Abschied von der Dreigliedrigkeit
Welche Schulformen in Deutschland angeboten werden, ist im Wesentlichen Sache der Bundesländer. Sie haben im deutschen Föderalismus die Kulturhoheit und entscheiden somit eigenverantwortlich darüber, wie sie ihre Schulstrukturen gestalten.
Dennoch war jahrzehntelang über alle Länder der Bundesrepublik hinweg die dreigliedrige Schulstruktur – bestehend aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium – regelrecht in Stein gemeißelt. Das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler ist in diesem Modell der Schulorganisation auf die vierjährige (in einigen Bundesländern auch sechsjährige) Grundschulzeit begrenzt. Danach wird die Schülerschaft auf die drei Sekundarschulformen aufgeteilt. Neben den allgemeinen Schulen gibt es in allen Bundesländern zudem Förderschulen für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Über die im internationalen Vergleich sehr früh im Leben einsetzende Leistungsauslese wurde in der Bundesrepublik politisch immer wieder heftig gestritten (
Mit der Wiedervereinigung kam erneut Bewegung in die deutsche Schullandschaft: Die ostdeutschen Bundesländer entschieden sich mehrheitlich gegen separate Haupt- und Realschulen. Stattdessen richteten sie zweigliedrige Schulsysteme ein. Aber auch in den westdeutschen Bundesländern kam das dreigliedrige Schulsystem langsam ins Wanken. Gründe dafür waren demografisch rückläufige Schülerzahlen, eine schwindende Akzeptanz der Hauptschule, aber auch das unerwartet schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei PISA.
Mit der Ausnahme Bayerns (das jedoch selbst einige „Schulen der besonderen Art“ als Schulversuch unterhält) haben mittlerweile alle Bundesländer ihr Schulangebot im Sekundarbereich verändert. Zahlreiche neue Schulformen sind entstanden, die sich in Vielem unterscheiden, aber doch eines gemeinsam haben: sie setzen stärker auf integrative Formen der Lernens als es in Deutschland traditionell der Fall war. Da sind kooperative Schulformen, wie z. B. die Oberschule in Sachsen oder die in vielen Bundesländern angebotene kooperative Gesamtschule, die zwei bzw. alle drei Bildungsgänge unter einem Dach vereinen. Sie bilden häufig erst in der siebten Jahrgangsstufe abschlussbezogene Klassen. Da sind teilintegrierte Schulformen wie z. B. die Werkrealschule in Baden-Württemberg, wo Haupt- und Realschulbildungsgang zusammengefasst sind. Und da sind schließlich neue vollintegrierte Schulformen wie z. B. die Stadtteilschule in Hamburg, die Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein oder die Sekundarschule in Nordrhein-Westfahlen. Sie bieten alle Bildungsgänge einschließlich des gymnasialen an und führen in der Mehrzahl keine abschlussbezogenen Klassen.
Die kooperativen Schulformen stehen in der Tradition des dreigliedrigen Schulsystems, insofern sie die Schülerschaft ab einer bestimmten Klassenstufe weiterhin auf getrennte Bildungsgänge verteilen. Die integrierten Schulformen setzen hingegen auf flexiblere Varianten der Differenzierung. So werden Kernfächer wie Deutsch, Mathematik und Englisch häufig ab einer bestimmten Klassenstufe in Kursen mit unterschiedlichen Anspruchsniveaus unterrichtet. Aber auch Modelle des durchgehenden gemeinsamen Lernens im Klassenverband werden erprobt und weiterentwickelt.
Was zeigt die Grafik?
Diese Grafik zeigt den derzeitigen Stand der Schulstrukturentwicklung im Sekundarbereich in den 16 Bundesländern. Waren die Schulstrukturen der Bundesländer über Jahrzehnte hinweg weitgehend einheitlich organisiert, haben sie sich mittlerweile sehr stark auseinanderentwickelt: In einigen Bundesländern sind neue Schulformen lediglich eine Ergänzung zum traditionellen Schulformenangebot, in vielen Bundesländern aber haben sie die Haupt- und Realschulen vollständig ersetzt. So ist mittlerweile allein das Gymnasium noch in allen Bundesländern vorhanden, daneben variiert das Schulformenangebot zwischen den Ländern derart, dass es selbst für Forscherinnen und Forschern schwer zu überblicken ist (
Die Zahlen auf der Karte geben an, wie viele Schulformen das jeweilige Bundesland im Sekundarbereich unterhält. Wählt man auf der Karte ein Bundesland aus, werden in der nebenstehenden Tabelle alle Schulformen aufgelistet, die es in diesem Bundesland gibt. Die verschiedenen Symbole geben zudem Aufschluss darüber, welche Bildungsgänge in den einzelnen Schulformen unterrichtet werden und wie das Lernen in diesen Schulformen organisiert ist (siehe Lesehilfe).
Lesehilfe:
Am Beispiel Niedersachsen, das eine relativ große Bandbreite von Schulformen aufweist, lassen sich die in der Grafik verwendeten Symbole gut nachvollziehen:
Der farbige Kreis, mit dem Hauptschule, Realschule und Gymnasium gekennzeichnet sind, besagt, dass an diesen Schulformen jeweils nur ein Bildungsgang unterrichtet wird.
Verbundene Kreise, wie sie bei der Kooperativen Gesamtschule zu sehen sind, stehen für einen kooperativen Bildungsgang. In diesem Modell der Schulorganisation werden an einem Schulstandort mehrere Bildungsgänge als separate Schulzweige angeboten. Hier lernen die Schülerinnen und Schüler nach Bildungsgängen getrennt, nur in einigen wenigen Fächern wie etwa Sport oder Musik gibt es gemeinsamen Unterricht.
Der durchgezogene Balken, der sich bei der integrierten Gesamtschule findet, symbolisiert einen integrierten Bildungsgang. In diesem Modell der Schulorganisation wird auf getrennte Bildungsgänge weitgehend verzichtet. Hier lernen zunächst alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam, in den höheren Klassenstufen dann häufig in Kursen mit unterschiedlichen Anspruchsniveaus.
Das gestrichelte Symbol, mit dem die Oberschule gekennzeichnet ist, kombiniert den durchgezogenen Balken und die verbundene Kreise. Es besagt, dass die entsprechende Schulform je nach Schulstandort entweder als kooperativer oder als integrierter Bildungsgang geführt werden kann.
Ein gemusterter Kreis, wie er bei der Oberschule, der Kooperativen Gesamtschule und der Integrierten Gesamtschule auftaucht, bedeutet, dass der so gekennzeichnete Bildungsgang optional ist. Hier hängt es vom einzelnen Schulstandort ab, ob der entsprechende Bildungsgang vorhanden ist oder nicht.
Wenn man die Schulstrukturen der Bundesländer anhand der Tabellen miteinander vergleicht, fällt Folgendes auf:
Schon bei der Anzahl der Schulformen zeigt sich zwischen den Bundesländern eine enorme Spannweite: Während etwa in Hessen im Sekundarbereich sieben verschiedene Schulformen existieren, gibt es in Hamburg, Schleswig-Holstein, Sachsen und dem Saarland nur noch zwei. Doch Zweigliedrigkeit ist nicht gleich Zweigliedrigkeit! Wie der Blick in die Tabellen offenbart, besteht das Schulsystem in Sachsen aus dem Gymnasium und einer kooperativen Schulform, die den Haupt- und Realschulbildungsgang unter einem Dach vereint. In den anderen zweigliedrigen Bundesländern steht hingegen neben dem Gymnasium eine vollintegrierte Schulform, die alle Schulabschlüsse anbietet. Ähnlich ist es bei den anderen Bundesländern mit derselben Zahl. So steht die 3 nur in Bayern für die klassische Dreigliedrigkeit aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium. In Berlin gibt es neben dem Gymnasium dagegen zwei vollintegrierte Schulformen (Integrierte Sekundarschule und Gemeinschaftsschule), in Brandenburg eine vollintegrierte und eine, die je nach Standort kooperativ oder teilintegriert ist (Integrierte Gesamtschule und Oberschule).
Die neuen Schulformen arbeiten mit ganz unterschiedliche Modellen der Schulorganisation: Einige unterrichten Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen im gemeinsamen Klassenverband, andere organisieren das Lernen ab einer bestimmten Klassenstufe in Niveaukursen, wieder andere führen getrennte Bildungsgänge, die nur punktuell kooperieren. Welches dieser Modelle in einer Schulform Anwendung findet, entscheidet das Kultusministerium des Bundeslandes. In einigen Ländern macht es jedoch nur Rahmenvorgaben und überlässt es der einzelnen Schule vor Ort, mit welchen Formen der Differenzierung sie arbeiten möchten. Dies gilt etwa für die Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen, die Oberschule in Brandenburg oder die Realschule Plus in Rheinland-Pfalz. In diesen Fällen kann dieselbe Schulform also je nach Schulstandort unterschiedlich organisiert sein.
Die vollintegrierten und einige der kooperativen Schulformen führen in der Sekundarstufe I den gymnasialen Bildungsgang. Doch nicht überall kann dort auch auf direktem Weg das Abitur erlangt werden, wie es im Gymnasium der Fall ist. Denn in den meisten Bundesländern ist das Vorhalten einer gymnasialen Oberstufe (Sek II) für diese Schulformen lediglich optional. Daher kann die Abituranbindung je nach Schulstandort sehr unterschiedlich aussehen: Manche Schulstandorte unterhalten eine eigene gymnasiale Oberstufe. Andere kooperieren mit einem benachbarten Schulstandort, der seinerseits eine gymnasiale Oberstufe führt (dies kann wiederum eine integrierte/kooperative Schulform oder aber ein Gymnasium sein). Schließlich gibt es Schulstandorte, an denen die Schülerinnen und Schüler bzw. ihre Eltern den Wechsel an eine Schule mit gymnasialer Oberstufe nach Klassenstufe 10 selbst organisieren müssen. Vergleichsweise konsequent ist die Abituranbindung von Integrierten Sekundarschulen in Berlin, Oberschulen in Bremen, Stadtteilschulen in Hamburg und Integrierten Gesamtschulen in Nordrhein-Westfahlen. Hier haben alle Schulstandorte entweder eine eigene gymnasiale Oberstufe oder einen festen Kooperationspartner.
Schulformen, die denselben oder einen ähnlichen Namen tragen, sind nicht notwendig gleich: So ist etwa die Oberschule, die in Bremen, Brandenburg, Niedersachsen und Sachsen angeboten wird, je nach Bundesland eine Verbindung aus Haupt- und Realschule oder aber eine vollintegrierte Schule, die den gymnasialem Bildungsgang einschließt. Die Mittelschule in Bayern ist im Wesentlichen eine Hauptschule und nicht zu verwechseln mit der Hessischen Mittelstufenschule, die Haupt- und Realschulbildungsgang kooperativ verbindet.
Neben den allgemeinen Schulen gibt es in allen Bundesländern separate Förderschulen für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Sie untergliedern sich in Schultypen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten, darunter etwa Emotionale und soziale Entwicklung, Lernen, Sehen, körperliche und motorische Entwicklung, Sprache u.a.m. Da an vielen Förderschulen nicht nach einem bildungsgangspezifischen Lehrplan unterrichtet wird, ist eine pauschale Zuordnung zu Bildungsgängen, wie sie in dieser Grafik für die Schulformen des allgemeinen Schulsystems vorgenommen wurde, hier nicht möglich. Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, ist indes auch in die deutsche Förderschullandschaft Bewegung gekommen (
Interner Link: Kerbel: Inklusion: Eine Schule für alle Kinder? ).