkten und in Lebensmittelläden, von rosa und blauen Smarties bis hin zu Badekristallen für "kleine Nixen" und "kleine Seeräuber". Früher gab es Kinder, heute scheint es nur noch Mädchen und Jungen zu geben, die in zwei völlig unterschiedlichen Welten leben.
Natürlich baden oder essen Jungen und Mädchen nicht anders, aber für Unternehmen lässt sich mit Gender-Marketing besser Geld verdienen, kritisiert Dr. Stevie Schmiedel, die die Initiative "Pinkstinks" ins Leben gerufen hat. Für sie hat diese Einseitigkeit in den Spielwarenläden weitreichende Folgen – auch für die Berufswahl. "Die Spielewelt macht Vorgaben. Sie weist Jungen und Mädchen bestimmte Kompetenzen zu. Mädchen sind für Verschönerung zuständig, pflegen und erziehen. Die Jungs bewegen sich in einer technischen Welt", zeigt sie auf.
Schere im Kopf
Das Argument "ist doch nur Werbung" lässt sie nicht gelten: "Werbung ist kein Spiegel der Gesellschaft, sie prägt die Gesellschaft und muss ernstgenommen werden." Denn die Werbung zementiert tradierte Rollenbilder, die sich seit Jahrzehnten in der Berufs- und Studienwahl finden. Bei den dualen Ausbildungsberufen wählen junge Männer überwiegend Ausbildungsberufe aus den Bereichen Metall, Elektro, Bau oder Verkehr, junge Frauen entscheiden sich mehrheitlich für Berufe in Verwaltung und Büro, Körperpflege oder Dienstleistung.
Dabei leben wir eigentlich in einer aufgeklärten Zeit. "Die Ambivalenz zeigt sich unter anderem darin, dass Väter heute zwar ganz selbstverständlich ihren Sohn im Kinderwagen spazieren schieben, sich aber schwer tun, ihm einen Puppenwagen zum Papa spielen zu kaufen. Da ist eine Schere im Kopf!", lautet das Fazit von Dr. Stevie Schmiedel.
Ein Bündel an Einflüssen
Wenka Wentzel (© privat)
Wenka Wentzel (© privat)
Für Eltern ist es schwierig, gezielt gegen solche Rollenzuschreibungen zu arbeiten. "Die Bilder sind einfach sehr stark", sagt Wenka Wentzel vom Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit. Das Kompetenzzentrum organisiert die Girls’- und Boys‘Days, an denen Jungs in soziale, erzieherische und pflegerische Tätigkeiten schnuppern können und Mädchen in MINT-Berufe – also Berufe rund um Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. "Junge Menschen wachsen in einem gesellschaftlichen Klima auf, in dem Chancengleichheit selbstverständlich zu sein scheint, aber schon bei ihrer Berufswahl wird deutlich, dass es weiterhin Faktoren gibt, die eine gleichberechtigte Teilhabe verhindern", betont Wenka Wentzel.
Jede Berufs- und Studienentscheidung ist das Ergebnis vielfältiger, miteinander verzahnter Einflussfaktoren, etwa aus den Medien, Vorbilder aus der Familie, dem Bekanntenkreis und der Schule. "Wie der tatsächliche Arbeitsalltag in der Familie funktioniert, was Eltern, Bekannte und Freunde vorleben hat sicherlich einen sehr großen Einfluss", erläutert Wenka Wentzel.
Sich diesem Einfluss zu entziehen, ist schwierig. "Die meisten jungen Menschen wollen nicht auffallen, sich nicht anders verhalten als der Rest ihrer Generation", erklärt Dr. Elisabeth Bublitz vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut. Sie ist Mitautorin einer Studie über geschlechtsspezifische Berufswahl. Eine vermutete negative Reaktion der Umwelt kann zur großen Hemmschwelle werden: "Wenn Mädchen davon ausgehen, dass ihre Umwelt negativ reagiert, weil sie etwa Kfz-Mechatronikerin werden wollen, lassen sie es eher bleiben. Das gleiche gilt für Jungen. Die Motivation, einen Beruf zu ergreifen, der allgemein nicht als 'männlich' eingestuft wird, muss entsprechend hoch sein."
Männer- und Frauenberufe
Christine Schramm-Spehrer (© privat)
Christine Schramm-Spehrer (© privat)
Wie stark Berufe als männlich beziehungsweise weiblich wahrgenommen werden, weiß Christine Schramm-Spehrer aus zahlreichen Workshops. Sie ist Berufsberaterin im Hochschulteam und Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt bei der Arbeitsagentur Gießen: "Wenn Schülerinnen und Schüler Berufe den Kategorien 'männlich' oder 'weiblich' zuordnen sollen, gibt es kaum Diskussionen." Informatik, Maschinenbau, Physik? Männlich. Lehramt, Ernährungswissenschaft, Soziales? Weiblich.
Das gilt sowohl für Studien- als auch für Ausbildungsberufe. Mittlerweile studieren genauso viele Frauen wie Männer: Von den 2,76 Millionen Studierenden im Wintersemester 2015/16 waren 1,32 Millionen Frauen. Bei den Studiengängen gibt es jedoch eine unsichtbare Trennlinie zwischen Männer- und Frauenfächern: Sprach- und Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Studiengänge im Bereich Gesundheit und soziale Dienste sind Frauendomänen. Bei den Ingenieurwissenschaften, Informatik sowie in einigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sind die Männer in der Mehrheit.
Diese starre Zuordnung lässt sich aufbrechen, aber nur sehr langsam. Im Jahr 2000 gab es im ersten Semester gut 27.000 Studierende der Informatik, davon waren fast 5.000 Frauen. Im Jahr 2015 waren unter den rund 37.000 Studierenden immerhin schon mehr als 8.000 Frauen. In 15 Jahren ist der Anteil von knapp über 18 Prozent auf fast 23 Prozent gestiegen. Im Bauingenieurwesen lag der Frauenanteil bei den Erstsemestlern im Jahr 2000 bei knapp über 23 Prozent, im Jahr 2015 bei etwas über 30 Prozent.
Auch in manchen Ausbildungsberufen zeichnet sich eine Veränderung ab. Bei den Mechatronikern stieg 2015 die Frauenquote bei den neuen Ausbildungsverträgen immerhin von knapp vier auf gut sieben Prozent, bei den Werkzeugmechanikern sogar von drei auf fast acht Prozent – eine Minirevolution.
Berufswahl nach Talent
Eine geschlechtstypische Studien- oder Berufswahl ist nicht per se schlecht: "Wenn eine Wahl passend zu den Interessen und Fähigkeiten getroffen wird, ist das wunderbar. Problematisch wird es, wenn junge Menschen aus Mangel an Informationen einfach überholte Bilder und Vorstellungen übernehmen und sich so Wege verschließen. Gerade junge Frauen wählen häufig nicht nach ihren Talenten", weiß Christine Schramm-Spehrer.
Schülerinnen, die etwa in Mathe gut sind, entscheiden sich nur selten für ein Studium der Elektrotechnik oder Informatik, eher noch für ein Studium der Mathematik oder einen Studiengang, dessen Studiengangbezeichnung "nicht so technisch" klingt, etwa Biomedizinische Technik und Wirtschaftsingenieurwesen.
"Erschwerend kommt hinzu, dass junge Frauen 'Frauenberufen' oft eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstellen", erklärt die Berufsberaterin. Doch Fehlanzeige. Nacht- und Schichtdienst ist etwa in Pflegeberufen üblich. Auch die körperlichen Voraussetzungen werden häufig falsch eingeschätzt: "Eine Pflegekraft, die Patienten umbettet, muss körperlich genauso fit sein wie ein Schreiner", ergänzt sie.
Viele Stellschrauben bewegen
Heidi Holzhauser (© privat)
Heidi Holzhauser (© privat)
"Auch junge Männer entscheiden nicht immer nach ihren eigentlichen Interessen und Fähigkeiten", betont Heidi Holzhauser, Leiterin des Kompetenzzentrums Chancengleichheit am Arbeitsmarkt der Bundesagentur für Arbeit. "Jungs erleben häufig erst in der Praxis oder durch Vorbilder, dass es durchaus ihrem Typ entsprechen kann, unmittelbar mit Menschen zu arbeiten, und sie eigentlich gerne einen Job in der Altenpflege oder Kindererziehung ergreifen möchten." Um eine klischeefreie Berufswahl zu fördern, die wirklich zu den Jugendlichen passt, geht die Bundesagentur für Arbeit daher seit einiger Zeit neue Wege: Sie wendet sich mit der Promotion "Typisch ich!" und jugendlichen Role Models über die sozialen Medien direkt an die jungen Menschen.
Um in der Arbeitswelt Veränderungen bei der Rollenaufteilung zu bewirken, müssen viele Stellschrauben bewegt werden: "Denn bedarfsgerechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten und eine familienorientierte Personalpolitik, die Frauen und Männern flexible Ausbildungs- und Arbeitszeitmodelle ermöglichen, haben deutlichen Einfluss auf die Berufswahlentscheidung junger Menschen, die später einmal Familie und Beruf vereinbaren wollen. Und dann ist da auch noch die Frage nach dem Gehalt", sagt Heidi Holzhauser.
Geld macht einen Unterschied
Joachim Gerd Ulrich (© privat)
Joachim Gerd Ulrich (© privat)
Joachim Gerd Ulrich vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat sich die Entwicklung des Frauenanteils in männlich dominierten Berufen von 2004 bis 2015 angeschaut. "Frauen, die sich für eine Ausbildung in typischen Männerberufen entscheiden, werden hierfür mit einer Ausbildungsvergütung belohnt, die im Schnitt höher ausfällt als in typischen Frauenberufen. Das ist bei Männern, die in Frauenberufe einsteigen, anders. Denn die Vergütungen in Frauenberufen sind im Schnitt eher niedrig", erläutert er.
Dabei legen immer mehr Frauen Wert auf eine gute Bezahlung. Das bestätigt etwa eine Langzeitbefragung von hochqualifizierten Fach- und Führungskräften, die im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen von der TU München erhoben wurde. Die Befragung von insgesamt 2.400 Teilnehmern an den "Karrieretagen Familienunternehmen" zwischen 2008 und 2015 ergab, dass "attraktive Vergütung und Sozialleistungen" noch im Jahr 2008 für nur 12,7 Prozent der befragten weiblichen Bewerber eines der drei wichtigsten Merkmale bei der Arbeitgeberwahl war. Im Jahr 2015 hat sich der Anteil auf 38,1 Prozent verdreifacht (Männer: 46,4 Prozent). "Bei der Frage nach dem Stellenwert der Vergütung gleichen sich die Geschlechter an. Frauen werden seit Jahren in puncto Gehalt selbstbewusster", erklärt Stefan Heidbreder, Geschäftsführer der Stiftung Familienunternehmen. Dennoch stehe für Männer beim gesuchten Jobprofil das Gehalt an erster Stelle, während Frauen nach wie vor eine gute Arbeitsatmosphäre am wichtigsten sei.
Während zunehmend mehr Frauen in Männerberufen Fuß fassen, lässt sich Umgekehrtes für junge Männer nicht beobachten: "Deren Anteil in den typischen Frauenberufen hat sich in den letzten zwölf Jahren kaum verändert", sagt Joachim Gerd Ulrich.
Vorbilder zeigen Wirkung
Der Faktor "Zeit" könnte bei der Steigerung des Frauenanteils in Männerberufen eine wichtige Rolle spielen. "Auffallend ist, dass in denjenigen Männerberufen stärkere Steigerungen des Frauenanteils erreicht werden konnten, in denen es bereits früher etwas mehr Frauen als in anderen männertypischen Berufen gab", erklärt Joachim Gerd Ulrich. Vielleicht können höhere Anteile irgendwann eine Art Sogwirkung entfalten und so den jährlichen Anteilszuwachs junger Frauen im Laufe der Zeit steigern.
Der Artikel erschien zuerst am 02.03.2017 auf Externer Link: www.abi.de, einem Angebot der Bundesagentur für Arbeit.