Seit es die PISA-Studien gibt, erfahren wir alle drei Jahre nicht nur, dass die Schülerinnen und Schüler in Finnland und Korea besonders hohe Kompetenzen haben, während sich Deutschland eher im Mittelfeld bewegt. Wir erfahren auch, dass sie in Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen besonders gut, in den Stadtstaaten dagegen eher schlecht abschneiden. Offenbar haben Kinder und Jugendliche nicht in allen Bundesländern dieselben Aussichten auf eine erfolgreiche Schulkarriere – dies wird nicht zuletzt vom sogenannten Chancenspiegel
Bislang gibt es allerdings nur wenige Erkenntnisse darüber, warum einige Bundesländer in Schulleistungsuntersuchungen höhere Kompetenzwerte erreichen als andere. Ebenso wenig sind die Gründe für die meisten anderen Bundesländerunterschiede bekannt, etwa dafür, dass der Zugang zum Gymnasium in einigen Bundesländern stärker von der sozialen Herkunft abhängt als in anderen, die Abiturnoten besser sind oder anteilig weniger Jugendliche die Schule abbrechen. So überraschend es erscheinen mag: Die Forschung darüber steckt noch in den Kinderschuhen.
Mögliche Erklärungen für Bundesländerunterschiede
Warum gibt es Bildungsungleichheiten zwischen den Bundesländern? Haben Kinder und Jugendliche in Thüringen und Sachsen so hohe Kompetenzen, weil so viele von ihnen schon als Kleinkinder ganztags eine Kita besuchen und Ganztagsschulen sehr verbreitet sind? Wieso schneidet dann aber Bayern, wo weder das eine noch das andere der Fall ist, auch immer wieder so gut bei Bundesländervergleichen ab? Gehen in Bayern so wenige Schülerinnen und Schüler auf das Gymnasium, weil das bayrische Gymnasium und das bayrische Abitur tatsächlich so schwer sind? Warum erzielen sie dann aber eher bessere Abiturnoten?
Bisher kann die Bildungsforschung hier keine klaren Antworten geben. In der Regel lassen sich diesbezüglich nur Vermutungen anstellen, denn zu nur wenigen Fragen gibt es tatsächlich empirische Befunde. Das liegt zum einen daran, dass diese Fragen schwer zu erforschen sind. Sehr viele Einflussfaktoren müssen hierzu gleichzeitig berücksichtigt werden (siehe unten) und dies ist mit den existierenden Daten oft gar nicht möglich. Zweitens aber werden Forschungsvorhaben, die Ländervergleiche einschließen, von der Politik nur sehr zurückhaltend gefördert und der Zugang zu Daten, mit denen solche Forschung möglich ist, restriktiv gehandhabt. Denn in einem so ideologisch aufgeheizten Feld wie der Schulpolitik liegt es nicht immer im Interesse der politisch Verantwortlichen, sich in die Karten blicken zu lassen. So befürchten Bildungsministerinnen und -minister (auch nicht ganz zu Unrecht), dass selbst aus differenzierten Untersuchungsergebnissen am Ende skandalträchtige Schlagzeilen werden können und die Politik dann womöglich unter großem öffentlichen Druck zu vorschnellen Maßnahmen gedrängt wird.
Wir wollen im Folgenden mögliche Erklärungsansätze dafür diskutieren, dass sich Bildungschancen und -ergebnisse zwischen den Bundesländern unterscheiden. Theoretisch kommen dafür sechs verschiedene Gründe infrage. Je nachdem für welche Bundesländerunterschiede man sich interessiert, können auch mehrere Gründe gleichzeitig zutreffen, oder aber ein bestimmter Grund zur Erklärung relevanter sein als die anderen.
Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft
Unterschiede zwischen den Bundesländern in Bildungsergebnissen können durch die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft begründet sein. Denn die Schülerschaft der einzelnen Bundesländer unterscheidet sich zum Teil erheblich nach dem Beruf und der Bildung der Eltern, nach Merkmalen also, die bekanntermaßen großen Einfluss auf den Bildungserfolg haben. So befinden sich beispielsweise deutschlandweit 79 von 100 Akademikerkindern auf der gymnasialen Oberstufe, aber nur 43 von 100 Kinder, deren Eltern keine Akademiker sind (Middendorf u.a. 2013, S. 112). Nun ist der Anteil der Kinder, die in Akademikerhaushalten leben, in manchen Bundesländern sehr viel höher als in anderen. So kommen in Hamburg und Berlin knapp 32 Prozent aller schulpflichtigen Kinder aus Akademikerhaushalten, dagegen in Sachsen-Anhalt 20 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern nur rund 15 Prozent
Da Schulen in Deutschland sozial bedingte Bildungsbenachteiligungen kaum ausgleichen können, weisen jene Bundesländer die höchsten Abiturquoten auf, in denen die meisten Akademikerkinder zur Schule gehen. Das Grundproblem des deutschen Schulsystems ist also, dass die soziale Herkunft noch immer stark die Bildungslaufbahn bestimmt. Weil sich indes die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in den einzelnen Bundesländern unterscheidet, folgen daraus auch Bildungsungleichheiten zwischen den Bundesländern .
Infrastruktur
Unterschiede in der Bildungsinfrastruktur beeinflussen die Bildungsergebnisse in den Bundesländern in zweifacher Hinsicht. Erstens hat die Forschung gezeigt, dass der frühzeitige Kita-Besuch und der Besuch von Ganztagsschulen Kindern aus unteren sozialen Schichten dabei helfen, Kompetenzrückstände gegenüber Kindern höherer, bildungsbewussterer Schichten auszugleichen. In Bundesländern, in denen diese Bildungseinrichtungen fehlen oder in nur geringem Umfang vorhanden sind, können weniger Kinder von diesen profitieren, was sich wiederum negativ auf ihren weiteren Bildungsverlauf auswirken kann. Zweitens gibt es in Deutschland Regionen, in denen ein Gymnasium nur mit großem Zeit- und Kostenaufwand zu erreichen ist. Sind aber keine Gymnasien in Wohnortnähe vorhanden, werden vor allem Kinder unterer sozialer Schichten vom Gymnasialbesuch abgehalten, weil ihre Eltern lange Schulwege eher scheuen als bildungsnahe Eltern. Ländlich geprägte und dünn besiedelte Bundesländer haben zwei Möglichkeiten. Entweder sie richten flächendeckend integrierte Schulformen wie die Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschule ein, an denen das Abitur erlangt werden kann. Diesen Weg gehen bevölkerungsarme Bundesländer wie Brandenburg oder Schleswig-Holstein. Oder sie halten am althergebrachten Grundsatz fest, dass ausschließlich Gymnasien zum Abitur führen, wie es beispielsweise in Sachsen oder Bayern der Fall ist. Dann aber werden die Bildungschancen der Schülerinnen und Schüler gerade in dünn besiedelten Regionen ein Stück weit vom Schulangebot vor Ort abhängig.
Demografie
Eng mit der schulischen Infrastruktur gekoppelt ist auch der Einfluss demografischer Entwicklungen auf Bildungschancen und -ergebnisse. So zeigt sich beispielsweise, dass Schülerinnen und Schüler aus geburtenschwachen Jahrgängen nach der Grundschule häufiger aufs Gymnasium übergehen als die aus geburtenstarken Jahrgängen. Auch der erfolgreiche Abschluss des Gymnasiums hängt ein Stück weit von solchen demografischen Faktoren ab. So greifen Gymnasien seltener auf das Instrument der Abschulung, also die Versetzung eines Schülers in eine niedrigere Schulform, zurück, wenn die Schülerzahlen eines Jahrgangs sinken, aber häufiger, wenn sie steigen. Worauf genau dies zurückzuführen ist, lässt sich bisher nur vermuten: In kleineren Jahrgängen ist die Schüler-Lehrer-Relation günstiger und die Schülerinnen und Schüler werden deshalb intensiver gefördert. Denkbar ist aber auch, dass die Gymnasien bei kleinen Jahrgängen weniger strenge Leistungskriterien anlegen, um die Schließung ihres Schulstandortes wegen zu geringer Schülerzahlen zu verhindern. Was auch immer die Ursache ist – der Befund zeigt, dass Selektionsentscheidungen im deutschen Schulsystem keineswegs immer nur leistungsorientierten Grundsätzen folgen. Ob eine Schülerin oder ein Schüler auf das Gymnasium geht und dort erfolgreich verbleibt, sollte nicht davon abhängen, ob es in dem Geburtsjahrgang viele oder wenige Kinder gibt. Da es solche demografischen Effekte auf die Bildungsbeteiligung dennoch gibt und die Bundesländer und Regionen Deutschlands in den letzten Jahren zum Teil recht unterschiedliche demografische Entwicklungen verzeichnen, lassen sich auch über die Demografie Bundesländerungleichheiten in der Bildung erklären.
Wirtschaftsstrukturelle Gegebenheiten
Unterschiedliche Bildungsergebnisse können ihre Ursache auch in der Wirtschaftsstruktur der Bundesländer haben. Insbesondere Unterschiede im Angebot auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind hier von Bedeutung, da diese die Bildungs- und Berufswünsche von Jugendlichen beeinflussen können. So deutet einiges darauf hin, dass sich Jugendliche bzw. ihre Eltern in Regionen mit einer hohen Arbeitslosenquote oder einem geringen Ausbildungsplatzangebot eher für gymnasiale Bildungsgänge entscheiden, um im Wettbewerb um die wenigen Ausbildungsstellen bessere Chancen zu haben. In Regionen mit einem reichhaltigen Angebot an Ausbildungsplätzen wird es hingegen häufiger vorkommen, dass Schülerinnen und Schüler nicht den gymnasialen Bildungsgang wählen, weil sie auch ohne Abitur gute Chancen auf einen Ausbildungsplatz sehen. Unterschiedliche Bildungsergebnisse in Reaktion auf wirtschaftsstrukturelle Gegebenheiten wären aus gesellschaftlicher Sicht wohl akzeptabel, insofern sie allein auf den individuellen Entscheidungen von Eltern und Jugendlichen beruhen. Denn Jugendliche in Bundesländern mit einem geringeren Anteil von Abiturienten müssen keineswegs schlechtere Arbeitsmarktperspektiven haben, wenn Betriebe in diesen Bundesländern auch für Jugendliche mit Real- und Hauptschulabschluss ausreichend viele Ausbildungsplätze anbieten.
Wertevorstellungen
Ob eine Bildungseinrichtung genutzt wird oder nicht, hängt auch mit den vorherrschenden Bildungs- und Erziehungsvorstellungen von Eltern zusammen. So ist davon auszugehen, dass in Regionen, in denen Eltern eher konservative Erziehungsvorstellungen haben und der Begriff der erwerbstätigen „Rabenmutter“ noch nicht der Vergangenheit angehört, auch die Nachfrage nach frühkindlichen und ganztagsschulischen Bildungseinrichtungen geringer ist. Besonders deutlich zeigen sich solche Unterschiede im Ost-West-Vergleich. Da die ostdeutschen Bundesländer traditionell eine höhere Frauenerwerbstätigkeit aufweisen als die westdeutschen, werden dort öffentliche Bildungs- und Betreuungsangebote als Ergänzung zur heimischen Erziehung stärker wertgeschätzt. Beispielsweise besuchen gut 83 Prozent der Zweijährigen in Ostdeutschland eine Kindertageseinrichtung, in Westdeutschland aber nur 47 Prozent (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, S. 55). Auch im schulischen Bereich zeigen sich entsprechende Unterschiede. So gehen in Brandenburg viermal mehr Kinder und Jugendliche auf eine Ganztagsschule als in Bayern (44 versus 10 Prozent), obwohl der Anteil der Schulen im Ganztagsbetrieb auf ähnlichem Niveau liegt (Helbig/Nikolai 2015, S. 131). Wie oben bereits angesprochen, kann sich die Wahrnehmung dieser Angebote wiederum positiv auf den weiteren Bildungsweg auswirken, insbesondere für Kinder aus weniger privilegierten Elternhäusern. Deutliche Ost-West-Unterschiede zeigen sich aber auch beim Anteil der Schülerschaft, der die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlässt. Auch hierfür dürften unter anderem unterschiedliche Bildungsvorstellungen verantwortlich sein. Denn während der Hauptschulabschluss in den westdeutschen Bundesländern eine lange Tradition hat, verließen die Schülerinnen und Schüler in der DDR die Schule mindestens mit dem 10-jährigen Polytechnischen Abschluss. Daher wurde der schon nach Klasse 9 absolvierte Hauptschulabschluss nach der Wende von ostdeutschen Eltern weniger akzeptiert, da er von vielen als Rückschritt gegenüber der eigenen Schulbildung empfunden wurde. Das Vorherrschen unterschiedlicher Bildungs- und Erziehungsvorstellungen kann also zu ungleichen Bildungsergebnissen zwischen den Bundesländern führen. Ob dies aus gesellschaftlicher Sicht akzeptabel ist oder nicht, ist indes schwer zu beantworten.
Schulrechtliche Regelungen
Nicht zuletzt könnten Bildungsergebnisse durch die rechtliche Ausgestaltung des Schulsystems beeinflusst werden. Es gibt gesetzliche Regelungen, deren Wirkung auf die Bildungsbeteiligung offensichtlich ist. Hierzu gehört etwa die Oberschulreform in Bremen, mit der sich die Gymnasialschulplätze deutlich verringerten. Daher besuchen heute in keinem anderen Bundesland so wenige Kinder nach der Grundschule das Gymnasium wie in Bremen. In Baden-Württemberg wechselt keine Schülerin und kein Schüler mit Realschulabschluss auf das allgemeinbildende Gymnasium, da für sie der Weg über das berufliche Gymnasium vorgesehen ist. In Thüringen ist es für die Klassenstufen 8 bis 10 schulrechtlich ausgeschlossen, dass Schülerinnen und Schüler von der integrierten Haupt- und Realschule (der sogenannten Regelschule) auf das Gymnasium wechseln. Allerdings ist fraglich, ob diese Regelungen im weiteren Bildungsverlauf tatsächlich zu Bundesländerunterschieden führen. In Baden-Württemberg besuchen viele der Realschulabsolventinnen und -absolventen eben anschließend das berufliche Gymnasium und legen dann dort das Abitur ab . In Thüringen wechseln im Bundesländervergleich noch relativ viele Regelschülerinnen und -schüler vor und nach den „verbotenen“ Klassenstufen auf das Gymnasium. In Bremen haben alle Schülerinnen und Schüler auf der zweiten Schulform die Möglichkeit, das Abitur zu erwerben. Auf der anderen Seite gibt es viele schulrechtliche Unterschiede, deren Wirkung noch weit unklarer ist. Zu welchen Bildungsergebnissen führen Regelungen des sechsjährigen gemeinsamen Lernens gegenüber der vierjährigen Grundschule? Welche Wirkung haben vollgebundene Ganztagsschulen im Verhältnis zu teilgebundenen oder Halbtagsschulen? Welche Ergebnisse produzieren dreigliedrige Schulsysteme (Bayern), welche zweigliedrige (z.B. Sachsen), welche zweigliedrige mit einer gymnasialen Oberstufe an der zweiten Schulform (z.B. Hamburg), welche fünfgliedrige Schulsysteme (z.B. Nordrhein-Westfalen)? Auf alle diese Fragen gibt es keine befriedigenden, wissenschaftlich fundierten Antworten.
Fazit und Ausblick
Auch wenn Bildungspolitikerinnen und -politiker anlässlich der Veröffentlichung neuer Bundesländerrankings häufig zu erklären versuchen, warum ihr Bundesland besonders gut oder schlecht abgeschnitten hat, handelt es sich meist nur um Spekulationen. Bislang gibt es kaum systematische bundesländervergleichende Ursachenforschung, die solche Schlüsse zulässt. Aus diesem Grund kann auch von dem viel beschworenen „Wettbewerbsföderalismus“, demzufolge die Bundesländer im föderalen System um die besten schulpolitischen Lösungen konkurrieren und ihre Schulsysteme durch das Lernen von Best-Practice-Beispielen weiterentwickeln, nicht wirklich die Rede sein. Denn mangels belastbarer empirischer Informationen ist in der Regel schlicht nicht bekannt, welche Lösung tatsächlich bessere und welche Lösung schlechtere Bildungsergebnisse hervorbringt. Wir haben in diesem Beitrag dargestellt, welche Faktoren prinzipiell Bundesländerunterschiede erklären können. Für einige dieser Erklärungen gibt es bereits empirische Belege, für andere nicht. Systematische Untersuchungen zu der Frage, welche der genannten Einflussfaktoren für die Bundesländerunterschiede im Einzelnen ausschlaggebend sind (und in welcher Kombination), stehen jedoch aus. Hier besteht für die Schulpolitik dringender Handlungsbedarf: Sie sollte den Zugang zu den existierenden Daten erleichtern, die Entwicklung besserer Daten forcieren und durch eine gezielte Forschungsförderung dazu beitragen, dass qualitativ hochwertige bundesländervergleichende Untersuchungen durchgeführt werden. Denn erst mit einem abgesicherten Wissen über die Ursachen von Bundesländerunterschieden lässt sich auch eine aufgeklärte gesellschaftliche Diskussion führen. Wie sehr dürfen sich die Bildungschancen und -ergebnisse in den Bundesländern unterscheiden, ohne dass dadurch gravierende Nachteile entstehen? Welche Bundesländerunterschiede sind mit Blick auf ihre langfristigen Folgen tatsächlich problematisch und welche nicht? Und vor allem: Was kann die Schulpolitik tun, um problematische Bundesländerunterschiede zu reduzieren?
Einen Überblick über die wichtigsten Bundesländerunterschiede finden Sie im Artikel: