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Was macht das besondere Profil und die Identität einer Ganztagsschule aus? | Bildung | bpb.de

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Was macht das besondere Profil und die Identität einer Ganztagsschule aus?

Thomas Rauschenbach

/ 8 Minuten zu lesen

Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts, nennt die Hauptargumente für die Ganztagsschule und beschreibt, wie diese gestaltet werden sollte. Er spricht zudem über den Mangel an einer konzeptionellen Debatte in Hinsicht auf die Ganztagsschule und erklärt, warum er eine Ganztagsschulpflicht gegenwärtig nicht für zielführend hält.

Prof. Dr. Thomas Rauschenbach (© Renate Bauereiss, DJI)

Was sind die Hauptargumente für die Ganztagsschule?

Der Umstand, dass heutzutage alle Bundesländer Ganztagsschulen auf ihre Fahnen geschrieben haben und den Ausbau vorantreiben, hat vor allem mit zwei Punkten zu tun. Die eine Seite der Medaille ist, das darf man nicht unterschätzen, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Müttern, die Kinder im Schulalter haben, wird dadurch in vielen Fällen überhaupt erst eine Erwerbstätigkeit ermöglicht. Das ist ein Motiv, das zwar keinen unmittelbaren Bildungshintergrund hat, es prägt aber wesentlich die Lebenslage von Familien mit Kindern und Jugendlichen.

Ein hoher Ministerialbeamter in einem süddeutschen Ministerium sagte mir einmal, mit Blick auf die berufstätigen Mütter in den Handwerksbetrieben sei die Lage dort bisweilen so prekär, dass man sich ideologische Debatten zum Thema Ganztag einfach nicht mehr leisten könne. Besonders im mittelständischen Bereich und bei den kleinen Familienbetrieben auf dem Land fehlt den Unternehmen am Nachmittag das weibliche Personal, da die Mütter dann nach Hause müssen, um ihre Kinder zu versorgen.

Das ist ein wirtschaftlicher Aspekt. Was spricht aus pädagogischer Sicht für den Ganztag?

Das ist die andere Seite der Medaille. Zunächst einmal kann durch den Ganztag der Unterricht anders rhythmisiert werden. Wir müssen nicht mehr am 45-Minuten-Takt festhalten, können wichtige Entspannungsphasen so integrieren, dass die Schüler konzentriert arbeiten und die schulischen Anforderungen sich besser auf den gesamten Tag verteilen. Das ist die Grundlage, auf der dann auch individuelle Förderung besser gelingt. Außerdem ermöglicht erst der auf den ganzen Tag verteilte Unterricht, dass andere, nicht-unterrichtliche Angebote sehr viel gezielter in die Schule eingebunden werden können.

Beide Motive zusammen haben dazu geführt, dass die Länder relativ einhellig auf den Kurs des Bundes eingeschwenkt sind und gesagt haben: Okay, dann beteiligen wir uns auch an diesem Ausbauprojekt. In dieser Phase hat die Ganztagsschule in Deutschland immer mehr Befürworter gefunden, die davon überzeugt waren, dass diese der Weg in die bildungspolitische Zukunft ist.

So einhellig der grundsätzliche Kurs scheint, der Ausbau von Ganztag sowie die Qualität der Einzelangebote ist für die Schüler im Ergebnis aber eher ein Lotteriespiel – abhängig von Bundesland, Wohnort und Schule. Von Chancengleichheit keine Spur, oder?

Ich würde das, etwas modifiziert, sogar noch anders zuspitzen. Deutschland hat sich zwar – mehr oder minder beiläufig – auf den Weg gemacht, den Ganztag zu einem flächendeckenden Regelangebot auszubauen. Das ist aber geschehen, ohne überhaupt eine konzeptionelle Debatte darüber zu führen; ohne eine Leitidee damit zu verbinden, was wir mit der Ganztagsschule eigentlich wollen. Also: Ganztagsschule war die Antwort. Was aber war die Frage?

Im Grunde genommen wurde diese Frage unbeantwortet nach unten durchgereicht. Einerseits durfte der Bund sich inhaltlich nicht einmischen, also keine konzeptionellen Vorgaben machen. Andererseits waren die Länder auf dieses Projekt nicht vorbereitet, mussten jedoch relativ schnell handeln. So wurde die Frage der Gestaltung des Ganztags letztlich an die einzelnen Schulen weitergereicht.

Also war bzw. ist letztendlich die einzelne Schule in der Pflicht, den Ganztag zu gestalten?

Ja. Wie der Ganztag an einer bestimmten Schule aussieht, ist in die Verantwortung von Schulleitung und Kollegium gestellt worden. Darin begründet sich die breite Vielfalt von Ganztagsschulen, wie wir sie heute vorfinden. Deshalb gibt es bis heute auch keine allgemeingültige Antwort darauf, was das besondere Profil und die Identität einer Ganztagsschule ausmacht, etwa im Unterschied zur halbtägigen Unterrichtsschule.

Das ist der Hintergrund, vor dem wir uns als Deutsches Jugendinstitut eine Auswahl von 225 Schulen aus der StEG-Studie einmal genauer angeschaut haben. Wir wollten wissen, welche typisierbaren Muster des Ganztagsbetriebs sich bei diesen Schulen, ohne einheitliche Vorgabe, faktisch herausgebildet haben. Die Kernfrage lautete also, ob sich in der Vielfalt und Heterogenität nicht doch bestimmte Gemeinsamkeiten abzeichnen. Im Ergebnis konnten wir anhand dieser ganztägigen Schulen vier "Cluster" identifizieren: die eher herkömmliche Schule, die kooperative Schule, die Angebotsschule und die rhythmisierte Schule.

Hätte man zuvor mehr entwickeln, erproben und überprüfen müssen?

Von heute aus betrachtet hat es vielleicht nicht nur Nachteile, so offen begonnen zu haben. Ansonsten hätte Deutschland vor lauter ideologischen Grundsatzdebatten vermutlich nie mit dem Ausbau angefangen. Vor zehn Jahren wusste schließlich – jenseits von Hoffnungen und Wünschen – noch keiner so genau, wohin sich das Ausbauprojekt entwickeln sollte. Dafür stehen wir jetzt umso mehr vor der bildungspolitischen Notwendigkeit, diese ausgefallene Grundsatzdebatte zum Ganztag nachzuholen. Mittlerweile können Länder auf mehrjährige Erfahrungen mit der Ganztagsschule zurückblicken. Nun müssen wir uns hinsetzen und uns bildungspolitisch darüber verständigen, wie eine einigermaßen vernünftige Rahmung des Ganztagsbetriebs aussehen könnte, was wir damit erreichen wollen und wohin die Reise geht.

Wie sähe der Ganztag aus, den Sie gestalten dürften? Welche Form hätte er?

Zunächst mal muss ich betonen, dass die vier von uns identifizierten Ganztagsschulformate keine normativen Konzepte sind. Sie sind Resultat empirischer Ergebnisse. Das heißt: Sie können eine inhaltliche Debatte nicht ersetzen. Wir müssen uns also weiterhin den Kopf zerbrechen.

Meine Idee vom Ganztag grenzt sich in erster Linie gegen zwei suboptimale Formen ab. Die erste, wenig überzeugende Variante sähe so aus: vormittags Unterricht – also der Ernst des Lebens – und nachmittags Freizeit und Erholung – also Sport, Spiel und Spannung. Ein in dieser Hinsicht zweigeteilter Tag zwischen Ernst und Spaß, zwischen kognitiver Bildung und "Wellness-light" für Kinder wäre kein gelungenes Muster für den Ganztag.

Ein zweites Muster von Ganztag wäre für mich ebenfalls keine wünschenswerte Entwicklung. Dieses lautet: Die Ganztagsschule ist im Kern nur für die Bildungsschwächeren da. Wenn man aus der Perspektive betroffener Jugendlicher sieht, so besteht die Gefahr, dass sie den Ganztag wie eine Strafe für das eigene "Schulversagen" empfinden – als Nachsitzen, als eine Art Übergang "vom Halbtags- zum Ganztagsschulknast". Daher wäre es eine fatale Botschaft, wenn vor allem Haupt- und Sonderschulen zu Ganztagsschulen werden, damit die Jugendlichen dieser Schulen von der Straße sind, nicht auf dumme Gedanken kommen und zugleich zu mehr Nachhilfe verdonnert werden können. Das wäre in der Tat keine sonderlich attraktive Vision einer zukünftigen Ganztagsschule.

Und was ist für Sie beim Ganztag das zentrale Element?

Meine favorisierte Form von Ganztagsschule unterscheidet deutlich zwischen einem unterrichtsbezogenen und einem nicht-unterrichtsbezogenen Teil. Das berührt konkret drei verschiedene Aspekte. Erstens: Nicht alles, was man Kindern an Gutem angedeihen lassen will, muss in Form von Unterricht gemacht werden. Wir haben uns viel zu sehr auf den Unterricht als einzige zielführende schulische Vermittlungsform versteift. Zweitens: Das Bildungskonzept des Ganztags wird gezielt auf den gesamten Tag ausgeweitet, also vom Grundsatz her von der Frage des Unterrichts entkoppelt. Drittens: Bildung wird hierbei sehr viel breiter gedacht als im herkömmlichen Format des Fachunterrichts und seiner kognitiven Ausrichtung auf Wissensvermittlung.

Die Konsequenz dieses Dreischritts liegt darin, dass das gesamte Angebot für den Ganztag unter Bildungsgesichtspunkten zu betrachten ist. In der Konsequenz entscheidet sich die Frage, ob etwas nun Bildung ist oder nicht, nicht mehr daran, ob es in eine Unterrichtsform gezwängt und zum Schluss durch Noten zertifiziert werden kann, sondern ob es die Handlungsfähigkeit der Kinder stärkt und verbessert. Wir müssen also unsere Bemühungen darauf ausrichten, welche Kompetenzen und welches Rüstzeug Kinder zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem Weg zum Erwachsenwerden benötigen – wozu sie konkret befähigt werden müssen. Und das ist weit mehr als fachgebundene, kognitive Wissensaneignung. Das ist ein Gesamtpaket aus kultureller, praktischer, sozialer und personaler Bildung.

Wie sähe das praktisch aus?

Ein solches Bildungskonzept kann – neben dem Unterricht – völlig unterschiedliche Themen, Module und Gelegenheiten enthalten: Computer- und Internetkurse, Kochkurse, handwerkliche Projekte, soziale Projekte, Konflikttrainings, entwicklungspolitische oder stadtteilbezogene Hilfsprojekte, Service Learning, gemeinsam organisierte Musik-, Tanz- oder kulturelle Projekte, Sportprogramme – und das alles jenseits der Zwänge von Notengebung und Unterricht. Dabei sollten diese Angebote auf jeden Fall so organisiert werden, dass es den Kindern auch Spaß macht, sie aber gleichzeitig etwas lernen und sich vor allem selbst einbringen können, also nicht nur Konsumierende sind. Es sollten Themen vorkommen, die gemeinhin kein Gegenstand im Unterricht, aber dennoch "lebenswichtig" sind. Es sollten Methoden und Formen der Beteiligung zum Tragen kommen, die nicht unbedingt mit herkömmlicher Schule in Verbindung gebracht werden. Und es sollte unbedingt auch Orte und Freiräume für Peer-Learning geben, also für Lerngelegenheiten, in denen die Jugendlichen untereinander die Welt gemeinsam auf eigene Faust entdecken können.

Die Wahl der konkreten Ganztags-Angebote und Kooperationen liegt dann in der Verantwortung der Schulen?

Ja. Spätestens bei der konkreten Ausgestaltung sind die Schulen auf kommunaler Ebene gefordert; was Anregungen und Impulse von außen ja nicht ausschließt. Die Schulen vor Ort wissen am besten, wie es in ihrem Stadtteil, in ihrem direkten sozialräumlichen Umfeld aussieht. Dafür muss sich Schule in den lokalen Sozialraum öffnen, muss sie sich selbst als Teil einer regionalen Bildungslandschaft verstehen, bei der ihre Partner Musikschulen, Jugendkunstschulen, die Kinder- und Jugendarbeit, der Sportverein, die Kirche, die Schreinerei um die Ecke oder das ortsansässige Software- Unternehmen gleichermaßen sein können. In einem attraktiven, nicht-unterrichtlichen Bildungspaket ist Bewegung und Sport genauso enthalten wie musisch-kreative Elemente, sind handwerkliche oder technische Tätigkeiten ebenso im Angebot wie spielerische oder erlebnispädagogische Elemente. Der Gedanke an Notengebung sollte dabei weit weg sein. Was dafür aber im Vordergrund stehen sollte, das sind das Interesse und der Spaß an der Sache.

Sollten alle Schulen zum Ganztag wechseln?

Das ist eine legitime Frage zum falschen Zeitpunkt. Ich halte es vor Ende des Jahrzehnts für wenig zielführend, eine Ganztagsschulpflicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Diese wird zwar immer wieder gefordert, wäre aber personell, finanziell und rechtlich nicht einfach aus dem Stand zu machen. Gleichwohl könnte es ein Weg in diese Richtung sein, wenn sich die Politik verpflichtet, den Kindern und Eltern – wie schon im Kita-Bereich – einen Ganztagsplatz zu garantieren. Diese Verpflichtung könnte zum Beispiel zu einem Zeitpunkt in fünf Jahren wirksam werden. Der dann bestehende Rechtsanspruch könnte für die Entwicklung des Ganztags eine entscheidende Weichenstellung sein. Allerdings sollte die Schulpflicht bis auf Weiteres nicht auf den Ganztag ausgeweitet werden. Nur für die, die den Ganztag wollen, sollten entsprechende Angebote zur Verfügung stehen. Diese behutsame Vorgehensweise löst schon von ganz allein eine Dynamik aus, die in kurzer Zeit zu einer etablierten Ganztags-Schullandschaft führen wird – dann aber eben auf freiwilliger Basis.

Wenn es denn zuvor politisch gewollt ist …

Klar, zunächst muss die Politik diese Selbstverpflichtung eingehen. Sie muss an den Punkt kommen, dass sie erkennt: "Irgendjemand in dieser Gesellschaft verlässt sich auf das, was wir hier tun. Deswegen muss es unser gemeinsames Ziel werden, und deshalb beschließen wir es auch politisch".

Zuerst erschienen in der Zeitschrift "PodiumSchule" 1.12, S. 4-5. (Externer Link: http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/podium-schule-112/)

Fussnoten

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Thomas Rauschenbach, geb. 1952 in Tübingen, Prof. Dr.; Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts e.V., Professor für Sozialpädagogik an der Universität Dortmund, Leiter des Forschungsverbunds DJI/TU Dortmund und der Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Bildung im Kindes- und Jugendalter, Kinder- und Jugendarbeit, Soziale Berufe in Ausbildung und Arbeitsmarkt, Bürgerschaftliches Engagement sowie Kinder- und Jugendhilfestatistik.