In der "modernen Wissensgesellschaft" wird Bildung geradezu fetischisiert. Im Wettbewerb mit anderen "Wirtschaftsstandorten", so heißt es allenthalben, sei ein hohes Qualifikationsniveau der Bevölkerung ein entscheidender Standortfaktor und eine Vermehrung des "Humankapitals" der Schlüssel für wirtschaftliche Prosperität. Glaubt man dem Mainstream in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik, kann Bildung überdies fast alle gesellschaftlichen Übel heilen oder zumindest eindämmen, seien es ausufernde Kriminalität, exzessiver Drogenmissbrauch, jugendliche Aggressivität, gewalttätiger Rechtsextremismus oder (Kinder-)Armut und soziale Ungleichheit.
Wenn es um die Erklärung und Bekämpfung gesellschaftlicher Probleme geht, steht das Verhältnis von Armut und Bildung im Mittelpunkt fast aller Debatten. Sowohl mit Blick auf die Ursachen (analytisch) wie auch mit Blick auf die Verringerung bzw. Verhinderung von Armut (politisch-strategisch) erscheint der Faktor Bildung als dominant: Armut wird in Deutschland häufig auf Bildungsmängel zurückgeführt und daher konzentrieren sich Gegenmaßnahmen folgerichtig auf bildungspolitische Maßnahmen. Es ist jedoch fraglich, ob der Hauptgrund für die soziale Polarisierung der Gesellschaft wirklich in einer wachsenden Bildungsungleichheit und kulturellen Defiziten der Unterschichtangehörigen liegt, anders gesagt: ob sich die soziale Spaltung unserer Gesellschaft durch mehr oder eine bessere Bildung für alle bewältigen lässt.
Bildung ist zweifellos ein Wert an sich und – folgt man dem liberalen Vordenker und Soziologen Ralf Dahrendorf – ein soziales Bürgerrecht, das allen Gesellschaftsmitgliedern zusteht. Hier wird gleichwohl argumentiert, dass eine Blickverengung auf (gescheiterte) Bildungsbiografien sozial Benachteiligter von den eigentlichen Wurzeln der sich ständig vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich ablenkt und zur Individualisierung, Psychologisierung bzw. Pädagogisierung eines sozioökonomischen Kardinalproblems der Gesellschaftsentwicklung führt, dessen erfolgreiche Lösung nur mittels einer Umverteilung materieller Ressourcen von oben nach unten möglich ist.
In einem reichen Land wie der Bundesrepublik beruht Armut auf zu hoher sozialer Ungleichheit. Um die Armut zu verringern, muss daher der im Übermaß vorhandene, aber in wenigen Händen konzentrierte Reichtum umverteilt werden. Vor einer entsprechenden Steuerpolitik aber schrecken viele Parteien zurück und verweisen stattdessen auf die überragende Rolle der Bildung zur Bekämpfung von Armut. Die dafür notwendigen Mittel aber werden nicht bereitgestellt. So wird alleinstehenden Erwachsenen ab 1. Januar 2017 im Hartz-Regelbedarf gerade einmal 1,05 Euro pro Monat für Bildung gewährt, ihren Partner(inne)n sogar nur 0,94 Euro. Symptomatisch war auch das Jahresgutachten 2016/17 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit dem Titel "Zeit für Reformen", welches statt einer Wiedererhebung der Vermögensteuer die Einführung eines verpflichtenden Vorschuljahres empfahl – Bildung ja, Umverteilung nein. Letztere ist jedoch die unabdingbare Voraussetzung für eine bessere Ausstattung der öffentlichen Schulen und eine umfassendere Bildung gerade auch der Kinder aus weniger privilegierten Familien.
Bildungsdefizite – Hauptursache von Kinderarmut?
Um die Lebenssituation sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler zu kennzeichnen, wird häufig der zur Jahrtausendwende von der Soziologin Jutta Allmendiger in die Fachdebatte eingeführte Begriff "Bildungsarmut" verwendet. Tatsächlich schlägt sich Armut nicht bloß als chronisches Minus auf dem Bankkonto oder als gähnende Leere im Portemonnaie nieder, sondern führt auch zu vielfältigen Benachteiligungen, etwa im Hinblick auf die mangelnde (Schul-)Bildung der Betroffenen. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, Armut erschöpfe sich in Bildungsdefiziten oder basiere primär darauf. Vielmehr ist das Verhältnis von Armut und Schulbildung erheblich komplizierter, als es zunächst scheint, und der Begriff "Bildungsarmut" missverständlich, wenn nicht irreführend.
Ungewollt verleitet der Begriff "Bildungsarmut" zu dem Irrglauben, eine gute Schulbildung biete die Gewähr für einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf liberalisierten Arbeitsmärkten sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Armut in der Herkunftsfamilie zieht oftmals Bildungsdefizite der davon betroffenen Kinder nach sich. Der umgekehrte Effekt ist hingegen kaum signifikant: Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt. Armut führt in aller Regel zur Bildungsbenachteiligung der davon Betroffenen, Bildungsbeteiligung aber nicht zu Reichtum. Pointiert formuliert: Armut kann zwar auf die Dauer dumm machen, Dummheit deshalb jedoch noch lange nicht arm.
Armut und Bildung stehen in einem Wechselverhältnis zueinander, aber nicht in dem Sinne, dass Bildungsdefizite der Eltern die Kinderarmut herbeigeführt hätten. Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören zwar zu den größten Bildungsverlierer(inne)n, ihre Armut basiert jedoch selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, denn die Letzteren sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut, weil die Chancen eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt und Berufskarrieren heute immer stärker an Qualifikationen gebunden sind, die man an (Hoch-)Schulen erwirbt.
Wenn man so tut, als führten hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut, wird ausgerechnet den von Armut Betroffenen – im Sinne eines individuellen Versagens (der Eltern) – die Verant-wortung dafür zugeschrieben. Die gesellschaftlich bedingte Begrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten gerät dabei ebenso aus dem Blick wie die politischen Strukturzusammenhänge, die Armut als gesellschaftliches Phänomen bedingen. Die soziale Ungleichheit des Bildungserfolgs geht wesentlich auf die Ungleichheit der materiellen Lebensverhältnisse zurück.
Sowenig ein ökonomistisch verkürzter Armutsbegriff das Phänomen in seiner ganzen Komplexität erfasst, sowenig Sinn macht ein kulturalistisch verkürzter Armutsbegriff. Ohne die Berücksichtigung der Schlüsselrolle materieller Güter für die Existenz, das Ansehen und die Wertschätzung eines Menschen im Gegenwartskapitalismus kann das Problem der Armut nicht verstanden werden. Geradezu paradox erscheint, dass die überragende Bedeutung des Geldes sowie seiner halbwegs gleichmäßigen und gerechten Verteilung auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ausgerechnet zu einer Zeit immer häufiger angezweifelt wird, in der es aufgrund einer fortschreitenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung fast aller Lebensbereiche ständig an Relevanz für die Grundversorgung und den gesellschaftlichen Status von Individuen gewinnt. Wer nicht über ausreichende materielle Mittel verfügt, kann keine kostenpflichtigen Weiterbildungskurse absolvieren, um seine persönlichen Arbeitsmarktchancen zu verbessern und keine private Rentenversicherung abschließen, um sich vor Altersarmut zu schützen. Schon ein Ausflug ins städtische Spaßbad, das vielerorts die öffentliche Schwimmhalle ersetzt hat, kommt angesichts der gestiegenen Eintrittspreise für so manche arme Familien nicht in Frage.
Konsequenzen für die Armutsbekämpfung: "Bildung für alle" statt Umverteilung des Reichtums?
Wenngleich Bildung unter günstigen Umständen fraglos zum individuellen beruflichen Aufstieg taugt, versagt sie als gesellschaftliches Patentrezept. Denn die Vorteile, die ein höherer Bildungsabschluss dem Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt einbringt, beruhen gerade darauf, dass andere Mitbewerber den entsprechenden Abschluss nicht vorweisen können. Wenn es der Bildungspolitik tatsächlich gelänge, sämtliche benachteiligten Jugendlichen zu höheren Bildungsabschlüssen zu führen, was ihnen sehr zu wünschen wäre, würde dies nicht unbedingt größere Berufs- und Einkommenschancen für alle bedeuten. Vielmehr würde sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze womöglich nur auf einem höheren Bildungsniveau, nicht aber mit größeren individuellen Erfolgschancen konkurrieren. Eine bessere (Aus-)Bildung erhöht die Konkurrenzfähigkeit eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, Erwerbslosigkeit und (Kinder-)Armut vermag sie jedoch nicht zu beseitigen.
Zwar kann ein Individuum durch die Beteiligung an Bildungsprozessen einer prekären Lebenslage entkommen, eine gesamtgesellschaftliche Lösung bietet sie allein jedoch nicht. Die bestehenden Ungleichheitsstrukturen werden durch das mehrgliedrige Bildungssystem der Bundesrepublik nicht aufgebrochen, sondern reproduziert und zementiert. Nur wer sich der Grenzen einer Strategie bewusst ist, die auf vermehrte Bildungsangebote für Kinder aus sozial benachteiligten Familien setzt, kann einen Beitrag zur Bekämpfung des Armutsrisikos dieses Personenkreises leisten.
Ohne eine Verbesserung der Bildungseinrichtungen und der Bildungschancen für alle (Wohn-)Bürgerinnen und Bürger bzw. ihre Kinder ist die Armut nicht erfolgreich zu bekämpfen. Aber nur mittels eines Ausbaus im Bildungsbereich lässt sich das Problem ebenso wenig lösen. Vielmehr bedarf es darüber hinaus einer Vielzahl anderer Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur (etwa der öffentlichen Kinderbetreuung, des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherung) einerseits sowie zur Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen andererseits. Schließlich können Bildungspolitik und Pädagogik weder eine gerechte Steuerpolitik noch eine die Armut konsequent bekämpfende Sozialpolitik ersetzen.
Bildungsbeteiligung ist kein Garant für eine gesicherte materielle Existenz. Andernfalls hätten nicht über 10 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor einen Hochschulabschluss. So wichtig Bildungs- bzw. Kulturangebote für Kinder sind, so wenig taugen sie allein als Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut. Zwar werden die Armen häufig dumm (gemacht), die Klugen aber deshalb nicht automatisch reich. Bildung ist daher auch nur ein begrenzt taugliches Mittel gegen (Kinder-)Armut, denn sie kann zwar Partizipationsdefizite junger Menschen mildern, die auf Unkenntnis beruhen, aber nicht verhindern, dass materielle Ungleichgewichte auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen durchschlagen.
Da die "Bildungsferne" armer Familien eine Folge gravierender materieller Defizite ist, die teilweise über Generationen hinweg bestehen, lässt sich die Benachteiligung von Kindern nur dadurch verringern, dass der ursächliche Mangel an finanziellen Ressourcen behoben wird. Wenn man Inklusion nicht bloß als (sonder)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in einem sehr viel umfassenderen Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Grundlage dafür müsste ein Konzept bilden, welches unterschiedliche Politikfelder (Beschäftigungs-, Sozial- und Steuerpolitik) miteinander verknüpft, ohne die Bildungspolitik aus ihrer Verantwortung für bessere Entwicklungschancen der nachwachsenden Generation zu entlassen.