Zum Schuljahresbeginn 2010/2011 wurde in Berlin ein zweigliedriges Schulsystem eingeführt, das in der Sekundarstufe I aus Gymnasium und Sekundarschule besteht. In diesem Prozess wurden alle Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen zu Sekundarschulen umgewandelt. Daneben wird es weiterhin einige wenige Gemeinschaftsschulen geben, die den Anspruch auf eine gemeinsame Schule für alle vertreten. Auch in Hamburg wurde ein Schulgesetz verabschiedet, das die Zahl der Schulformen in der Sekundarstufe I auf zwei reduziert – auf Gymnasien und Stadtteilschulen. Dabei wurden nicht nur Hauptschulen und Realschulen, sondern auch alle integrierten Gesamtschulen zu Stadtteilschulen umgewandelt. Und auch in Bremen gibt es in der Sekundarstufe nur noch zwei Schulformen – nämlich Oberschulen und Gymnasien.
Wer blickt noch durch?
Doch wir haben es hier keineswegs mit einer Entwicklung zu tun, die sich nur in den drei Stadtstaaten findet. So gibt es in den neuen Bundesländern schon seit längerem nirgendwo mehr Hauptschulen und Realschulen, sondern nur noch fusionierte Schulformen. Gleiches gilt für Schleswig-Holstein und für das Saarland. Und Bewegung in diese Richtung gibt es auch in etlichen anderen Bundesländern (z. B. Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen). Inzwischen ist es selbst für Experten sehr schwierig geworden, hier die Übersicht zu behalten. Zur Verwirrung trägt vor allem bei, dass sich jedes Bundesland eigene Bezeichnungen für die Schulform(en) jenseits des Gymnasiums ausgedacht hat: Sekundarschule, Oberschule, Mittelschule, Stadtteilschule, Regelschule, Realschule plus – um nur einige zu nennen. Und schließlich: Dies alles ist im Fluss – und zwar 16 mal in der Bundesrepublik. Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht in einem Bundesland Neuigkeiten zur Schulstruktur verkündet werden.
Es ist viel in Bewegung. Während im bildungspolitischen Diskurs gern und häufig behauptet wird, die Schulstruktur sei gar nicht so wichtig, finden wir gegenwärtig in vielen Bundesländern eine nicht unerhebliche Veränderung genau dieser Strukturen. Dabei besteht in den meisten, aber nicht in allen Bundesländern die Tendenz: weg von der Drei- oder Viergliedrigkeit – hin zu unterschiedlichen Varianten der Zweigliedrigkeit. (Hinzu kommen jeweils noch die Förder- beziehungsweise Sonderschulen als weiteres Glied). Genau diese Bewegung soll im Folgenden analysiert werden. Dabei beginne ich mit einer historischen Einordnung, um dann die aktuelle Entwicklung in den Blick zu nehmen.
Historischer Rückblick
Die aktuelle Schulstrukturentwicklung kann man nur verstehen, wenn man sie in ihrer langen historischen Linie sieht (vgl. Herrlitz u. a. 2009):
Die allgemeine Schule in Deutschland ist im 18. Jahrhundert entstanden – als niederes Schulwesen für die einfache Landbevölkerung auf der einen Seite, als "höhere Schulen" für den männlichen Nachwuchs von Adel, Besitz- und Bildungsbürgertum auf der anderen Seite. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten die Realschulen als mittlere Schulform hinzu. Seitdem reden wir vom "dreigliedrigen Schulsystem". Die Forderung nach einer Aufhebung der Trennung zwischen diesen Schulformen wurde am Ende des 19. Jahrhunderts besonders entschieden von der Arbeiterbewegung erhoben; die Sozialdemokratie wollte an die Stelle des gegliederten Schulsystems die "Einheitsschule" setzen. Nach Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 konnte aufgrund des starken Widerstands der bürgerlich-konservativen Parteien diese Forderung nicht durchgesetzt werden. Erreicht wurde 1920 lediglich die Errichtung der vierjährigen Grundschule; sie ist bis heute in Deutschland die einzige "gemeinsame Schule für alle" geblieben. Allerdings wurde 1920 mit der gemeinsamen Grundschule auch die Übergangsauslese für die weiterführenden Schulen installiert – und damit die Sortierung der Kinder auf Volksschule (später: Hauptschule), Realschule und Gymnasium – und auch auf die Sonderschulen. Die Kritik an diesem gegliederten, sozial selektiven Schulsystem ist seit 1900 nie verstummt – und die Alternative einer "gemeinsamen Schule für alle" ist über all die Zeit lebendig geblieben.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik das dreigliedrige Schulsystem der Weimarer Zeit zunächst restauriert, bevor es in den späten sechziger Jahren (und danach) heftig attackiert und dadurch z. T. auch weiterentwickelt wurde. Das damals zunächst in Schulversuchen erprobte Modell einer gemeinsamen Schule – die integrierte Gesamtschule – war und ist politisch hoch umstritten. In langen und z. T. heftigen bildungspolitischen Kämpfen hat das gegliederte Schulsystem, insbesondere das Gymnasium, seine Stellung verteidigen können. Die Gesamtschule wurde bestenfalls zur weiteren Schulform in diesem gegliederten Schulsystem – und damit eben nicht zur "gemeinsamen Schule für alle" (vgl. Tillmann 1995, S. 108 ff.). Seit der deutschen Vereinigung finden sich in etlichen Bundesländern Bestrebungen, die Schulformen jenseits des Gymnasiums nicht weiter aufzufächern, sondern zusammenzufassen. Auf diese Weise ist zunächst in den neuen Bundesländern eine Schulstruktur entstanden, die "zweigliedrig" genannt wird. Alle Bemühungen, im deutschen Schulsystem die Schulstrukturen zu verändern, spielen sich – bewusst oder unbewusst – vor diesem historischen Hintergrund ab.
Schulstrukturen heute – ein Länderüberblick
Die traditionelle Schulstruktur, die sich in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert hat, besteht somit aus drei Schulformen, die in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Auf diese werden die Kinder nach der 4. Klasse der Grundschule aufgeteilt. Wenn man sich nun heute – im Jahr 2015 – die Schulsysteme der 16 Bundesländer anschaut, dann stellt man fest. Ein solches "klassisch" dreigliedriges Schulsystem gibt es nur noch in einem einzigen Bundesland: in Bayern. In allen anderen Ländern hat es seit den 1970er Jahren erhebliche Strukturentwicklungen gegeben, so dass heute – über alle 16 Länder hinweg – nur noch eine Gemeinsamkeit besteht: Überall existiert ein Gymnasium, das den direktesten Weg zum Abitur anbietet.
Wie die Schulstruktur daneben – also im nicht-gymnasialen Bereich – angelegt ist, ist jedoch höchst unterschiedlich geregelt: Es gibt Bundesländer, in denen es neben dem Gymnasium nur noch eine einzige Schulform gibt (so in Hamburg) – es gibt aber auch Länder, in denen fünf (so in Nordrhein-Westfalen) nicht-gymnasiale Schulformen existieren (jeweils plus Förderschulen). Will man diese Unterschiede nachvollziehbar machen, muss man kurz auf die Entwicklung seit den 1970er Jahren eingehen:
Die typisch westdeutsche Entwicklung seit den 1970er Jahren bestand in der Ergänzung der drei "klassischen" Schulformen durch die integrierte Gesamtschule, die gleichsam als vierte Schulform hinzutrat. Eine solche viergliedrige Schulstruktur hat sich in den 1980er und 1990er Jahren in allen alten Bundesländern (außer Baden-Württemberg und Bayern) entwickelt. 1988 – also kurz vor der Vereinigung – fanden wir in neun von elf Ländern der alten Bundesrepublik diese viergliedrige Struktur. Von diesen neun Ländern sind nur noch drei – nämlich Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – als viergliedrige Systeme übriggeblieben. Weil in diesen drei Länder in den letzten Jahren aber zusätzlich die Möglichkeit einer Fusionierung zwischen Haupt- und Realschulen eingeführt wurde (Mittelstufenschule in Hessen, Oberschule in Niedersachsen, Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen), bestehen dort jetzt mindestens fünf Schulformen der Sekundarstufe I. Ich spreche hier von der "erweiterten Viergliedrigkeit".
Die typisch ostdeutsche Weiterentwicklung der Wendezeit bestand hingegen darin, eigene Hauptschulen erst gar nicht einzurichten, sondern Haupt- und Realschulen zu einer gemeinsamen Schulform (kombiniert oder integriert) zusammenzufassen. Neben dem Gymnasium gibt es in der Sekundarstufe I dann nur noch eine weitere Schulform. Ein solches Schulsystem wurde direkt nach der Wende 1990 in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eingeführt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg folgten später. In Sachsen gibt es nur zwei Schulformen (Gymnasium und Mittelschule), hier spreche ich von der "Zweigliedrigkeit pur". In anderen Ländern hingegen gibt es zusätzlich noch Gesamtschulen bzw. Gemeinschaftsschulen (z. B. Thüringen), dies bezeichne ich als "erweiterte Zweigliedrigkeit".
Nun finden wir seit einigen Jahren in vielen westdeutschen Bundesländern einen gewissen Nachvollzug der ostdeutschen Entwicklung. Weil in diesen Ländern die Hauptschulen leer laufen, steigen auch sie auf eine Zweigliedrigkeit um: Neben dem Gymnasium entsteht dann als zweite Schulform die "Stadtteilschule" (Hamburg) oder die "Sekundarschule" (Berlin) oder die "erweiterte Realschule" (Saarland) oder die "Realschule plus" (Rheinland-Pfalz) – oder die "Oberschule" (Bremen). Hier existiert inzwischen ein solches Begriffs-Chaos, dass es dringend erforderlich ist, innerhalb der Kultusministerkonferenz zu einer länderübergreifenden Vereinheitlichung zu gelangen. In einigen dieser westdeutschen Länder existiert neben dem Gymnasium nur eine Schulform (also: Zweigliedrigkeit pur), in anderen kommt eine Gesamtschule beziehungsweise Gemeinschaftsschule hinzu (also: Zweigliedrigkeit erweitert).
Insgesamt bedeutet das, dass inzwischen elf von 16 Bundesländern die Zweigliedrigkeit (in unterschiedlichen Varianten) eingeführt haben. Davon haben sechs alte Bundesländer (Berlin, Bremen, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein) in den letzten Jahren von einer viergliedrigen auf eine zweigliedrige Struktur umgestellt.
Mein Versuch, etwas Ordnung in diese Unübersichtlichkeit zu bringen, besteht also darin, zwischen vier verschiedenen Schulstrukur-Varianten der Sekundarstufe I zu unterscheiden:
Zweigliedrigkeit pur
(Gymnasium und eine weitere Schulform)Zweigliedrigkeit erweitert
(Gymnasium, eine weitere Schulform, zusätzlich Gesamtschule/Gemeinschaftsschule)Dreigliedrigkeit
(Gymnasium, Realschule, Hauptschule)Viergliedrigkeit erweitert
(Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Gesamtschule, zusätzlich Schulform mit H/R-Kombination)
Die Tabelle 1 gibt hierzu eine Übersicht über die 16 Bundesländer (Stand 10/2015).