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Das Tor zur Universität - Abitur im Wandel | Bildung | bpb.de

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Interaktive Grafik: Arbeitslosigkeitrisiko Infografik: Bevölkerungsstruktur in Deutschland Infografik: Wie veränderten sich die Geburtenzahlen in den Bundesländern? (1990-2012) Infografik: Arbeitnehmer im Inland nach Wirtschaftssektoren (1950-2012) Glossar Redaktion Digitalisierung und Bildung Stimmt's? “Am Anfang wollte ich einfach nur Mathe schwänzen”

Das Tor zur Universität - Abitur im Wandel

Rainer Bölling

/ 15 Minuten zu lesen

In vielen Ländern der westlichen Welt führt der Weg zum Studium bis heute über eine universitäre Aufnahmeprüfung. Auch in Deutschland war das lange der Fall. Mit dem Abiturreglement von 1834 wurde schließlich bestimmt, dass man sich nur mit dem Reifezeugnis einer höheren Schule an der Universität einschreiben kann. Wie haben sich die Anforderungen des Abiturs seither gewandelt?

Schülerinnen und Schüler in einer Abitursprüfung (© dpa)

Einleitung

Der 17-Jährige, der sich im Spätsommer 1835 der Reifeprüfung stellte, hatte hohe Anforderungen zu erfüllen. Im Jahr zuvor war in Preußen eine neue Ordnung in Kraft getreten, die das Bestehen dieser Prüfung zur Voraussetzung für ein Hochschulstudium mit abschließender Staatsprüfung machte. Vorbei waren die Zeiten, als man selbst mit einem Zeugnis der "Untüchtigkeit" ein Studium aufnehmen konnte. Dies war nach den ersten preußischen Abiturreglements von 1788 und 1812 durchaus noch möglich gewesen. Wie Preußen forderten auch die übrigen Staaten des Deutschen Bundes seit 1834 ein "Zeugnis der wissenschaftlichen Vorbereitung zum Studium" als Voraussetzung für die Immatrikulation an einer Universität.

So musste unser Kandidat in einer Augustwoche sieben, unter Aufsicht geschriebene Arbeiten abliefern. Jeweils fünf Stunden standen für einen deutschen und einen lateinischen Aufsatz sowie eine mathematische Arbeit zur Verfügung. Je zwei bis drei Stunden dauerte die Übersetzung kürzerer deutscher Texte ins Lateinische und Französische und eines griechischen Textes ins Deutsche. Aufgrund einer Sonderregelung für die Rheinprovinz musste der Kandidat auch noch einen fünfstündigen Religionsaufsatz schreiben. Die mündliche Prüfung fand einen Monat später an drei Tagen in einer Gruppe von 14 Schülern statt: Lateinisch und Griechisch, Französisch, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Religion. Aus verschiedenen Gründen konnten die eigentlich vorgeschriebenen Prüfungen in Deutsch, philosophischer Propädeutik und Naturbeschreibung nicht stattfinden. Am 24. September 1835 stellte die Prüfungskommission dem "Zögling des Gymnasiums zu Trier" das Reifezeugnis in der Hoffnung aus, "dass er den günstigen Erwartungen, wozu seine Anlagen berechtigen, entsprechen werde".

Ob diese Hoffnung berechtigt war, ist bis heute umstritten, denn der Abiturient war niemand anderes als Karl Marx. Mit seinem Schulabschluss gehörte er zu einer verschwindend kleinen Bildungselite, stellten die Abiturienten um die Mitte des 19. Jahrhunderts doch deutlich weniger als ein Prozent eines Altersjahrgangs. Auch mehr als ein Jahrhundert später lag dieser Wert in der Bundesrepublik bei nur sechs Prozent (1960). Dazu trug auch das bis dahin an höheren Schulen erhobene Schulgeld bei. Erst infolge der Bildungsreformen seit den 1960er Jahren stieg der Anteil der Abiturienten mit allgemeiner Hochschulreife auf rund 30 Prozent im Jahre 2006 an, zu denen noch 13,5 Prozent mit Fachhochschulreife kommen. Hat die Abiturprüfung selbst auch einen so grundlegenden Wandel erfahren?

Das preußische Gymnasialabitur im 19. Jahrhundert

Die hohen Anforderungen des Abiturs führen traditionell und bis heute zu Klagen über die "Überbürdung" der Gymnasiasten. Schon im Jahre 1836 monierte der Medizinalrat Dr. Karl Lorinser in einer Fachzeitschrift, die Gesundheit und Lebenstüchtigkeit der Gymnasiasten nehme durch die Vielzahl der Unterrichtsgegenstände sowie die umfangreichen Hausaufgaben massiv Schaden. Seine Kritik, die sich in erster Linie gegen die neuhumanistische Bildungskonzeption richtete, entfaltete eine nachhaltige öffentliche Wirkung. Das Kultusministerium reagierte 1837 mit der Mahnung an die Lehrer, "die einzelnen Anforderungen an die Abiturienten so zu ermäßigen, dass jeder Schüler von hinreichenden Anlagen und von gehörigem Fleiße der letzten Prüfung mit Ruhe und ohne ängstliche Vorbereitungsarbeit entgegensehen könnte". Spürbare Erleichterungen brachte aber erst die Revision der Prüfungsordnung von 1856, mit der die mündlichen Prüfungen in Deutsch, philosophischer Propädeutik, Französisch, Naturbeschreibung und Physik entfielen. Bis zum Ende der preußischen Monarchie blieb es bei Lateinisch, Griechisch und gegebenenfalls Französisch, Mathematik, Geschichte und Religion als mündlichen Prüfungsfächern. Zudem konnte nun ein als reif befundener Abiturient von der gesamten mündlichen Prüfung befreit werden, wie andererseits ein Kandidat, dessen schriftliche Arbeiten mehrheitlich nicht ausreichten, von der weiteren Prüfung auszuschließen war.

In der preußischen Reformzeit hatte das neuhumanistische Bildungsideal Wilhelm von Humboldts die alten Sprachen in das Zentrum des Gymnasiums gerückt. Durch die Orientierung an der zu einem monumentalen Vorbild stilisierten griechischen Kultur sollte es allgemeine Menschenbildung und Nationalerziehung vermitteln. Vom Stundenvolumen her blieb das Griechische allerdings hinter dem Lateinischen zurück, das in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein als Wissenschafts- wie auch Verkehrssprache praktische Bedeutung hatte. Dem Nachweis lateinischer Sprachkompetenz dienten nicht nur die beiden schriftlichen Arbeiten, sondern auch die bis 1892 geltende Vorgabe, in der mündlichen Prüfung den Schülern "Gelegenheit zu geben, eine gewisse Geübtheit im mündlichen Gebrauche der lateinischen Sprache zu zeigen". Drei Jahre nach der Abiturordnung von 1834 wurde die Dominanz des Lateinischen noch verstärkt. Von 280 Wochenstunden in neun Schuljahren bekam es nicht weniger als 86 zugesprochen, das Griechische nur noch 42. Der neue Lehrplan von 1837 bedeutete "den staatlich verfügten Abfall von der neuhumanistischen Bildungskonzeption", indem der Schwerpunkt der Bildung von den Inhalten oder Werten der Antike ganz auf formale Ziele gelegt wurde.

Diese Ausrichtung war schon im Vormärz umstritten, wobei besonders der lateinische Aufsatz in der Kritik stand. Die Prüfungsordnung von 1834 forderte "die freie lateinische Bearbeitung eines dem Examinanden durch den Unterricht hinreichend bekannten Gegenstandes, wobei, außer dem allgemeinen Geschick in der Behandlung, vorzüglich die erworbene stilistische Korrektheit und Fertigkeit im Gebrauche der lateinischen Sprache in Betracht kommen" sollte. In der Praxis wurden weithin die lateinischen Schriftsteller nicht so sehr wegen des Inhalts gelesen, sondern dienten als Fundgrube für stilistisch vorbildliche Wendungen, die dann ihrer Verwertung im Aufsatz harrten. Daher prangerte der Gymnasiallehrer Hermann Köchly es schon 1847 als verbreiteten Irrtum an, "die altklassische Bildung mit Lateinreden und Lateinschreiben zu verwechseln". Doch die Mehrheit der Philologen beharrte darauf, dass der lateinische Aufsatz als Prüfungsleistung bestehen bleiben sollte.

Sein Ende brachte nach jahrzehntelangen Diskussionen erst ein Machtwort des Monarchen. Auf der Schulkonferenz im Dezember 1890 hielt Wilhelm II. in einer Rede den anwesenden Schulfachleuten vor: "Wer selber auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Kulissen gesehen hat, der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor Allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen junge nationale Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer." Sein Fazit lautete: "Weg mit dem lateinischen Aufsatz, er stört uns, und wir verlieren unsere Zeit für das Deutsche darüber." Gehorsam strich das Kultusministerium den Aufsatz mit sofortiger Wirkung. An seine Stelle trat eine Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche (Abiturordnung 1892), die aber schon 1901 wieder wegfiel. Seitdem waren im preußischen Gymnasialabitur nur noch vier schriftliche Prüfungsleistungen zu erbringen: ein deutscher Aufsatz, eine mathematische Arbeit, eine Übersetzung ins Lateinische und eine Übersetzung aus dem Griechischen.

Abitur nach Schultypen (1900 - 1972)

Die Jahrhundertwende brachte zugleich den Abschluss heftiger Debatten um die Struktur des höheren Schulwesens. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in vielen Städten höhere Schulen entstanden, die sich nicht am humanistischen Bildungsideal orientierten, sondern an "realen" Bildungsgütern wie neueren Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Diese Schulen wurden erstmals 1859 unter der Bezeichnung "Realschulen" staatlich normiert, konnten aber zunächst keine Hochschulreife verleihen. Das letzte Drittel des Jahrhunderts stand dann ganz im Zeichen der Debatte um die Berechtigungen des neusprachlichen Realgymnasiums, an dem auch Latein gelehrt wurde, und der Oberrealschule mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Nach einer weiteren Schulkonferenz im Juni 1900 verlieh ihnen Wilhelm II. schließlich die ersehnte Gleichberechtigung mit dem Gymnasium. Die Abiturienten der neuen Schulformen mussten allerdings nach der Ordnung von 1901 eine schriftliche Prüfung mehr ablegen als die Gymnasiasten. Diese gewachsene Dreigliederung prägte die Struktur des höheren Schulwesens in Preußen und anderen deutschen Staaten bis zur Oberstufenreform der 1970er Jahre. In der Weimarer Republik trat noch die Deutsche Oberschule hinzu, doch sollte sie längerfristig keine Rolle spielen.

Die Anforderungen der neuen Abiturprüfungsordnung von 1926 unterschieden sich nach Schultypen. Neben dem deutschen Aufsatz, bei dem die Prüflinge erstmals zwischen vier Aufgaben wählen konnten, und der mathematischen Arbeit gab es jetzt für alle Schultypen zwei weitere schriftliche Prüfungen. Am altsprachlichen Gymnasium wurden nur noch Übersetzungen ins Deutsche gefordert, womit das Lateinschreiben als Abituranforderung in Preußen sein Ende fand. Als neues Element kam eine für alle Schüler verbindliche Prüfung in den Leibesübungen hinzu. Eine Befreiung von der mündlichen Prüfung war nicht mehr möglich. Vielmehr konnte sich diese auf alle Unterrichtsfächer erstrecken, wobei der Schüler ein Fach wählen und der Prüfungsausschuss weitere Fächer kurzfristig bestimmen durfte.

Die Prüfungsordnung von 1926 überdauerte nicht nur die Weimarer Republik, sondern auch das "Dritte Reich". Zwar wurde 1937/38 in ganz Deutschland die höhere Schule auf acht Jahre verkürzt, die Schultypenvielfalt auf eine Oberschule für Jungen bzw. Mädchen und das altsprachliche Gymnasium als Sonderform reduziert und Englisch als erste (und einzige neuere) Fremdsprache festgelegt, aber eine neue Abiturordnung brachte die nationalsozialistische Schulpolitik nicht hervor. Abiturprüfungen fanden ohnehin immer weniger statt: Schon 1937 entfielen für die beiden Jahrgänge, die wegen der Verkürzung der Schulzeit gleichzeitig Abitur machten, sämtliche schriftliche Prüfungen. Nach Kriegsbeginn erhielten dann alle Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen, die während des Schuljahres zum Heeresdienst einberufen wurden oder Kriegshilfsdienste leisteten, ohne jegliche Prüfung den Reifevermerk. Auch für die übrigen fanden Prüfungen allenfalls in vereinfachter Form statt, bis im Herbst 1944 der Unterricht in den Abschlussklassen völlig zum Erliegen kam.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schulpolitik wieder föderal geregelt. Im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen wurden mit der Schulreform zunächst sämtliche nationalsozialistischen Maßnahmen im höheren Schulwesen revidiert. Nach den Erfahrungen der NS-Diktatur versuchte man den Humanismus wiederzubeleben. Die preußische Prüfungsordnung von 1926 konnte so mit geringfügigen Änderungen (z.B. die Einführung der sechsstufigen Notenskala, Düsseldorfer Abkommen 1955) fortbestehen. 1960 wurde die Zahl der möglichen Fächer für die mündliche Prüfung auf sechs begrenzt, unter denen die vier schriftlichen sowie ein vom Schüler gewähltes Fach waren. 1963 rückte zudem Gemeinschaftskunde in den Kreis dieser Fächer auf. Diese Neuerungen wurden auch in die Prüfungsordnung von 1965 übernommen, die vor allem formale Präzisierungen brachte. Neu war hier die bis heute gültige Bestimmung, dass die Abiturprüfung nur einmal wiederholt werden darf.

Die Oberstufenreform 1972

Eine einschneidende Veränderung bedeutete die Vereinbarung der Kultusminister zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe vom Juli 1972. An die Stelle der überkommenen Schultypen mit Unterricht im Klassenverband trat jetzt das Kurssystem in der Oberstufe, das den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bot, individuelle Schwerpunkte zu setzen. In drei Aufgabenfeldern, dem sprachlich-literarisch-künstlerischen, dem gesellschaftswissenschaftlichen und dem mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen, sollen "grundlegende Einsichten in fachspezifische Denkweisen und Methoden" exemplarisch vermittelt werden. Das Lernangebot der reformierten Oberstufe besteht aus Grundkursen, die zumeist drei Wochenstunden umfassen, und zwei fünf- bis sechsstündigen Leistungskursen, die vertieftes wissenschaftspropädeutisches Verständnis und erweiterte Kenntnisse vermitteln sollen. Die Leistungen in der Qualifikationsphase (Jahrgangsstufe 12 und 13) gehen zu zwei Dritteln in die Gesamtnote ein, die in einem Punktesystem ermittelt wird. Die Abiturprüfung selbst besteht nur noch aus je einer schriftlichen Prüfung in den beiden Leistungskursen und einem Grundkurs sowie einer mündlichen Prüfung in einem weiteren Grundkurs. Zudem können die Abiturienten in vielen Fächern bei den schriftlichen Prüfungen unter mehreren Aufgaben auswählen.

Nachdem Hochschulvertreter eine nachlassende Studierfähigkeit der Abiturienten beklagt hatten, sollten die Schülerinnen und Schüler durch die Oberstufenreform und die individuelle Spezialisierung besser auf ein Studium vorbereitet werden. Andererseits führten die nach Georg Pichts Warnung voreinem drohenden Akademikermangel (1964) stark ansteigenden Studierendenzahlen dazu, dass der für das Medizinstudium schon bestehende Numerus clausus auf zahlreiche weitere Fächer ausgeweitet wurde. Dass die Abiturnoten nun das Hauptkriterium für die Vergabe von Studienplätzen bildeten, konterkarierte die Reform. Denn mancher Schüler machte seine Entscheidungen über Kursfächer nicht nur von Interessen und Studienneigungen abhängig, sondern auch davon, in welchem Fach bzw. bei welcher Lehrerin oder welchem Lehrer sich leichter gute Noten erreichen ließen. Infolgedessen wurde die Oberstufenreform schon bald von erneuten Klagen über die unzureichende Allgemeinbildung und fehlende Studierkompetenz der Schulabsolventen begleitet.

Die kontroverse öffentliche Diskussion führte zu einer Revision der Reform, bei der die Wahlmöglichkeiten der Schüler schrittweise eingeschränkt und Belegungsverpflichtungen ausgeweitet wurden. Nach der aktuellen Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2006 kann die Abiturprüfung vier oder fünf Fächer umfassen, von denen mindestens drei schriftlich und eines mündlich geprüft werden. Zwei von ihnen müssen das Fach Deutsch, eine Fremdsprache oder Mathematik sein. Zudem sind keine Leistungskurse mehr vorgeschrieben, sondern nur noch mindestens zwei "Fächer mit erhöhtem Anforderungsniveau".

Diesen Spielraum hatte schon vor Jahren Baden-Württemberg genutzt, in dem die Leistungskurse abgeschafft wurden und jetzt unter den vier schriftlichen Abiturfächern die drei vierstündig unterrichteten "Kernkompetenzfächer" Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache obligatorisch sind. Anstelle der mündlichen Prüfung in einem weiteren Fach kann auch eine besondere Lernleistung eingebracht werden. Ähnliche Regelungen mit fünf Abiturfächern haben so unterschiedliche Länder wie Bayern und Mecklenburg-Vorpommern getroffen, und weitere tendieren in diese Richtung. Mit der Stärkung der ehemaligen Hauptfächer nähert sich die Entwicklung wieder dem Stand vor der Oberstufenreform, wenngleich die Abiturfächer nicht mehr durch festgeschriebene Schultypen vorgegeben sind. Der zu erwartende Rückgang der Schülerzahlen dürfte aber dazu führen, dass künftig viele Gymnasien nur noch ein begrenztes Fächerspektrum anbieten können.

Zentralabitur und Schulzeitverkürzung

Eine grundlegende Neuerung bedeutete für viele Bundesländer die Einführung zentraler Aufgabenstellungen für die schriftliche Abiturprüfung. Das Zentralabitur war in Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland schon vor bzw. bald nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden. In den übrigen Ländern begnügte sich die Schulaufsicht nach preußischem Vorbild mit der Genehmigung und Auswahl der von den Lehrern eingereichten Aufgaben. Mit der Wiedervereinigung traten 1990 fünf Bundesländer hinzu, die bis auf Brandenburg das aus der DDR gewohnte Zentralabitur beibehielten. Eine dadurch ausgelöste Debatte über ein bundesweites Zentralabitur blieb aber in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ergebnislos. Rückenwind erhielt das Projekt erst nach der Jahrtausendwende durch das mäßige Abschneiden Deutschlands in den PISA-Studien, das den Blick für die Vergleichbarkeit schulischer Abschlüsse schärfte. So führten in den vergangenen Jahren alle Länder bis auf Rheinland-Pfalz das Zentralabitur ein.

Im Sommer 2007 forderte Bundesbildungsministerin Annette Schavan, künftig in ganz Deutschland dieselben Abituraufgaben zu stellen. Das würde allerdings weitgehend einheitliche Schuljahres- und Ferientermine in allen Bundesländern voraussetzen. Zudem hätten fehlerhafte bzw. unklare Aufgaben, wie sie 2007 und 2008 in Nordrhein-Westfalen für Aufsehen sorgten, bundesweite Folgen. Schließlich bietet ein gesamtdeutsches Zentralabitur noch keine Garantie für eine einheitliche Vorbereitung und Bewertung. Und warum sollte Deutschland in puncto Zentralismus gerade Frankreich überholen wollen? Dort wird das Baccalauréat zwar im Prinzip zentral geschrieben, doch schon seit Jahrzehnten werden nach Académie-Bezirken unterschiedliche Aufgaben desselben Anspruchsniveaus gestellt. Dieses über einheitliche Bildungsstandards zu sichern, muss auch in Deutschland die vorrangige Aufgabe sein.

Der Weg zum Abitur wird allerdings durch die Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre und die dadurch bedingte Verdichtung des Unterrichts schwieriger. Die bisherige Regelschulzeit von 13 Jahren ging auf zwei Faktoren zurück. Schon im 19. Jahrhundert hatte sich eine Gliederung des Gymnasiums in neun Jahrgangsklassen herausgebildet. Die 1920 eingeführte vierjährige Grundschule bedeutete für angehende Gymnasiasten dann zumeist ein zusätzliches Schuljahr. Schon in der Weimarer Republik forderte der Preußische Städtetag daher eine Verkürzung der höheren Schule auf acht Jahre, was aber erst die Nationalsozialisten 1937 durchsetzten. Während dies in der Bundesrepublik schnell revidiert wurde, dauerte der Weg zum Abitur in der DDR weiterhin nur zwölf Jahre.

Nach 1990 ergab sich daraus erneuter Handlungsbedarf. Besonders Vertreter der Wirtschaft und die Finanzminister der Länder forderten eine zwölfjährige Schulzeit bis zum Abitur und konnten dabei auch auf das Vorbild der meisten europäischen Staaten verweisen. Doch nach längeren Diskussionen hielt die KMK 1995 am neunjährigen Gymnasium als Regel fest, beschloss aber auch ein Abitur nach acht Jahren anzuerkennen, sofern insgesamt wenigstens 265 Wochenstunden erteilt worden sind. Nach der Jahrtausendwende entschieden sich jedoch innerhalb weniger Jahre alle Bundesländer für das achtjährige Gymnasium (G 8). Im Schatten von PISA und Zentralabitur nahm die Öffentlichkeit dies zunächst kaum zur Kenntnis. Erst als die damit verbundene Ausweitung des wöchentlichen Unterrichts in vielen Familien als Problem wahrgenommen wurde, kam eine öffentliche Diskussion in Gang, die nun umso heftiger ausfiel. Ihren Höhepunkt erreichte sie im hessischen Landtagswahlkampf im Januar 2008 mit Demonstrationen von Schülerinnen und Schülern und Eltern gegen "G 8". Auch in der Presse wurde es als "bürokratischer Irrsinn", "pädagogisches Desaster" oder neue Form von "Kinderarbeit" kritisiert.

Es rächte sich nun, dass die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit in etlichen Bundesländern offenbar überhastet vorgenommen worden war. Wenn 10- bis 14-jährige Schülerinnen und Schüler zwischen 30 und 35 Wochenstunden Unterricht zu absolvieren haben, so ist das in der heute üblichen Fünftagewoche nicht ohne ein bis zwei Tage Nachmittagsunterricht möglich. Für Ganztagsunterricht aber fehlt den meisten Gymnasien die notwendige Ausstattung. Zudem blieb die Anpassung der Lehrpläne hinter dem Tempo der Schulzeitverkürzung zurück, die zum Beispiel in Bayern im Herbst 2003 auch für die schon laufende Eingangsklasse des Gymnasiums beschlossen wurde. Unter dem Druck des öffentlichen Protestes beschloss die KMK im März 2008, den Ländern die Aufnahme von Übungs- und Vertiefungsunterricht in die Stundentafel zu ermöglichen, der auf die 265 Wochenstunden angerechnet wird. Zudem soll die Einrichtung von Ganztagsschulen und die Verbesserung der Über-Mittag-Betreuung an Halbtagsschulen gefördert werden.

Bis diese Maßnahmen greifen, wird noch viel Zeit ins Land gehen. Doch auch wenn einige Länder weiterhin die Möglichkeit bieten, in neun Jahren zum Abitur zu gelangen, steht das achtjährige Gymnasium als neue Regelform nicht in Frage. Mögen die Entwicklungen der vergangenen Jahre den deutschen Abiturienten wieder höhere Leistungen abverlangen - einem Prüfungsmarathon wie einst Marx werden sie sich nicht unterziehen müssen.

Quelle: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 49/2008)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Bd. 2, Stuttgart 1996, S. 209 - 219; Andrä Wolter, Das Abitur, Oldenburg 1987; Norbert Kamp, Das Abiturreglement von 1788, Diss. Univ. Essen 1988.

  2. Siehe Artikel 43 und 45 der Wiener Bundesbeschlüsse vom 12. Juni 1834, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 137 - 149.

  3. Das gesamte Abiturverfahren ist dokumentiert in: Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), 1. Abt., Bd. 1, Berlin 1975, S. 449 - 473 u. 1185 - 1219; Heinz Monz, Karl Marx. Grundlagen der Entwicklung zu Leben und Werk, Trier 1973, S. 302 - 319 u. 392 - 410.

  4. Vgl. Franzjörg Baumgart, Zwischen Reform und Reaktion. Preußische Schulpolitik 1806 - 1859, Darmstadt 1990, S. 106; Oskar Anweiler (Hrsg.), Bildungspolitik in Deutschland 1945 - 1990, Bonn 1992, S. 542; Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen 1997 bis 2006. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz Nr. 184, 2007, S. XVIII.

  5. Vgl. K.-E. Jeismann (Anm. 1), Bd. 2, S. 232ff.

  6. Zit. in: Ludwig Wiese (Hrsg.), Das höhere Schulwesen in Preußen, Berlin 1864, S. 492.

  7. Vgl. ebd., S. 492 - 504.

  8. Vgl. die Prüfungsordnungen von 1882, 1892 und 1901, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 1882, S. 366 - 414; 1892, S. 281 - 339; 1901, S. 933 - 950.

  9. So die Prüfungsordnung von 1882 (Zentralblatt 1882, S. 375).

  10. Vgl. die Stundentafeln bei Berthold Michael/Heinz-Hermann Schepp (Hrsg.), Die Schule in Staat und Gesellschaft, Göttingen 1993, S. 207. In den 280 Wochenstunden ist kein Sportunterricht enthalten.

  11. So Manfred Landfester, Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1988, S. 71.

  12. Zit. in: Johann Ferdinand Neigebaur, Die preußischen Gymnasien und höheren Bürgerschulen, Berlin 1835, S. 214.

  13. Zit. in: Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Bd. 2, Leipzig-Berlin 1921(3), S. 475.

  14. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890, Berlin 1891, S. 72f.; Erlass vom 27. 12. 1890, in: Zentralblatt (Anm.8) 1891, S.242.

  15. Vgl. Fritz Blättner, Das Gymnasium, Heidelberg 1960, S. 133 - 135 u. 223 - 229; Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, Bd. 1, Göttingen 1980, S. 64 - 87.

  16. Vgl. Zentralblatt (Anm. 8) 1926, S. 283 - 294.

  17. Vgl. Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule, Berlin 1938; Harald Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz, Göttingen 1985.

  18. Vgl. Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder 1936, 525 (30. 11. 1936); 1939, 484 (8. 9. 1939); 1944, 213 (5. 9. 1944).

  19. Vgl. Klaus-Peter Eich, Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen 1945 - 1954, Düsseldorf 1987, bes.S. 53ff.

  20. Vgl. die Neufassung vom 12 11. 1956 als Beilage zum Amtsblatt des Kultusministeriums NRW 1957, H. 1, S. 1 - 10.

  21. Vgl. Amtsblatt des Kultusministeriums NRW 1960, S. 97; 1963, S. 154; 1965, S. 177 - 188.

  22. Text bei O. Anweiler (Anm. 4), S. 168 - 171. Alle grundlegenden Bestimmungen auf dem Stand von 1988/89 bei Arno Schmidt, Das Gymnasium im Aufwind, Aachen 19942, S. 420 - 471.

  23. Vgl. Ulrich Schäfer, Länderstudie Deutschland, in: Wolfgang Mitter (Hrsg.), Wege zur Hochschulbildung in Europa, Köln 1996, S. 219 - 290, hier S. 228.

  24. Vgl. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, Olten 1964.

  25. Vgl. die Stellungnahmen der Westdeutschen Rektorenkonferenz und des Hochschulverbandes aus den Jahren 1977 bis 1987, in: A. Schmidt (Anm. 22), S. 489 - 504.

  26. Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II, in: www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_
    beschluesse/2008/2008_10_24_VB_Sek_II.pdf
    (31.10. 2008).

  27. Leitfaden für die gymnasiale Oberstufe - Abitur 2008, S.11 f., in: www.km-bw.de/servlet/PB/-s/1h1jfgi1iq31u2an9iyy19 i8c4a1h j uo56 / show / 1183199 /Leitfaden08Internet.pdf (31.10. 2008).

  28. Vgl. hierzu Tobias Hoymann, Umdenken nach dem Pisa-Schock, Marburg 2005. Hoymann plädiert für ein Zentralabitur auf der Grundlage eines Staatsvertrags zwischen den Ländern, sieht dafür aber kaum Realisierungschancen.

  29. Vgl. Bernard Trouillet, Länderstudie Frankreich, in: W. Mitter (Anm. 23), S. 1 - 140, hier S. 82ff.; T. Hoymann (Anm. 28), S. 19 - 22.

  30. Vgl. v. a. Christian Geyer, Kinder an die Macht!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19. 1. 2008; ders., Hände weg von unserer Kindheit!, in: FAZ vom 4. 2. 2008; Susanne Gaschke, Kinderarbeit, in: Die Zeit vom 7. 2. 2008; Reinhold Beckmann, Nachhilfe soll's dann richten, in: FAZ vom 16. 2. 2008. Dagegen abwägend Heike Schmoll, Emotionalisierter Gymnasialstreit, in: FAZ vom 12. 3. 2008.

  31. Vgl. Kultusminister wollen Ländern mehr Freiheit geben, in: FAZ vom 7. 3. 2008.

  32. Vgl. den Ländervergleich bei Judith Scholter, Mehr Mut zu G 8, in: Die Zeit vom 3. 4. 2008, S. 67.

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Dr. phil., geb. 1944; bis 2007 Lehrtätigkeit an den Universitäten Düsseldorf und Essen (Neuere Geschichte) und am Gymnasium Hochdahl in Erkrath; Dernbuschweg 24, 40625 Düsseldorf.
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