Was ist das vorrangige Ziel von Bildungseinrichtungen: Wissen zu vermitteln? Oder Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu erziehen?
Es gibt kaum eine bildungspolitische Debatte, in der diese Grundsatzfrage nicht berührt wird. In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland unter anderem über den Ausbau von Kleinkinderbetreuung und Ganztagsschulen diskutiert. Themen wie diese berühren einen sensiblen Punkt: Die Frage, wie viel Einfluss der Staat auf seine jüngsten Bürger nehmen soll.
Diese Frage wurde von der alten Bundesrepublik und der DDR unterschiedlich beantwortet. Auch wenn in den Schulgesetzen der westdeutschen Bundesländer Erziehungsziele wie zum Beispiel die Achtung der Menschenwürde und Bereitschaft zum sozialen Handeln aufgeführt sind, hatten die staatlichen Bildungsinstitutionen doch vorrangig die Funktion, Wissen zu vermitteln; Erziehung galt überwiegend als Angelegenheit der Familien. Von der Grundschule bis zum Gymnasium dauerte ein Schultag meist nur bis zum Mittag; der (freiwillige) Kindergarten begann erst für die Dreijährigen, Kinderkrippen für jüngere Kinder waren selten. Noch heute stehen viele Bürger vor allem in Westdeutschland frühkindlicher Bildung und Ganztagsschulen skeptisch gegenüber.
Ganz anders fiel die Antwort der DDR auf die Frage aus, welche Rolle das Bildungssystem spielen sollte: Neben der Wissensvermittlung war die Erziehung der jungen Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" das zweite zentrale Ziel staatlicher Bildung. Das Externer Link: Jugendgesetz von 1964 nennt die Formung von "sozialistischen Persönlichkeiten" eine der wichtigsten Aufgaben aller Staats- und Wirtschaftsorgane (Externer Link: www.verfassungen.de/de/ddr/jugendgesetz64.htm). Nach dem Externer Link: Bildungsgesetz von 1965 galt im sozialistischen Bildungssystem "der Grundsatz der Einheit von Bildung und Erziehung". Von frühester Kindheit an verbrachten die Kinder in der DDR einen Großteil der Zeit in staatlichen Bildungsinstitutionen, welche gemäß diesem Erziehungsziel gestaltet waren.
InfoboxGesetzliche Grundlagen
Drei maßgebliche Gesetze regelten den Aufbau der Bildungseinrichtungen in der DDR.
Auf Anordnung der sowjetischen Militärverwaltung erließen die fünf Landesregierungen in der sowjetischen Besetzungszone (SBZ) im Mai/Juni 1946 das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule. Das gegliederte Schulsystem wurde abgeschafft, die gemeinsame Grundschule für alle auf acht Jahre verlängert.
Mit dem Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Dezember 1959 beschloss der Staat den Aufbau der Polytechnischen Oberschule (POS) als wichtigste Schulform. Die Schulpflicht wurde von acht auf zehn Jahre verlängert, der polytechnische Unterricht als grundlegendes Prinzip gesetzlich verankert. Im Zentrum dabei stand die Verbindung zwischen schulischer Bildung und praktischer Arbeit. Durch die Beschäftigung mit Werkstoffen wie Holz oder Metall, Baukästen, Modellen, die Arbeit im Schulgarten und der Mitarbeit in Betrieben sollten die Schülerinnen und Schüler auf die spätere Arbeit in der Produktion vorbereitet werden.
Mit dem Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungswesen vom 25. Februar 1965 erfolgte eine Neugliederung der Polytechnischen Oberschule (POS). Die sich an die POS anschließende Erweiterte Oberschule (EOS) wurde von vier auf zwei Jahre reduziert. Das Gesetz nannte zudem das Ziel, dass alle Schüler, Lehrlinge und Studenten "gründliche Kenntnisse" des Marxismus-Leninismus erwerben sollten. Dieses Gesetz ersetzte die Regelungen von 1959.
Die Bildungsinstitutionen hatten eine Schlüsselrolle beim Aufbau des sozialistischen Staates. Die DDR verstand sich als Staat der Arbeiter und Bauern. Führungspositionen im Staat sollten vorwiegend von Personen aus diesen sozialen Schichten übernommen werden. Das Bildungswesen sollte eine entscheidende Rolle dabei spielen, dieses gesellschaftliche Ideal zu realisieren.
Prinzipien der Bildung
1) Keine Bildungsprivilegien für das Bürgertum
Die gerechtere Verteilung von Bildungschancen war eines der wichtigsten Versprechen, das die DDR ihren Bürgern machte. Der Bildungszugang sollte gerechter sein als im Kaiserreich und in der Weimarer Republik – und gerechter als in der sich gleichzeitig mit der DDR entwickelnden Bundesrepublik. Schon 1945 gab die sowjetische Militärverwaltung das Ziel aus, in der sowjetischen Besatzungszone das "bürgerliche Bildungsprivileg" zu brechen. Im Arbeiter- und Bauernstaat sollten Arbeiter und Bauern Zugang zu höherer Bildung und zu wichtigen Positionen bekommen. Und nicht nur das. Um frühere Ungerechtigkeiten wettzumachen und die soziale Hierarchie umzukehren, sollten Arbeiter- und Bauernkinder besonders bevorzugt werden.
So wurden etwa nach sowjetischem Vorbild 1949 sogenannte Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF) an den Universitäten eingerichtet, die junge Erwachsene, die nur die Volksschule besucht hatten, auf ein Studium vorbereiten sollten. Bis 1963 holten dort zirka 35.000 Absolventen das Abitur nach, dann wurden die ABF wieder aufgelöst; nur an den Hochschulen in Freiberg und Halle (Saale) blieben sie bestehen
Der Gedanke, die soziale Hierarchie umzukehren, spielte auch eine Rolle bei der Entscheidung, wer Abitur machen durfte – und wer nicht. Jugendliche aus traditionellen Bildungsbürger- und Pastorenfamilien durften in der Regel nicht, unabhängig von ihren Schulnoten. Vor allem in den 50er und 60er Jahren wurde der Zugang zur Erweiterten Oberschule (EOS) und zum Studium stark nach sozialer Herkunft reglementiert – vorrangig Arbeiter- und Bauernkinder sollten zum Zug kommen. In den Anfangsjahren der DDR gelang es auf diese Weise zunächst auch durchaus, die Bildungschancen von Arbeiter- und Bauernkindern zu verbessern.
Unerfülltes Versprechen
Doch spätestens in den 80er-Jahren wurde offensichtlich, dass die DDR ihr Versprechen nicht hatte halten können. Über die Jahre war eine neue Elite entstanden: die der sozialistischen Intelligenz und der politischen Funktionäre. Politische Konformität – sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch ihrer Eltern – war zum Kriterium für den Bildungszugang geworden. So verlangte etwa die Aufnahmeordnung für die Erweiterten Oberschulen (EOS), "hervorragende Leistungen der Eltern beim Aufbau des Sozialismus" zu beachten. Kinder von Funktionären, Offizieren, hochrangigen Wissenschaftlern und anderen eng an den Staat gebundenen Eltern wurden beim Zugang zu Abitur und Studium bevorzugt.
Während in den 50er-Jahren etwa die Hälfte der Studierenden aus Arbeiter- und Bauernfamilien kam, begann deren Anteil schon in den 60er-Jahren zu sinken und lag Ende der 80er Jahre bei weniger als 20 Prozent.
2) Keine Bildung ohne Politik
Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Berufsschulen waren eng mit staatlichen und Parteiorganisationen verbunden, die in fast allen Belangen mitsprechen konnten. Die Arbeit der Pädagoginnen und Pädagogen war durch ein Netz an Akteuren reglementiert, vom Bildungsministerium bis zu Verantwortlichen im Kreis; jeder Schule war zudem ein Parteisekretär zugeordnet. Auch die Staatssicherheit hielt Kontakt zu den Schulen.
Von den Jungen Pionieren zur FDJ
Für die Kinder und Jugendlichen gehörte die enge Verzahnung der Schule mit Staat und Partei zum Alltag. So wurden die Kinder im 1. Schuljahr Mitglieder der "Jungen Pioniere", im 4. Schuljahr "Thälmann-Pioniere" und in der 8. Klasse, im Alter von 14 Jahren, Mitglieder der Freien Deutschen Jugend, kurz FDJ.
Formal war die Mitgliedschaft freiwillig. Tatsächlich waren Pioniere und FDJ aber untrennbar mit den Schulen verwoben. So ging die Initiative zur Aufnahme in die Pionierorganisationen von den Schulen aus, meist traten die jeweiligen Klassen geschlossen ein; Eltern, deren Kinder nicht Mitglied werden sollten oder wollten, wurden häufig unter Druck gesetzt. Die Pionierorganisationen und die FDJ organisierten zudem einen Großteil der Aktivitäten neben dem Unterricht, etwa Ausflüge am Nachmittag. Auch in den Schulalltag waren die Pioniere eingebunden, etwa mit Appellen, zu denen die Schülerinnen und Schüler ihre Pionierhalstücher und -hemden tragen mussten.
In vielen Ritualen knüpften die Pionierorganisationen an die "Roten Jungpioniere" an, die 1933 bestehende Kinderorganisation der KPD. Die Jugendorganisationen der DDR betonten den Einsatz für den Frieden und Menschenrechte. Die Gruppen waren für den Staat wichtige Ansatzpunkte bei der Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu sozialistisch denkenden Bürgern. Vor allem ihre Organisation als Kollektiv stand dabei im Mittelpunkt. Die Pioniere einer Schulklasse bildeten eine Pioniergruppe und wählten einen Gruppenrat sowie einen Gruppenratsvorsitzenden, der in etwa die Aufgaben eines Klassensprechers hatte. Bei Pionieren und FDJ nicht mitzumachen, erforderte von den Kindern und Jugendlichen zum einem viel Mut und konnte zudem mit vielen Nachteilen verbunden sein, etwa dem verwehrten Zugang zur Erweiterten Oberschule (EOS).
Staatsbürger werden: Heimatkunde, Staatsbürgerkunde und Marxismus-Leninismus
Die Erziehung zum guten DDR-Bürger spielte auch in der Unterrichtsgestaltung eine wichtige Rolle. In den ersten Schuljahren sollten die Kinder im Fach Heimatkunde ein positives Bild ihres Staates entwickeln. Von der 7. Klasse an war das Fach Staatsbürgerkunde Pflicht für alle Schülerinnen und Schüler. Zu den behandelten Themen gehörten unter anderem die Einführung in den Marxismus und die Theorien von Sozialismus und Kapitalismus. Laut Lehrplan stand besonders die Entwicklung des sogenannten Klassenstandpunktes im Mittelpunkt der Lernziele: die – positive – Bewertung der sozialistischen Theorien im Vergleich zum Kapitalismus. Staatsbürgerkunde war bis zur 12. Klasse Pflichtfach. Auch an den Universitäten setzte sich die von vielen DDR-Bürgerinnen- und Bürgern als "Rotlichtbestrahlung" geschmähte politische Unterweisung fort: Studierende aller Fachrichtungen mussten das Pflichtfach Marxismus-Leninismus belegen.
3) Wehrerziehung: Die Schulen und das Militär
Von Beginn ihres Bestehens sah sich die DDR im Kampf der Systeme bedroht. Im aufkommenden Kalten Krieg sah die Führung des jungen Staates ihr sozialistisches Modell in Gefahr. Umso wichtiger wurde die militärische Verteidigungsbereitschaft. Seit den 50er-Jahren war die vormilitärische Ausbildung ein vieldiskutiertes Thema in der DDR. Nach dem Willen der Staatsführung sollten so viele Bürger wie möglich eine solche Grundqualifikation erhalten. 1967 wurde das erste systematische Programm zur Wehrerziehung an den Polytechnischen Oberschulen (POS) für Jungen und Mädchen eingeführt: die Hans-Beimler-Wettkämpfe der FDJ für die Klassen 8, 9 und 10. Zu den Disziplinen gehörte unter anderem Handgranatenzielwurf, Schießen und Orientierungslauf im Gelände; vor Wettkampfbeginn wurde ein Gelöbnis auf Vaterland und Sozialismus gesprochen
Umstrittenes Pflichtfach: Wehrunterricht
1978 führte Volksbildungsministerin Margot Honecker unter dem Protest vieler Eltern und der Kirchen den Wehrunterricht als Pflichtfach für die 9. und 10. Klassen ein. Dazu gehörten theoretische Einheiten im Rahmen des Schulunterrichtes, etwa zu Fragen der "sozialistischen Landesverteidigung", und ein zweiwöchiges Wehrlager in den Ferien für die Jungen; die Mädchen absolvierten Übungen zum Zivilschutz. Die Ferienlager wurden von der 1952 gegründeten Gesellschaft für Sport und Technik (GST) veranstaltet.
Offiziere gesucht
Das Militär spielte für die Schülerinnen und Schüler auch eine Rolle beim Zugang zur Erweiterten Oberschule (EOS). Rund ein Viertel der Plätze in den EOS-Klassen mussten für Offiziersanwärter freigehalten werden – unabhängig von deren Noten. An den EOS gab es für die "Berufslenkung" zuständige Lehrkräfte, welche den Jugendlichen den dreijährigen Wehrdienst (statt 18-monatigem Pflichtdienst) schmackhaft machen sollten – wenn nötig, mit Druck. Wer die Absicht hatte, den Dienst an der Waffe zu verweigern, dem wurde häufig damit gedroht, dass er in dem Fall nicht studieren könne. Die Alternative zum Dienst an der Waffe war der Einsatz bei den Baueinheiten der Nationalen Volksarmee. Die Arbeit bei diesen sogenannten Bausoldaten war sehr schwer und für die jungen Männer zudem oft mit Schikanen verbunden.
Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher hatten die Aufgabe, ein positives Bild der Nationalen Volksarmee zu vermitteln und Nachwuchs für die Streitkräfte anzuwerben. Damit sollte schon im Kindergarten begonnen werden, etwa durch das Malen von Soldatenbildern. Das Lernziel laut Lehrplan: Die Kinder sollen lernen, "dass es Mensch gibt, die unsere Feinde sind und gegen die wir kämpfen müssen".
InfoboxMargot Honecker: Die Frau hinter der DDR-Bildung
Keine andere Person hat das Bildungswesen in der DDR so stark geprägt wie die dritte Ehefrau von Erich Honecker. Margot Honecker (1927-2016) wurde 1963 zum Minister (sic) für Volksbildung ernannt und blieb bis 1989 auf diesem Posten. Nach dem Aufstieg ihres Mannes zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED im Jahr 1971 verfügte sie über fast unbeschränkte Macht.
Honecker, die selbst nur die achtjährige Volksschule absolviert hatte, spielte eine entscheidende Rolle beim Aufbau der sozialistischen Einheitsschule. Auf ihre Initiative wurde 1970 die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR (APW) gegründet, an der alle in der DDR verwendeten Lehrpläne und ein großer Teil der Unterrichtsmaterialien und Lehrbücher entwickelt wurden.
In ihren Zuständigkeitsbereich fielen aber auch die Zwangsadoptionen von Kindern, deren Eltern aus der DDR geflohen waren. Auch für die Jugendwerkhöfe, in denen unangepasste und verhaltensauffällige Jugendliche mit militärischem Drill und zum Teil brutaler psychischer Gewalt umerzogen werden sollten, trug Margot Honecker die Verantwortung.
(Weitere Informationen zu Margot Honecker: