Frau Professor Solga, Sie haben die Ausbildungssituation in Deutschland einmal als eine "tickende Zeitbombe" bezeichnet. Was meinten Sie damit?
Heike Solga: Knapp 1,5 Millionen junge Menschen werden ohne eine Berufsausbildung ins Erwerbsleben geschickt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Hartz-IV-Empfängern werden, ist hoch. Und man darf nicht davon ausgehen, dass sich die Ausbildungskrise durch die demografische Entwicklung quasi von selbst erledigen wird.
Warum finden so viele Jugendliche keinen Ausbildungsplatz?
Heike Solga: Zum einen liegt das an regionalen Bedingungen. Es gibt Gebiete in Deutschland, die ökonomisch schwach sind und nicht viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen können. In Teilen von Ostdeutschland wird das durch außerbetriebliche, schulische Berufsausbildungen kompensiert. Denn Mobilität für eine betriebliche Ausbildung ist schwierig: Die Ausbildungssuchenden sind sehr jung und kommen meist nicht aus reichen Elternhäusern. Sie können kaum für einen Ausbildungsplatz umziehen. Auch die Betriebe suchen meist Jugendliche aus der Region. Sie wollen, dass die Azubis bei ihren Eltern wohnen, damit sich jemand um sie kümmert und sie morgens pünktlich zur Arbeit erscheinen. Zum anderen sind Betriebe immer weniger dazu bereit, leistungsschwachen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu geben. Schülerinnen und Schüler mit maximal einem Hauptschulabschluss werden von vielen Betrieben überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen.
Woran liegt das?
Heike Solga: Die Betriebe waren viele Jahre lang verwöhnt, da es ein Überangebot an sehr leistungsfähigen Jugendlichen gab. Geburtenstarke Jahrgänge drängten auf den Ausbildungsmarkt in einer Zeit, in der es zu wenige Ausbildungsplätze gab. Dadurch gewöhnten sich die Betriebe an leistungsstärkere Jugendliche. Heute müssten sie mehr investieren, damit ihre Azubis die Prüfungen mit guten Noten bestehen.
Zu den Bildungsverlierern gehören in Deutschland vor allem Jugendliche ohne oder mit niedrigem Schulabschluss und junge Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist schon seit Jahren so - tut die Politik Ihrer Ansicht nach genug für sie?
Heike Solga: Ich glaube, dass viel getan wird. Förderschulen versuchen, diese jungen Menschen in möglichst kleinen Klassen mit gut qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern zu unterrichten. Eine ähnliche Strategie verfolgen viele Hauptschulen, die zudem noch Sozialarbeiter oder Psychologen einsetzen. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese Maßnahmen effizient sind. Schüler, die Probleme haben, werden im deutschen Schulsystem aussortiert und in gesonderten Klassen unterrichtet. Aus Studien wissen wir aber, dass sich dort Probleme potenzieren. Es bleibt abzuwarten, ob sich durch die Einführung von Sekundarschulen daran etwas ändert.
Was stimmt Sie da so skeptisch? In Sekundarschulen können Schülerinnen und Schüler von Haupt- und Realschulen doch endlich gemeinsam unter einem Dach lernen.
Heike Solga: Aber auch da funktioniert Integration und Inklusion nur, wenn die Schüler nicht alle gleich behandelt werden, sondern es innerhalb dieser Schulen unterschiedliche Fördermaßnahmen gibt. Notwendig sind zum Beispiel kleinere Klassen, die außerschulische Betreuung und Unterstützung von Schulkindern oder die Weiterbildung von Lehrkräften. Die Schüler nur in eine gemeinsame Schulform zu sperren und ansonsten nichts weiter zu verändern, spart zwar Geld, hilft aber nichts.
Trotz zahlreicher Reformen im Bildungssystem verlassen in Deutschland weiterhin jedes Jahr fast 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Werden sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen?
Heike Solga: Das ist tatsächlich ein großes Problem unserer Zeit. Wer in den 1950er- oder 1960er-Jahren geboren wurde, konnte auch ohne Schulabschluss oder Ausbildung Arbeit finden. Damals gab es noch Jobs für Ungelernte mit unbefristeten Verträgen, die ein Auskommen über der Armutsgrenze ermöglichten. Wer heute keine Ausbildung abschließt, hat sehr schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Da ist im Prinzip Hartz IV vorprogrammiert. Die Ausbildung ist der Schlüssel zur Teilhabe an der Gesellschaft. Menschen ohne eine Ausbildung werden aus vielen Bereichen ausgeschlossen: Sie haben zum Beispiel geringere Heiratsquoten und ein viel höheres Risiko, dass ihre Kinder in Armut aufwachsen und ebenfalls gering qualifiziert bleiben. Ihren Kindern bleibt das verwehrt, was man "ein gutes Leben" nennen würde. Das ist ein Teufelskreis.
Besonders gefährdet in diesem Teufelskreis sind Migrantinnen und Migranten oder Flüchtlinge. Bekommen sie in unserem Bildungssystem zu wenig Unterstützung?
Heike Solga: Unter den Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz haben immer mehr einen Migrationshintergrund. Sie verfügen zum Teil über einen mittleren Schulabschluss, gehören also nicht unbedingt zu den Leistungsschwachen. Damit haben wir ein doppeltes Problem: Ihnen wurde versprochen, dass sie einen Ausbildungsplatz bekommen, wenn sie sich in der Schule anstrengen. Nun haben sie in den letzten Jahren bei der Schulbildung aufgeholt, bekommen aber trotzdem keine Ausbildungsplätze. Diese Jugendlichen merken, dass sie auf dem Ausbildungsmarkt diskriminiert werden. Ich bin gespannt, wie lange sie sich das einfach noch so anschauen werden.
Neben guten Noten bringen Jugendliche mit Migrationshintergrund eine interkulturelle Kompetenz ein. Wie könnten die Betriebe dazu gebracht werden, sie verstärkt einzustellen?
Heike Solga: Anonyme Bewerbungen könnten helfen. In den Bewerbungsunterlagen steht meist nichts vom Migrationshintergrund, nur aufgrund des Namens kann man darauf schließen. Die Kandidaten könnten sich unter einer Nummer bewerben und ihre Namen auf den Zeugnissen schwärzen. Experimente und Studien zeigen, dass sie dadurch häufig nicht schon in der ersten Runde der Bewerbung aussortiert würden.
Wären ihre Chancen in einem Vorstellungsgespräch dann besser?
Heike Solga: Im Bewerbungsgespräch kann es natürlich immer noch sein, dass Betriebe Vorurteile haben oder sagen, dass diese Jugendlichen nicht zu ihrer Belegschaft passen, weil es in ihrem Unternehmen keine Migranten gibt. Aber wenn die Jugendlichen erst einmal so weit gekommen sind, ist es für Betriebe schwieriger, sie abzulehnen. Sie sind auf gute Kandidaten angewiesen.
Theoretisch kann heute jeder Jugendliche eine Ausbildung absolvieren. Zumindest melden Politik und Medien immer wieder, dass es genügend Ausbildungsplätze gebe.
Heike Solga: Dass das nicht stimmt, kann man nachweisen. Es gibt aussagekräftige Studien, die belegen, dass es viel mehr Bewerberinnen und Bewerber gibt als Plätze. Wenn man zu einem anderen Urteil kommt, liegt das an der Methode der Berechnung: Dabei werden diejenigen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben und deshalb eine "berufsvorbereitende Maßnahme" absolvieren, nicht mehr als Bewerber gezählt. Etwa 250.000 junge Menschen landen jedes Jahr im sogenannten Übergangssystem - die deutliche Mehrheit von ihnen, weil sie keine Ausbildungsstelle gefunden hat. Wenn diese Jugendlichen aus den Statistiken herausgerechnet werden, dann bleiben sogar 20.000 freie Ausbildungsplätze übrig.
Müssten die Betriebe mehr ausbilden?
Heike Solga: In den 1970er- oder 1980er-Jahren haben Betriebe aus einem Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft heraus über ihren Bedarf ausgebildet. Damals ging man davon aus, dass die Aus- und Weiterbildung eine Investition in die Mitarbeiter sei. Heute sieht man das eher als einen Kostenfaktor. Zudem hat sich die Betriebsstruktur verändert: Es gibt immer noch große Betriebe, die viele junge Menschen ausbilden. Aber es gibt auch Selbstständige und kleine Betriebe, die sich keine Azubis mehr leisten können. Und selbst wenn die Betriebe in wirtschaftlich starken Regionen mehr ausbilden würden, würde das nicht unbedingt den Jugendlichen in anderen Teilen Deutschlands helfen. Dennoch sind die Erwartungen der Gesellschaft gestiegen. Heute muss jeder eine Ausbildung machen.
Im Übergangssystem sollen Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, ihre "Wartezeit" sinnvoll nutzen - etwa indem sie einen Schulabschluss nachholen oder Praktika machen. Kritiker sprechen von Geldverschwendung. Ist das Übergangssystem ineffektiv?
Heike Solga: Das kommt darauf an, woran man Effektivität bemisst. Das System soll Jugendlichen einen Übergang ermöglichen - entweder in eine Ausbildung oder in eine Berufstätigkeit. Das klappt bei der Mehrzahl nicht. Wenn sie eine berufsvorbereitende Maßnahme abgeschlossen haben, beginnen viele nicht zu arbeiten, sondern sie absolvieren die nächste. Man muss darüber nachdenken, ob die Vielfalt der Maßnahmen zielführend ist - besonders deshalb, weil das derzeitige Übergangssystem recht teuer ist und es große Defizite beim Bezug der einzelnen Maßnahmen aufeinander gibt. Gleichzeitig muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist, dass die Jugendlichen eine Schleife nach der anderen absolvieren. Es ist allerdings wissenschaftlich bisher noch zu wenig untersucht, wie viele Jugendliche nach einer oder mehreren Maßnahmen doch noch einen Ausbildungsplatz oder eine Stelle finden. Ebenso wissen wir nicht, ob sie in dieser Zeit ihre Noten oder Kompetenzen verbessern. Es gibt einige Studien, die leistungsschwache Schülerinnen und Schüler untersucht haben. Sie zeigen, dass die Motivation der Jugendlichen im Übergangssystem mit der Zeit sinkt - ihnen wird klar, dass die Maßnahmen nichts bringen. Die Fallzahlen dieser Studien sind aber zu klein und deshalb nicht aussagekräftig.
Über das Übergangssystem wird schon seit Jahren gestritten. Wie kommt es, dass es immer noch schlecht erforscht ist?
Heike Solga: Das liegt auch daran, dass es nicht einfach ist, die unzähligen und heterogenen Maßnahmen des Übergangssystems zu erfassen. Sie unterscheiden sich in jedem Bundesland, sie sind unterschiedlich lang und auf verschiedene Altersgruppen oder Bildungsniveaus der Schüler ausgerichtet. Um das umfassend zu untersuchen, braucht man große Stichproben und einen langen Atem.
Gibt es Länder, denen es gelingt, ihren Jugendlichen diese sinnlosen Bildungsschleifen zu ersparen?
Heike Solga: Dänemark zum Beispiel hat vor einigen Jahren sein Berufsbildungssystem umgestellt. Jugendliche erhalten dort eine sogenannte Eingangsqualifizierung. Das ist eine Art Grundausbildung, die je nach Leistungsniveau zwischen einem halben und zwei Jahren dauert. Sie geht dann über in eine Ausbildung, die entweder in einem Betrieb oder in der Schule stattfindet. Nach drei Jahren Ausbildung haben alle Jugendlichen den gleichen Abschluss. Das System garantiert, dass sie flexibel ausgebildet werden und keine Zeit verlieren in einer Art Übergangssystem, wie wir es bei uns kennen.
Wäre dieses System in Deutschland politisch durchsetzbar?
Heike Solga: Dagegen stehen zwei Einschränkungen: Erstens die Ideologie, dass eine betriebliche Ausbildung das Beste ist. Das deutsche "duale System", bei dem Theorie und Praxis durch die betriebliche Ausbildung und die Berufsschule verbunden werden, ist sehr gut. Aber diejenigen Jugendlichen, die das nicht schaffen, einfach nur in berufsvorbereitende Maßnahmen zu stecken, kann nicht die Alternative sein. Die zweite Einschränkung ist das Geld: Die Finanzierung eines Systems wie in Dänemark müsste weitgehend von den Bundesländern getragen werden oder durch einen regionalen Fonds, an dem sich auch Betriebe beteiligen, die nicht ausbilden.
Nicht alle sind der Meinung, dass die betriebliche Ausbildung das Beste ist. Manche Untersuchungen kommen sogar zu dem Schluss, dass das "duale System" die Chancenungleichheit fördert.
Heike Solga: Das kann man so nicht sagen. Die Chancenungleichheit der Schule wird in Deutschland in der Ausbildung nicht verstärkt. Problematisch am dualen System ist allerdings, dass auch Berufe ausgebildet werden, die wenig anspruchsvoll und schlecht bezahlt sind. Diese Ausbildungen führen häufig in eine geringfügige Beschäftigung oder in die Arbeitslosigkeit. Verkäuferinnen zum Beispiel sind zu einem Drittel geringfügig beschäftigt und oft arbeitslos.
Verkäuferin, Bürokauffrau, KFZ-Mechatroniker: Viele Jugendliche drängen bei der Berufswahl in typisch "männliche" oder "weibliche" Berufe. Dadurch landen Jungen häufiger im dualen System, Mädchen in der schulischen Berufsausbildung. Die jungen Frauen haben dadurch schlechtere Jobchancen - sind sie beim Übergang ins Berufsleben benachteiligt?
Heike Solga: Nein, denn Mädchen entscheiden sich häufig für Berufe, die stabil sind und in denen der Bedarf steigt: Krankenschwester, Erzieherin oder Altenpflegerin. Deshalb arbeitet ein Jahr nach Abschluss der Ausbildung auch ein Großteil dieser Frauen immer noch im erlernten Beruf. Das ist zum Beispiel in der Baubranche nicht so: Dort arbeitet ein Drittel der Beschäftigten ein Jahr nach ihrer Ausbildung nicht mehr in diesem Beruf. Die Krankenschwester ist zwar schlechter bezahlt als der Elektriker - aber längerfristig bekommen eher die jungen Männer Probleme als die jungen Frauen.
Viele Staaten beneiden Deutschland um sein duales Ausbildungssystem. Auch die Politik weist häufig darauf hin, dass Deutschland nur deswegen im Vergleich zu anderen Ländern bei der Jugendarbeitslosigkeit gut dastehe.
Heike Solga: Ja, aber es ist nur in einigen Staaten ein Erfolgsmodell: in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Dänemark. Diese vier Lehrlingsländer mit einer dualen Ausbildung haben ein "atmendes System" der Berufsausbildung geschaffen - mit dem Übergangssystem in Deutschland beispielsweise oder der schulischen Alternative in Dänemark. Nur so funktioniert das duale System auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten, wenn betriebliche Ausbildungsplätze fehlen. In vielen derzeitigen Krisenländern wären Jugendliche also gar nicht in einer betrieblichen Ausbildung, sondern in diesen "Alternativen" - selbst wenn diese Länder ein solches System hätten.
Es könnte also nicht einfach auf andere Staaten übertragen werden?
Heike Solga: Nein, denn es ist institutionell sehr voraussetzungsvoll. Zudem muss berücksichtigt werden, dass es in Deutschland in wirtschaftlich eher starken Zeiten eingeführt wurde.
Aus: DJI Impulse, Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2015, S. 9 - 12.