Unterschiede im Bildungserfolg zwischen Personen mit und ohne Migrationsgeschichte werden in der Forschung als ethnische oder auch migrationsspezifische Bildungsungleichheiten bezeichnet. Dass diese Bildungsungleichheiten in jüngerer Zeit immer mehr in den Fokus der öffentlichen Diskussion gerückt sind, hat zum einen mit Interner Link: PISA und vergleichbaren Studien zu tun. Denn zum "PISA-Schock" der Jahrtausendwende gehörte auch die Erkenntnis, dass Bildungsungleichheiten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in kaum einem OECD-Land so ausgeprägt waren wie in Deutschland. Auch in der aktuellsten PISA-Studie aus dem Jahr 2018 fallen ethnische Bildungsungleichheiten noch stark ins Gewicht. So lag z. B. die durchschnittliche Lesekompetenz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund um 52 Punkte niedriger als die ihrer Altersgenossen ohne Migrationshintergrund (Weis u.a. 2019, S. 150) – 41 Punkte entsprechen in etwa einem Lernjahr. Auch im Hinblick auf die besuchte Schulform zeigen sich deutliche Unterschiede: Während von den Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund 43 Prozent ein Gymnasium besuchten, waren es unter jenen mit Migrationshintergrund nur knapp 30 Prozent (ebd., S. 154).
Ein weiterer Grund für das gestiegene Interesse an der Thematik liegt sicherlich darin, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren immer weiter angestiegen ist: Im Jahr 2019 wiesen deutschlandweit 39 Prozent der Schülerschaft an allgemeinbildenden Schulen einen Migrationshintergrund auf (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 47, eigene Berechnungen; zur Definition des Migrationshintergrundes vgl. Externer Link: hier, S. 4–8). In einzelnen Bundesländern, etwa den Stadtstaaten, ist der Anteil noch einmal höher.
Nicht selten wird argumentiert, dass Migrantenfamilien für ihre nachteilige Bildungssituation selbst verantwortlich seien. Sie würden sich in ihrem ethnischen Milieu einrichten, anstatt konsequent die deutsche Sprache zu lernen und sich um Bildung zu bemühen. Aber auch die gegenteilige Position wird vertreten. Zuwanderer und ihre Nachkommen seien sehr wohl bildungsbewusst, würden jedoch durch Diskriminierung am Bildungsaufstieg gehindert. Was lässt sich dazu aus wissenschaftlicher Perspektive sagen?
Sorgfältig durchgeführte Untersuchungen zeichnen zumeist ein sehr viel differenzierteres Bild. Einerseits belegen sie in großer Übereinstimmung, dass von einem "Nicht-Wollen" keine Rede sein kann. Im Gegenteil: Viele Migranten haben in der Tat hohe Bildungsziele, streben beispielsweise häufiger den Besuch eines Gymnasiums an als sozial ähnlich gestellte Personen ohne Migrationshintergrund (Becker & Gresch, 2016; Salikutluk, 2016). Andererseits zeigen die Untersuchungen aber auch, dass sich die Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund nicht einfach auf Diskriminierung zurückführen lässt. Zwar gibt es Hinweise, dass sich bestimmte Verfahren und Regelungen, die im Schulsystem (z. B. bei der Sonderschulüberweisung) zur Anwendung kommen, nachteilig auf Migrantenkinder auswirken können und auch die Existenz von ethnischen Stereotypen, verzerrten Einschätzungen und (bewusst oder unbewusst) diskriminierenden Handlungen durch Lehrkräfte wird keineswegs in Abrede gestellt (Diehl & Fick, 2016). Weit größere Bedeutung wird jedoch einem anderen Faktor beigemessen.
Eine zentrale Erkenntnis aus den vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen ist nämlich, dass sich das Gros der bestehenden Bildungsnachteile von Migrantenkindern gar nicht spezifisch auf ethnische Gesichtspunkte, die eigene Migrationserfahrung oder die der Eltern zurückführen lässt. Vielmehr zeigt sich, dass ethnische Bildungsungleichheiten in erster Linie ein Sonderfall Interner Link: sozialer Ungleichheit sind (Kalter & Granato, 2018; Heath & Brinbaum, 2014; Kristen & Granato, 2007). Um das zu verstehen, muss man sich klar machen, dass Migrantenfamilien in den unteren sozialen Schichten deutlich überrepräsentiert sind und ihre Kinder daher häufiger unter ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen aufwachsen. Vergleicht man ihre Bildungssituation mit der von sozial ähnlich gestellten Schülerinnen und Schülern ohne Zuwanderungshintergrund, zeigt sich für beide Gruppen ein sehr ähnliches Bild, wie die folgende Abbildung beispielhaft für den Schulbesuch veranschaulicht.
Wir haben jetzt allgemein über 'die' Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen. Aber natürlich handelt es sich hier um eine heterogene Gruppe mit Wurzeln in unterschiedlichsten Ländern. Welche Migrantengruppen haben es denn im deutschen Bildungssystem besonders schwer und warum?
Im Zuge der Gastarbeiterabkommen kamen Menschen aus Südeuropa nach Deutschland, zum Beispiel aus Italien, Spanien, Griechenland, Portugal oder dem ehemaligen Jugoslawien, aber auch viele Personen aus der Türkei. Hierbei handelte es sich in den meisten Fällen um gering qualifizierte Zuwanderer, um deren Integration man sich in den Folgejahren nicht sonderlich gekümmert hat. Es wurde angenommen, dass sie ohnehin bald wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Heute wissen wir, dass dies zumeist nicht der Fall war. Aber das vergleichsweise geringe Qualifikationsniveaus der damaligen Gastarbeiter wirkt bis heute in den Nachfolgegenerationen fort. So erzielen beispielsweise türkischstämmige, aber auch italienischstämmige Schülerinnen und Schüler oder solche aus dem ehemaligen Jugoslawien schlechtere Leistungen im Bildungssystem, insbesondere im sprachlichen Bereich (Haag et al., 2015; Segeritz, Walter & Stanat, 2010; Walter, 2008). Im Gegensatz dazu schneiden Zuwanderer und ihre Nachkommen, die als sogenannte Interner Link: (Spät-)Aussiedler oder im Zuge der Arbeitsmigration seit den 1990er Jahren aus Osteuropa in die Bundesrepublik gekommen sind, vergleichsweise gut ab (Haag et al., 2015; Segeritz, Walter & Stanat, 2010; Strobel & Seuring, 2016; Walter, 2008). Sie weisen oftmals einen vorteilhafteren Bildungshintergrund auf, verfügen zum Teil bereits zum Zeitpunkt des Zuzugs über deutsche Sprachkenntnisse und nutzen dann auch häufiger die deutsche Sprache im Alltag als andere Gruppen.
Zur Beschreibung von Geschlechterungleichheiten stellt man den Bildungserfolg von Frauen und Männern gegenüber. Im Falle ethnischer Ungleichheiten vergleicht man entsprechend Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Klingt erst mal simpel, ist es aber in diesem Fall nicht. Wo liegen die Schwierigkeiten?
Das Grundproblem ist, dass die Kategorie "Migrationshintergrund" schwerer zu greifen ist als z. B. das Geschlecht. Es kommen hier unterschiedliche Definitionen infrage und welche davon man für eine Untersuchung wählt, hat großen Einfluss darauf, was als Ergebnis herauskommt. Lange Zeit wurde vor allem die Staatsangehörigkeit als Kriterium zur Feststellung eines Migrationshintergrunds herangezogen. Es werden dann also Personen mit deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit verglichen (Kemper, 2015). Dieses Vorgehen ist in der amtlichen Statistik (also bei den Statistikämtern des Bundes und der Länder) bis heute weit verbreitet, da sie vor allem auf Daten beruht, die von den Bildungseinrichtungen zu Verwaltungszwecken erhoben werden – und in diesem Zusammenhang wird regulär einzig die Staatsangehörigkeit der Bildungsteilnehmer erfasst. Für die Beschreibung von ethnischen Bildungsungleichheiten ist das ein Problem, denn ein erheblicher Teil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund hat die deutsche Staatsangehörigkeit und fällt somit durch das Raster.
Seit Etablierung der internationalen und nationalen Schulleistungsstudien können wir die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund glücklicherweise präziser erfassen. Im Rahmen dieser Studien werden Lernende nämlich zu ihrer familiären Herkunft einschließlich einer möglichen Migrationsgeschichte befragt. Zur Feststellung eines Migrationshintergrundes kann dann das Geburtsland der befragten Person und das der Eltern verwendet werden, in neueren Erhebungen wird sogar zusätzlich das Geburtsland der Großeltern erfasst (Dollmann, Jacob & Kalter, 2014; Olczyk, Will & Kristen, 2016). Eine weitere Möglichkeit der Definition des Migrationshintergrunds bezieht sich erneut auf die Staatsangehörigkeit; zusätzlich wird aber auch eine mögliche Einbürgerung der Zielperson oder ihrer Eltern berücksichtigt (Gresch & Kristen, 2011). Grundsätzlich gilt: Verwendet man eine weiter gefasste Definition des Migrationshintergrunds, bei der also größere Teile der Bevölkerung den Personen mit Migrationshintergrund zugeordnet werden, dann fallen ethnische Unterschiede im Bildungserfolg regelmäßig geringer aus als bei einer enger gefassten Definition (ebd.).
Auch bei einer weiter gefassten Definition ist es sinnvoll genauer hinzuschauen. Denn wie stark die Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern ausfällt, hängt in hohem Maße auch davon ab, wer in der Familie im Ausland geboren ist und damit für den Migrationshintergrund "verantwortlich" ist. Schülerinnen und Schüler der dritten Generation, bei denen lediglich die Großeltern im Ausland geboren sind, schneiden vergleichsweise besser ab als Schülerinnen und Schüler, die selbst im Ausland geboren sind und eine eigene Migrationsbiografie haben (1. Generation), während Schülerinnen und Schüler der zweiten Generation (mit im Ausland geborenen Eltern) bzw. der sogenannten 2,5. Generation (ein Elternteil im Ausland geboren) eine Zwischenposition einnehmen (Olczyk et al., 2016).
Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Bildungserfolg in den verfügbaren Studien unterschiedlich gemessen wird, etwa anhand von Kompetenzen in den Bereichen Lesen und Mathematik oder an der Beteiligungsquote der Lernenden in den verschiedenen Bildungsgängen. Auch hier gilt, dass in Abhängigkeit des betrachteten "Indikators" unterschiedliche Einschätzungen des Ausmaßes der bestehenden Bildungsungleichheiten resultieren können. So ergeben sich beispielsweise stärkere ethnische Unterschiede, wenn die Kompetenzen im Lesen betrachtet werden, und geringere im Bereich der Mathematik. Für weitere Unterschiede in den Einschätzungen sorgt die Betrachtung verschiedener Etappen des Bildungsverlaufs. Es kommt also auch darauf an, auf welche Lebensphase Bezug genommen wird, ob auf Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Insgesamt lässt sich deshalb festhalten, dass das Phänomen ethnischer Bildungsungleichheiten längst nicht so eindeutig ist, wie es häufig den Anschein hat (Diehl, Hunkler & Kristen, 2016, S. 5).
Was sind die wichtigsten Ursachen für ethnische Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem?
Wenn wir uns mit Bildungsungleichheiten beschäftigen, geht es häufig um Ungleichheiten in den am Ende der Bildungskarriere erreichten Abschlüssen. Sie ergeben sich im Wesentlichen aus zwei Faktoren, die wir in der Bildungsforschung Interner Link: primäre und sekundäre Herkunftseffekte nennen (Boudon, 1974). Diese Unterscheidung kann helfen verschiedene Ursachen von Bildungsungleichheit auseinanderzuhalten.
Primäre Herkunftseffekte bezeichnen den Umstand, dass junge Menschen in Abhängigkeit von ihren Lebensumständen unterschiedliche schulische Leistungen erzielen, etwa weil sie in ihren Familien, im Bekanntenkreis und der Nachbarschaft, aber auch in der Schule ihres Einzugsgebiets unterschiedliche Anregungsmilieus und Unterstützungsmöglichkeiten vorfinden. Solche Leistungsunterschiede lassen sich an Schulnoten ebenso festmachen wie an den Ergebnissen von Kompetenzmessungen, wie sie in Interner Link: Untersuchungen wie PISA oder dem IQB-Bildungstrend vorgenommen werden. Die gegebenen Leistungsunterschiede zwischen Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich, wie bereits angesprochen, zum größten Teil auf den oftmals niedrigeren sozioökonomischen Status und die damit verbundenen nachteiligen Lebensverhältnisse von Migrantenfamilien zurückführen (Gresch, 2016; Segeritz, Walter & Stanat, 2010). Darüber hinaus tragen vor allem Sprachbarrieren zu ethnischen Leistungsunterschieden bei. Ihre Folgen treten insbesondere dann zutage, wenn sprachliche Kompetenzen wie die Leseleistungen erfasst werden. Sie schlagen sich außerdem in den Ergebnissen im Fach Deutsch nieder (Gresch, 2016). Die jüngste PISA-Studie zeigt in diesem Zusammenhang beispielsweise, dass Jugendliche, die zuhause hauptsächlich eine andere als die deutsche Sprache sprechen, in ihrer Lesekompetenz gut ein Lernjahr (45 Kompetenzpunkte) hinter denjenigen zurückliegen, die zuhause vor allem Deutsch sprechen (Weis 2019, S. 156). Dieser Befund unterstreicht noch einmal die besondere Bedeutung, die der Sprache für den Schulerfolg zukommt.
Bildungsungleichheiten ergeben sich jedoch nicht nur aus unterschiedlichen Schulleistungen. Vielmehr können die Lernenden – selbst bei vergleichbaren schulischen Leistungen – auch deshalb zu unterschiedlichen Bildungsabschlüssen gelangen, weil im Verlauf der Bildungskarriere je nach den familiären Lebensumständen unterschiedliche Bildungsentscheidungen getroffen werden. Solche Unterschiede im Entscheidungsverhalten werden in der Bildungsforschung als sekundäre Herkunftseffekte bezeichnet und sind darauf zurückzuführen, dass Kosten, Nutzen und Erfolgsaussichten der verschiedenen Übergangsmöglichkeiten unterschiedlich bewertet werden. Beispielsweise eröffnet der Besuch eines Gymnasiums am Ende zwar die meisten Anschlussmöglichkeiten, birgt jedoch vielleicht auch ein erhöhtes Risiko des Scheiterns und bedeutet in jedem Fall eine längere finanzielle Abhängigkeit von den Eltern als eine frühzeitige Berufsausbildung.
Bei den Bildungsentscheidungen scheinen sich zwar auf den ersten Blick nachteilige schulische Leistungen in entsprechende Übergangsraten zu übersetzen – Schülerinnen und Schüler mit schwachen Leistungen wechseln eben eher auf weniger anspruchsvolle Schularten. Allerdings sieht die Situation bei genauerer Betrachtung anders aus. Sobald man Lernende mit ähnlichen Leistungen miteinander vergleicht und zusätzlich berücksichtigt, dass Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien häufiger einen niedrigeren sozioökonomischen Status aufweisen, dann wird deutlich, dass in Zuwandererfamilien eher die anspruchsvolleren Bildungsgänge gewählt werden (Dollmann, 2016; Kristen & Dollmann, 2009; Gresch & Becker, 2010). Mit anderen Worten: Wann immer es die schulischen Leistungen prinzipiell zulassen, schlagen Kinder aus Zuwandererfamilien eher den höheren Bildungsweg ein. Dies zeigt sich am Übergang in die Schulformen der Sekundarstufe ebenso wie an späteren Bildungsübergängen, z. B. nach der zehnten Klasse, wo Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund eher geneigt sind, ihre Bildungskarriere auf dem Gymnasium fortzuführen als eine Ausbildung zu beginnen (Dollmann, 2017; Dollmann & Weißmann, 2020), oder am Ende der Oberstufe, wo sie eher ein Studium aufnehmen als gleichaltrige Abiturienten ohne Zuwanderungshintergrund (Kristen, Reimer & Kogan, 2008; Mentges, 2020).
Ein Grund für diese sogenannten optimistischen Bildungsentscheidungen sind die oftmals höheren Bildungsaspirationen in Migrantenfamilien, die für viele Herkunftsgruppen nachzuweisen sind, und zwar an unterschiedlichen Etappen der Bildungslaufbahn (Becker & Gresch, 2016; Gresch et al., 2012; Kristen & Dollmann, 2009; Salikutluk, 2016; Tjaden & Hunkler, 2017). Dass in Migrantenfamilien optimistische Übergangsentscheidungen getroffen werden, scheint im Übrigen keine Besonderheit des deutschen Kontextes zu sein. Das lässt sich auch in anderen europäischen Ländern feststellen (Dollmann, 2016, S. 533). Warum die Aspirationen in Familien mit Migrationshintergrund höher ausfallen, ist nicht abschließend geklärt. Diskutiert werden verschiedene Ursachen (Becker & Gresch, 2016), zum Beispiel der sogenannte Zuwanderungsoptimismus. Dabei wird davon ausgegangen, dass Personen, die auswandern, sich in wichtigen Eigenschaften wie ihrer Motivation zum Aufstieg von Personen unterscheiden, die im Herkunftsland verbleiben. Diese erhöhte Motivation, so die Annahme, könnte sich in den an die Nachfolgegeneration gerichteten Erwartungen niederschlagen.
Wo liegen aus Sicht der Forschung vielversprechende Ansatzpunkte, um die Bildungschancen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern?
Auch wenn es um geeignete Interventionsmöglichkeiten geht, ist die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten hilfreich. Denn je nachdem, ob sich die Nachteile von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund eher in den Leistungen oder an den Bildungsübergängen zeigen, würde man unterschiedliche Empfehlungen aussprechen.
Hinsichtlich der Übergangsentscheidungen ist die Befundlage eindeutig: Wir müssen uns keine Sorgen um möglicherweise unmotivierte Kinder, Jugendliche oder Eltern mit Migrationshintergrund machen, die kein Interesse daran haben, einen anspruchsvollen Bildungsweg zu bestreiten. Die Forschung zeigt: Der Großteil der Migrantenfamilien ist in Sachen Bildung hochmotiviert, und dies schlägt sich, wie gerade ausgeführt, in eher optimistischen Bildungsentscheidungen nieder. Dies gilt für Mädchen und Jungen aus Migrantenfamilien gleichermaßen. Dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund dennoch seltener in anspruchsvollen Bildungsgängen wie dem Gymnasium oder der Universität zu finden sind, hängt vor allem mit den schulischen Leistungen zusammen. Und bei Kompetenzen und Noten spielt, auch darüber sprachen wir schon, der soziale Hintergrund eine Schlüsselrolle: Häufig reichen die durch die soziale Herkunft geprägten schulischen Leistungen schlichtweg nicht aus, um den Übergang auf eine anspruchsvollere Schulart zu schaffen (Kristen & Dollmann, 2009).
Genau an diesem Punkt sollten Interventionen ansetzen: Es geht darum, die frühen Leistungsunterschiede anzugehen – und diese sind oftmals schon im vorschulischen Bereich und zu Beginn der Einschulung festzustellen (Becker & Biedinger, 2016). Allerdings, und auch das muss konstatiert werden: So eindeutig diese Empfehlung auch ist, so unklar ist letztlich, wie man das am besten macht. Es lässt sich zwar argumentieren, dass eine möglichst frühzeitige Betreuung von Kindern mit Migrationshintergrund in Kindertagesstätten und im Kindergarten dazu beitragen kann, den Kompetenzerwerb zu fördern und Interner Link: frühe Nachteile zu kompensieren, gerade auch mit Blick auf die Aneignung der deutschen Sprache. Davon sind viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überzeugt und auch politisch wird das immer wieder gefordert. Tatsächlich sind jedoch methodisch saubere Studien in diesem Bereich kaum verfügbar und auch nicht ohne weiteres durchführbar. Deshalb können wir derzeit leider nicht mit Gewissheit sagen, ob derartige Maßnahmen tatsächlich zu einer nachhaltigen Reduktion von ethnischen Bildungsungleichheiten beitragen. Dies gilt in ähnlicher Weise für andere Maßnahmen, etwa die Teilnahme an Sprachförderprogrammen, die teilweise nicht die erhofften positiven Ergebnisse liefern konnten (Schöler & Roos, 2011; Wolf, Stanat & Wendt, 2011). Hier besteht definitiv noch Forschungsbedarf.
Man hört immer wieder, dass es für das Lernen nachteilig sei, wenn Schulklassen einen sehr hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aufweisen. Können Sie dazu etwas sagen?
Ja, das ist ein wiederkehrendes Argument, bei dem es um sogenannte "Brennpunktschulen" geht. Hierzu gibt es mittlerweile einiges an Forschung (z. B. Stanat, Schwippert & Gröhlich, 2010; Dollmann & Rudolphi, 2020; Seuring, Rjosk & Stanat, 2020). Die Befunde weisen im deutschen ebenso wie im internationalen Kontext in eine eindeutige Richtung: Sobald man die sozioökonomische und leistungsmäßige Zusammensetzung der Schülerschaft berücksichtigt, zeigt sich, dass es nicht der Migrantenanteil ist, der die ungünstigere Leistungsentwicklung an solchen Schulen bedingt. Der Grund dafür liegt vielmehr in der ungünstigeren Zusammensetzung der Schülerschaft nach sozioökonomischem Status. Vielfältigen Studienergebnissen zufolge würde man ähnliche Nachteile also auch in Schulklassen mit deutlich geringeren Migrantenanteilen finden, sofern die Schülerschaft einen ähnlichen sozialen Hintergrund aufweist. Es ist hier also wie bei der Erklärung der ethnischen Leistungsunterschiede: entscheidend ist die soziale Herkunft und nicht die ethnische – das gilt mit Blick auf die individuelle Leistungsentwicklung ebenso wie hinsichtlich der Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schulklasse.
Befürworter einer bilingualen Erziehung argumentieren, dass eine Förderung der Erstsprache den Erwerb der Zweitsprache erleichtert und Kinder mit Migrationshintergrund auf diesem Wege bessere schulischen Leistungen erzielen könnten. Sollten Schulen verstärkt in der Herkunftssprache der Kinder unterrichten?
Dieser Forderung wird regelmäßig vorgetragen, allerdings gibt es auch hierzu nur wenige belastbare Studien (Kempert et al., 2016), was vor allem daran liegen dürfte, dass selten gleichzeitig die Kompetenzen in der Herkunftssprache (Erstsprache) und in der Sprache des Ziellands (Zweitsprache) erhoben werden. Das heißt, dass die Informationen zur Sprachfertigkeit der Lernenden entweder für die deutsche oder die Herkunftssprache vorliegen, nicht aber für beide. Die Befunde aus den wenigen Untersuchungen, die beide Informationen einbeziehen, zeigen, dass Kenntnisse der Erstsprache den Schulerfolg nicht befördern (Dollmann & Kristen, 2010). Einzig Kompetenzen in der Zweitsprache – in der Bundesrepublik also des Deutschen – scheinen hierfür von Bedeutung zu sein. Man kann allerdings auch festhalten, dass Kenntnisse in der Erstsprache und deren Förderung den schulischen Erfolg auch nicht behindern (Kempert et al., 2016).
Übrigens sind solch eher ernüchternde Ergebnisse auch für andere Vorschläge zu finden. Beispielsweise wird regelmäßig gefordert, dass die Einstellung von Lehrkräften oder Erzieherinnen mit Migrationshintergrund forciert werden sollte, da diese eine wichtige Rolle bei der Lösung des Problems ethnischer Bildungsungleichheit spielen könnten (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2007). Dabei wird unter anderem davon ausgegangen, dass diese Personen als Vorbilder fungieren und mit der Lebenswelt von Migrantenfamilien besser vertraut sind; eine multikulturelle Zusammensetzung des pädagogischen Personals könnte deshalb eine positive Wirkung entfalten (Neumann, 2005, S. 199). Letztlich geben die verfügbaren wissenschaftlichen Befunde aber auch hier wenig Anlass dazu, dieses Anliegen weiterzuverfolgen. So zeigen sich z. B. in einer Studie in Kindertagesstätten keine höheren Kompetenzen für Kinder aus Zuwandererfamilien, wenn deren Fachkraft einen Migrationshintergrund aufweist. Auch mit Blick auf die Sozialkompetenz der Kinder und hinsichtlich der Frage, ob Eltern mit Zuwanderungshintergrund enger mit den Einrichtungen zusammenarbeiten, wenn dort Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, ließen sich keine Vorteile ausmachen (Neugebauer & Klein, 2016). Ganz ähnliche Ergebnisse gibt es auch für den Schulbereich (Klein, Neugebauer & Jacob, 2019; Rotter, 2012).
Im Übrigen dürfte ein solcher Vorschlag schon in Anbetracht der Heterogenität der Schülerschaft an Grenzen stoßen. Denn sofern die angedachte Passung auf einen identischen Migrationshintergrund von Lehrkraft und Schülerin abzielt, bräuchte man in Schulklassen mit einer heterogenen Schülerschaft für jede Herkunftsgruppe Lehrpersonal mit eben diesem Migrationshintergrund (Klein, Neugebauer & Jacob, 2019), was sich natürlich nicht realisieren lässt.
Welche individuellen und welche gesellschaftlichen Folgen haben ethnische Bildungsungleichheiten?
Die Auseinandersetzung mit Unterschieden im Bildungserfolg betrifft einen gesellschaftlichen Bereich, der für die Interner Link: späteren Lebenschancen außerordentlich folgenreich ist. In Deutschland sind Bildungsabschlüsse eng gekoppelt an die spätere Platzierung auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb ergeben sich aus einer ungleichen Verteilung der Qualifikationen unweigerlich auch ungleiche Chancen in der Arbeitswelt (Kalter & Granato, 2018; Luthra, 2013), beispielsweise hinsichtlich der Berufswahlmöglichkeiten sowie der Verdienst- und Aufstiegschancen. Damit prägen die im Bildungssystem erworbenen Kompetenzen und Abschlüsse, vermittelt über die berufliche Positionierung, in entscheidendem Maße die weiteren Lebenschancen (Diehl, Hunkler & Kristen, 2016).
Gesamtgesellschaftlich betrachtet sind ethnische Bildungsungleichheiten mit ihren Folgen für die Arbeitsmarktchancen und den hieraus resultierenden Konsequenzen für die Lebensgestaltung natürlich ein Problem, nicht zuletzt in Zeiten von Fachkräftemangel und Nachwuchssorgen in Industrie und Handel. Sie legen nahe, dass bestehende Potentiale nicht ausgeschöpft werden. Außerdem bergen derartige Unterschiede gesellschaftliches Konfliktpotential, zum Beispiel, wenn Personen aus bestimmten Herkunftsgruppen dauerhaft – oder gar über mehrere Generationen – in nachteiligen Positionen verbleiben.
Insofern ist es sinnvoll und geboten zu eruieren, worin mögliche Wege liegen könnten, um bestehende Ungleichheiten zu reduzieren. Ausgangspunkt sollten dabei stets abgesicherte Erkenntnisse der Bildungsforschung sein. Und wenn entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht worden sind, müssen sie wiederum in geeigneten Untersuchungen evaluiert und mit Blick auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.
Das Interview führte Benjamin Edelstein.