Struktur einer Sprachlernklasse
Für die schulische Integration von Flüchtlingen gibt es bisher noch kein bundesweit konsentiertes Konzept. Ob Sprachlernklassen, Übergangsklassen oder Willkommensklassen – gemeinsam ist allen Integrationsversuchen, dass für die Mehrzahl der Pädagoginnen und Pädagogen die Arbeit in diesem Bereich eine neue, oder von Neuem zu erschließende, Aufgabe ist.
Und auch wir sind weit davon entfernt, Spezialisten auf diesem Gebiet zu sein. Im Laufe der letzten Monate haben wir aber einige Erfahrungen und Anregungen gesammelt, die die Arbeit in diesen Klassen erleichtern kann. Wir wollen mit unserem Artikel deshalb weniger auf die genaue Organisationsstruktur einer Klasse eingehen, sondern vielmehr auf Lernarrangements und Strukturen, die sich in unserem Schulalltag bewährt haben.
Wir arbeiten an einer Kooperativen Gesamtschule im Großraum Hannover. Unsere zwei Klassen umfassen derzeit 46 Schüler/innen im Alter von 10 bis 18 Jahren aus acht verschiedenen Ländern, die zehn unterschiedliche Sprachen sprechen. Fünf der Schüler/innen waren zur Zeit ihrer Aufnahme in die Sprachlernklasse auch in ihrer Herkunftssprache nicht alphabetisiert. Als wir vor einem Jahr mit der Einrichtung der Sprachlernklasse an unserer Schule begannen, war noch nicht auszumachen, dass die aus anfänglich zwölf Schüler/innen bestehende Gruppe innerhalb eines Jahres auf das Vierfache ihrer Größe anwachsen würde. Mit diesem Umstand umzugehen erforderte, rasch eine lernwirksame Umgebung für die Lernenden zu prägen und einen strukturierten Arbeitsalltag für die Kolleginnen und Kollegen zu schaffen.
Die Aufnahmegespräche
Ein wesentlicher Schritt, der zu einer Verbesserung der Organisation und Unterrichtsqualität geführt hat, war die Einführung von Aufnahmegesprächen. Bei diesem Gespräch sind die Klassenlehrerinnen der Sprachlernklasse, die Erziehungsberechtigten des Kindes und ein/e Übersetzer/in anwesend. Im Gespräch werden die bisherige Bildungsbiografie sowie die Sprachkenntnisse erfragt und es wird diagnostiziert, ob und wie sicher der/die Schüler/in die lateinische Schrift lesen und schreiben kann. Sollte sich während des Gespräches herausstellen, dass der/die Schüler/in an unserer Schule aufgrund des Alters und der Bildungsbiografie keine ausreichenden Perspektiven hat, wird er/sie entsprechend beraten. Schüler/innen ab 15 Jahren, für die das Abitur nach unserer Einschätzung keine realistische Zielperspektive ist, raten wir, sich an einer Berufsschule anzumelden, um die Möglichkeit auf einen schnellstmöglichen Abschluss in einem altersgerechten Umfeld zu bieten. Die Sprachförderklassen an berufsbildenden Schulen sind praktisch orientiert und bieten so bereits einen Einblick in mögliche Ausbildungswege. Schüler/innen zwischen 10 und 15 Jahren nehmen wir in jedem Fall in unsere Schule auf und versuchen sie dann bestmöglich zu fördern und zu fordern. Dies heißt in einigen Fällen auch, dass wir sehr eng mit der Sonderpädagogin an unserer Schule zusammenarbeiten. Aufgenommene Schüler/innen werden aufgrund der im Gespräch gesammelten Informationen einer Regelklasse zugeteilt, die sie nach einer zweimonatigen Eingewöhnungsphase in der Sprachlernklasse besuchen, mit steigenden Anteilen ausgewählter Fächer.
Umgang mit Traumatisierungen
Da ein Großteil unserer Schülerschaft aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen ist, sind die Aufnahmegespräche eine wichtige Quelle, um einen Einblick in die individuelle Biografie und eventuelle Traumatisierungen zu gewinnen. Der Umgang mit Traumatisierungen ist eine der größten Herausforderungen des Alltages in einer Sprachlernklasse. Oftmals sind die Kapazitäten außerschulischer Hilfsangebote erschöpft. Das bedeutet für die Lehrkräfte von Sprachlernklassen, dass sie noch mehr als sonst gefragt sind, mit den Lebensgeschichten der Schüler/innen problembewusst umzugehen. Es hat dabei sehr geholfen, uns zu verdeutlichen, dass es außerhalb unserer Möglichkeiten liegt, diese Traumatisierungen aufzuarbeiten, dass wir aber im Schullalltag eine sensible Haltung für diese Problematik entwickeln können. Um dies zu erlernen, haben wir einen Traumapädagogen als externen Referenten eingeladen, der uns den Prozess der Traumatisierung erklärt und wertvolle Hinweise für den Schullalltag gegeben hat.
Es ist uns sehr wichtig, dass die Schüler/innen von Anfang an feste Ansprechpartner haben und die Klasse sowohl räumlich als auch pädagogisch als ein Ort gestaltet ist, an dem sich die Schüler/innen willkommen, sicher und angenommen fühlen. Dazu gehört auch, dass Regeln und Abläufe oft flexibler gehandhabt werden müssen als im Regelschulbetrieb. So muss in unserem Unterricht z.B. nicht zwangsläufig die Jacke ausgezogen werden, wenn es für den betroffenen Lernenden gerade wichtig ist, immer und sofort aufbruchbereit zu sein.
Eine Regel, deren Einhaltung allerdings auch in der Sprachlernklasse nicht verhandelbar ist, besteht darin, dass Beleidigungen und Herabwürdigungen anderer Nationalitäten, Volksgruppen, Religionen oder Hautfarben zu keiner Zeit toleriert werden. Ein hohes Konfliktpotenzial in Sprachlernklassen rührt daher, dass dort Kinder gemeinsam lernen, denen vielfach vermittelt wurde, Andere oder Fremde seien Feinde. Um zu verhindern, dass die Kinder die Konflikte und Vorurteile der Erwachsenen ins Klassenzimmer bringen, achten wir stets darauf, ein tolerantes und gleichberechtigtes Miteinander ausreichend zu thematisieren, reagieren aber auch schnell und konsequent mit Gesprächen und Erziehungsmaßnahmen, sollte diese Verhaltensregel verletzt werden. Der Umgang mit Regelverstößen bewegt sich dabei stets auf einem schmalen Grat zwischen Sensibilität und Konsequenz.
Die Rolle der Lehrkraft
Als Lehrkraft einer Sprachlernklasse hört man Schilderungen von Leid und Gewalt, die häufig die eigene Vorstellungskraft übersteigen und den Zuhörer/die Zuhörerin hilflos und manchmal auch wütend zurücklassen. Eine regelmäßige Teamsitzung, die für das Kernteam der Klasse fest in den Stundenplan integriert ist, bietet einen ersten Raum, über diese Erfahrungen mit Kolleg/innen zu sprechen. Perspektivisch versuchen wir außerdem, eine Begleitung durch außenstehende Mediatoren zu etablieren.
Grundlegend für die Unterrichtsgestaltung ist, dass man als Lehrkraft eine neue Einstellung zum Unterrichten einnimmt. Man hat weniger als im "Regelunterricht" das Gefühl, Kontrolle über die Situation zu haben, ein Eindruck, der vor allem durch sprachliche Barrieren hervorgerufen wird. Hier gilt es, eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln und darauf zu vertrauen, dass sich die Schüler/innen tatsächlich über den jeweiligen Arbeitsauftrag und nicht über ihre Nachmittagsgestaltung unterhalten. Den Schüler/innen zu verbieten, in der jeweiligen Erstsprache zu kommunizieren, hat sich beispielsweise als wenig zielführend erwiesen: Oft wird auf die Erstsprache zurückgegriffen, gerade um Arbeitsaufträge zu klären und sich gegenseitig zu unterstützen. Da der Unterricht bei uns meist in Kleingruppen abläuft, profitieren wir sehr von der Anschaffung von Material, das zahlreiche Differenzierungen bietet, um auf diese Weise Schüler/innen unterschiedlicher Lernstände gleichzeitig beschulen zu können. Wir greifen bevorzugt auf Material zurück, das klar strukturiert ist und – ergänzt um individuelle, weiterführende Aufträge – auch für fortgeschrittene Schüler/innen eingesetzt werden kann. Ein wichtiges Kriterium bei der Anschaffung von Material ist zudem, inwiefern es selbsterklärend ist. Es sollte den Schüler/innen die Möglichkeit zum Selbstlernen geben und die Betreuungsintensität der Kleingruppen verringern.
Der Spracherwerb Deutsch – so zeigt sich immer wieder – erfolgt nicht allein durch das Erlernen von Vokabeln und grammatischen Strukturen, sondern durch die Einladung zur Kommunikation.
Integration der Sprachlernklasse in die Schulgemeinschaft
Es hat sich als ein Gewinn erwiesen, die ganze Schulgemeinschaft in das Projekt Sprachlernklasse einzubinden und genau zu evaluieren, welche Potenziale in der Schüler- und Elternschaft sowie im Kollegium schlummern. So haben wir inzwischen einen breiten Unterstützerkreis. Dazu gehören freiwillige Helfer/innen, die die Lehrkräfte der Sprachlernklasse im Unterricht unterstützen oder einzelnen Lernenden gezielt Nachhilfe geben. Schüler/innen der Regelklassen haben Patenschaften für einzelne Sprachlernschüler/innen übernommen, Oberstufenschüler/innen unterstützen das Sprachlernklassenteam in ihren Freistunden. Mehrsprachige Eltern, Schüler/innen und Kolleg/innen stehen uns als Übersetzer/innen zur Seite, zahlreiche Menschen helfen durch Sachspenden. Besonders positiv fällt uns dabei auf, dass Regelschüler/innen, deren Mehrsprachigkeit bisher kaum beachtet worden ist, durch ihren Einsatz als Übersetzer eine enorme Wertschätzung erfahren und ihre Aufgabe stets zuverlässig und stolz erledigen. Zu beachten ist natürlich, dass die Übersetzung durch Mitschüler/innen und Eltern zwar eine enorme Entlastung im Schulalltag ist, für sensible Gespräche aber dennoch auswärtige Dolmetscher/innen herangezogen werden sollten, um die Privatsphäre der Sprachlernschüler/innen und ihrer Eltern zu schützen.
Fazit
Die Arbeit in einer Sprachlernklassen ist aufreibend, chaotisch und manchmal frustrierend. Dennoch lohnt es, gegen die bürokratischen Windmühlen zu kämpfen, die Verständigungsprobleme auszuhalten und immer wieder zu versuchen, Ordnung in das zieldifferente Chaos zu bringen. Denn das stolze und freudige Gefühl, wenn ein Kind, das anfangs nur schüchtern lächelte und kaum ein Wort herausbrachte, nach einiger Zeit auf Deutsch berichtet, was es am Wochenende gemacht hat, entschädigt für Vieles.