Einleitung
Der 17-Jährige, der sich im Spätsommer 1835 der Reifeprüfung stellte, hatte hohe Anforderungen zu erfüllen. Im Jahr zuvor war in Preußen eine neue Ordnung in Kraft getreten, die das Bestehen dieser Prüfung zur Voraussetzung für ein Hochschulstudium mit abschließender Staatsprüfung machte. Vorbei waren die Zeiten, als man selbst mit einem Zeugnis der "Untüchtigkeit" ein Studium aufnehmen konnte. Dies war nach den ersten preußischen Abiturreglements von 1788 und 1812 durchaus noch möglich gewesen.
So musste unser Kandidat in einer Augustwoche sieben, unter Aufsicht geschriebene Arbeiten abliefern. Jeweils fünf Stunden standen für einen deutschen und einen lateinischen Aufsatz sowie eine mathematische Arbeit zur Verfügung. Je zwei bis drei Stunden dauerte die Übersetzung kürzerer deutscher Texte ins Lateinische und Französische und eines griechischen Textes ins Deutsche. Aufgrund einer Sonderregelung für die Rheinprovinz musste der Kandidat auch noch einen fünfstündigen Religionsaufsatz schreiben. Die mündliche Prüfung fand einen Monat später an drei Tagen in einer Gruppe von 14 Schülern statt: Lateinisch und Griechisch, Französisch, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Religion. Aus verschiedenen Gründen konnten die eigentlich vorgeschriebenen Prüfungen in Deutsch, philosophischer Propädeutik und Naturbeschreibung nicht stattfinden. Am 24. September 1835 stellte die Prüfungskommission dem "Zögling des Gymnasiums zu Trier" das Reifezeugnis in der Hoffnung aus, "dass er den günstigen Erwartungen, wozu seine Anlagen berechtigen, entsprechen werde".
Ob diese Hoffnung berechtigt war, ist bis heute umstritten, denn der Abiturient war niemand anderes als Karl Marx.
Das preußische Gymnasialabitur im 19. Jahrhundert
Die hohen Anforderungen des Abiturs führen traditionell und bis heute zu Klagen über die "Überbürdung" der Gymnasiasten. Schon im Jahre 1836 monierte der Medizinalrat Dr. Karl Lorinser in einer Fachzeitschrift, die Gesundheit und Lebenstüchtigkeit der Gymnasiasten nehme durch die Vielzahl der Unterrichtsgegenstände sowie die umfangreichen Hausaufgaben massiv Schaden. Seine Kritik, die sich in erster Linie gegen die neuhumanistische Bildungskonzeption richtete, entfaltete eine nachhaltige öffentliche Wirkung.
In der preußischen Reformzeit hatte das neuhumanistische Bildungsideal Wilhelm von Humboldts die alten Sprachen in das Zentrum des Gymnasiums gerückt. Durch die Orientierung an der zu einem monumentalen Vorbild stilisierten griechischen Kultur sollte es allgemeine Menschenbildung und Nationalerziehung vermitteln. Vom Stundenvolumen her blieb das Griechische allerdings hinter dem Lateinischen zurück, das in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein als Wissenschafts- wie auch Verkehrssprache praktische Bedeutung hatte. Dem Nachweis lateinischer Sprachkompetenz dienten nicht nur die beiden schriftlichen Arbeiten, sondern auch die bis 1892 geltende Vorgabe, in der mündlichen Prüfung den Schülern "Gelegenheit zu geben, eine gewisse Geübtheit im mündlichen Gebrauche der lateinischen Sprache zu zeigen".
Diese Ausrichtung war schon im Vormärz umstritten, wobei besonders der lateinische Aufsatz in der Kritik stand. Die Prüfungsordnung von 1834 forderte "die freie lateinische Bearbeitung eines dem Examinanden durch den Unterricht hinreichend bekannten Gegenstandes, wobei, außer dem allgemeinen Geschick in der Behandlung, vorzüglich die erworbene stilistische Korrektheit und Fertigkeit im Gebrauche der lateinischen Sprache in Betracht kommen" sollte.
Sein Ende brachte nach jahrzehntelangen Diskussionen erst ein Machtwort des Monarchen. Auf der Schulkonferenz im Dezember 1890 hielt Wilhelm II. in einer Rede den anwesenden Schulfachleuten vor: "Wer selber auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Kulissen gesehen hat, der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor Allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen junge nationale Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer." Sein Fazit lautete: "Weg mit dem lateinischen Aufsatz, er stört uns, und wir verlieren unsere Zeit für das Deutsche darüber." Gehorsam strich das Kultusministerium den Aufsatz mit sofortiger Wirkung.
Abitur nach Schultypen (1900 - 1972)
Die Jahrhundertwende brachte zugleich den Abschluss heftiger Debatten um die Struktur des höheren Schulwesens. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in vielen Städten höhere Schulen entstanden, die sich nicht am humanistischen Bildungsideal orientierten, sondern an "realen" Bildungsgütern wie neueren Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Diese Schulen wurden erstmals 1859 unter der Bezeichnung "Realschulen" staatlich normiert, konnten aber zunächst keine Hochschulreife verleihen. Das letzte Drittel des Jahrhunderts stand dann ganz im Zeichen der Debatte um die Berechtigungen des neusprachlichen Realgymnasiums, an dem auch Latein gelehrt wurde, und der Oberrealschule mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Nach einer weiteren Schulkonferenz im Juni 1900 verlieh ihnen Wilhelm II. schließlich die ersehnte Gleichberechtigung mit dem Gymnasium.
Die Anforderungen der neuen Abiturprüfungsordnung von 1926 unterschieden sich nach Schultypen.
Die Prüfungsordnung von 1926 überdauerte nicht nur die Weimarer Republik, sondern auch das "Dritte Reich". Zwar wurde 1937/38 in ganz Deutschland die höhere Schule auf acht Jahre verkürzt, die Schultypenvielfalt auf eine Oberschule für Jungen bzw. Mädchen und das altsprachliche Gymnasium als Sonderform reduziert und Englisch als erste (und einzige neuere) Fremdsprache festgelegt, aber eine neue Abiturordnung brachte die nationalsozialistische Schulpolitik nicht hervor.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schulpolitik wieder föderal geregelt. Im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen wurden mit der Schulreform zunächst sämtliche nationalsozialistischen Maßnahmen im höheren Schulwesen revidiert. Nach den Erfahrungen der NS-Diktatur versuchte man den Humanismus wiederzubeleben.
Die Oberstufenreform 1972
Eine einschneidende Veränderung bedeutete die Vereinbarung der Kultusminister zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe vom Juli 1972.
Nachdem Hochschulvertreter eine nachlassende Studierfähigkeit der Abiturienten beklagt hatten,
Die kontroverse öffentliche Diskussion führte zu einer Revision der Reform, bei der die Wahlmöglichkeiten der Schüler schrittweise eingeschränkt und Belegungsverpflichtungen ausgeweitet wurden. Nach der aktuellen Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2006 kann die Abiturprüfung vier oder fünf Fächer umfassen, von denen mindestens drei schriftlich und eines mündlich geprüft werden. Zwei von ihnen müssen das Fach Deutsch, eine Fremdsprache oder Mathematik sein. Zudem sind keine Leistungskurse mehr vorgeschrieben, sondern nur noch mindestens zwei "Fächer mit erhöhtem Anforderungsniveau".
Diesen Spielraum hatte schon vor Jahren Baden-Württemberg genutzt, in dem die Leistungskurse abgeschafft wurden und jetzt unter den vier schriftlichen Abiturfächern die drei vierstündig unterrichteten "Kernkompetenzfächer" Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache obligatorisch sind. Anstelle der mündlichen Prüfung in einem weiteren Fach kann auch eine besondere Lernleistung eingebracht werden.
Zentralabitur und Schulzeitverkürzung
Eine grundlegende Neuerung bedeutete für viele Bundesländer die Einführung zentraler Aufgabenstellungen für die schriftliche Abiturprüfung. Das Zentralabitur war in Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland schon vor bzw. bald nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden. In den übrigen Ländern begnügte sich die Schulaufsicht nach preußischem Vorbild mit der Genehmigung und Auswahl der von den Lehrern eingereichten Aufgaben. Mit der Wiedervereinigung traten 1990 fünf Bundesländer hinzu, die bis auf Brandenburg das aus der DDR gewohnte Zentralabitur beibehielten. Eine dadurch ausgelöste Debatte über ein bundesweites Zentralabitur blieb aber in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ergebnislos. Rückenwind erhielt das Projekt erst nach der Jahrtausendwende durch das mäßige Abschneiden Deutschlands in den PISA-Studien, das den Blick für die Vergleichbarkeit schulischer Abschlüsse schärfte.
Im Sommer 2007 forderte Bundesbildungsministerin Annette Schavan, künftig in ganz Deutschland dieselben Abituraufgaben zu stellen. Das würde allerdings weitgehend einheitliche Schuljahres- und Ferientermine in allen Bundesländern voraussetzen. Zudem hätten fehlerhafte bzw. unklare Aufgaben, wie sie 2007 und 2008 in Nordrhein-Westfalen für Aufsehen sorgten, bundesweite Folgen. Schließlich bietet ein gesamtdeutsches Zentralabitur noch keine Garantie für eine einheitliche Vorbereitung und Bewertung. Und warum sollte Deutschland in puncto Zentralismus gerade Frankreich überholen wollen? Dort wird das Baccalauréat zwar im Prinzip zentral geschrieben, doch schon seit Jahrzehnten werden nach Académie-Bezirken unterschiedliche Aufgaben desselben Anspruchsniveaus gestellt.
Der Weg zum Abitur wird allerdings durch die Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre und die dadurch bedingte Verdichtung des Unterrichts schwieriger. Die bisherige Regelschulzeit von 13 Jahren ging auf zwei Faktoren zurück. Schon im 19. Jahrhundert hatte sich eine Gliederung des Gymnasiums in neun Jahrgangsklassen herausgebildet. Die 1920 eingeführte vierjährige Grundschule bedeutete für angehende Gymnasiasten dann zumeist ein zusätzliches Schuljahr. Schon in der Weimarer Republik forderte der Preußische Städtetag daher eine Verkürzung der höheren Schule auf acht Jahre, was aber erst die Nationalsozialisten 1937 durchsetzten. Während dies in der Bundesrepublik schnell revidiert wurde, dauerte der Weg zum Abitur in der DDR weiterhin nur zwölf Jahre.
Nach 1990 ergab sich daraus erneuter Handlungsbedarf. Besonders Vertreter der Wirtschaft und die Finanzminister der Länder forderten eine zwölfjährige Schulzeit bis zum Abitur und konnten dabei auch auf das Vorbild der meisten europäischen Staaten verweisen. Doch nach längeren Diskussionen hielt die KMK 1995 am neunjährigen Gymnasium als Regel fest, beschloss aber auch ein Abitur nach acht Jahren anzuerkennen, sofern insgesamt wenigstens 265 Wochenstunden erteilt worden sind. Nach der Jahrtausendwende entschieden sich jedoch innerhalb weniger Jahre alle Bundesländer für das achtjährige Gymnasium (G 8). Im Schatten von PISA und Zentralabitur nahm die Öffentlichkeit dies zunächst kaum zur Kenntnis. Erst als die damit verbundene Ausweitung des wöchentlichen Unterrichts in vielen Familien als Problem wahrgenommen wurde, kam eine öffentliche Diskussion in Gang, die nun umso heftiger ausfiel. Ihren Höhepunkt erreichte sie im hessischen Landtagswahlkampf im Januar 2008 mit Demonstrationen von Schülerinnen und Schülern und Eltern gegen "G 8". Auch in der Presse wurde es als "bürokratischer Irrsinn", "pädagogisches Desaster" oder neue Form von "Kinderarbeit" kritisiert.
Es rächte sich nun, dass die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit in etlichen Bundesländern offenbar überhastet vorgenommen worden war. Wenn 10- bis 14-jährige Schülerinnen und Schüler zwischen 30 und 35 Wochenstunden Unterricht zu absolvieren haben, so ist das in der heute üblichen Fünftagewoche nicht ohne ein bis zwei Tage Nachmittagsunterricht möglich. Für Ganztagsunterricht aber fehlt den meisten Gymnasien die notwendige Ausstattung. Zudem blieb die Anpassung der Lehrpläne hinter dem Tempo der Schulzeitverkürzung zurück, die zum Beispiel in Bayern im Herbst 2003 auch für die schon laufende Eingangsklasse des Gymnasiums beschlossen wurde. Unter dem Druck des öffentlichen Protestes beschloss die KMK im März 2008, den Ländern die Aufnahme von Übungs- und Vertiefungsunterricht in die Stundentafel zu ermöglichen, der auf die 265 Wochenstunden angerechnet wird. Zudem soll die Einrichtung von Ganztagsschulen und die Verbesserung der Über-Mittag-Betreuung an Halbtagsschulen gefördert werden.
Bis diese Maßnahmen greifen, wird noch viel Zeit ins Land gehen. Doch auch wenn einige Länder weiterhin die Möglichkeit bieten, in neun Jahren zum Abitur zu gelangen, steht das achtjährige Gymnasium als neue Regelform nicht in Frage.
Quelle: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 49/2008)