Herr Krauthausen, Sie haben die Fläming Grundschule in Berlin besucht, die erste öffentliche Grundschule Deutschlands, die Kinder mit Behinderungen aufnahm. Wo ständen Sie, wenn Ihre Eltern Sie auf eine Förderschule geschickt hätten?
Raul Krauthausen: Garantiert nicht, wo ich heute stehe. Ich weiß nicht, ob es mir besser oder schlechter ginge, das ist ja eine Frage von ganz vielen Lebensentscheidungen. Meine Eltern waren relativ jung, als ich auf die Welt kam und wollten sich nicht nur ihrem behinderten Kind widmen. Sie waren überzeugt davon, dass ich nur nicht laufen kann – aber alles andere schon klappen wird.
Wovon haben Sie am meisten profitiert?
Krauthausen: Ich konnte mich mit dem Klassenbesten messen, der auch noch mein bester Freund war. Der absolute Überflieger. So jemanden, der mich mitzieht und mich dazu bringt, mich über meine Grenzen hinaus zu entwickeln, hätte ich an einer Förderschule vermutlich nicht gehabt. Es gab aber auch Niederlagen.
Zum Beispiel?
Krauthausen: Im Sportunterricht wurde es albern, als es irgendwann um Leistungen und Noten ging. Ich musste für die Lehrer die Zeiten stoppen – und zuschauen, wie meine Klassenkameraden schnell sind. Das hat mich nicht besonders verletzt, aber auch überhaupt nicht gefordert. Bald wurde ich vom Sportunterricht befreit. War damit aber auch außen vor, wenn sich die anderen in der Umkleidekabine verabredeten.
Inge Hirschmann (© Privat)
Inge Hirschmann (© Privat)
Inge Hirschmann: Sie sprechen das Problem der Benotung an. Meiner Meinung nach sollten wir in der inklusiven Schule zumindest bis zur achten Klasse auf Noten verzichten und stattdessen die individuelle Entwicklung der Kinder stärker berücksichtigen. Wie die skandinavischen Länder.
Herr Krauthausen besuchte eine integrative Schule. Heute wird aber meist von Inklusion gesprochen. Wo liegt der Unterschied?
Jonna Blanck: In der Öffentlichkeit werden Integration und Inklusion häufig synonym verwendet. In der Wissenschaft dagegen überwiegt die Auffassung, dass es sich um unterschiedliche Konzepte handelt. Integration bedeutet, dass bestimmte Schüler mit Behinderung zwar in die Regelschule aufgenommen, dort aber als Gruppe klar von den Nichtbehinderten unterschieden werden. Inklusion dagegen erkennt an, dass alle Schüler verschieden sind. Neben Behinderungen geraten damit auch andere Unterschiede in den Blick und es gibt keine klar trennbaren Gruppen mehr. Vielfalt wird wertgeschätzt. Konsequent gedacht, bedeutet Inklusion, dass es statt des gegliederten Schulsystems eine Schule für alle gibt, in der jedes Kind individuell nach seinen Bedürfnissen gefördert wird.
Herr Krauthausen, Sie haben nach der Grundschule an einer integrativen Gesamtschule das Abitur gemacht und studiert. Sind Sie eine Ausnahme?
Jonna Blanck (© Privat)
Jonna Blanck (© Privat)
Krauthausen: Mir war lange nicht bewusst, dass ich eine unheimlich privilegierte Rolle hatte. Andere Menschen mit Behinderungen haben eine härtere Schule durch. Viele wurden von ihren Eltern auf Regelschulen geklagt, auf denen sie die einzigen Kinder mit Behinderung waren. Teilweise waren die Gebäude nicht barrierefrei, sodass Eltern ihre Kinder die Treppen hoch und runter tragen mussten. Ich finde es ein Unding, dass zunächst das Kollegium entscheiden darf, welches Kind auf seine Schule kommt und die Eltern so zwingt, vor Gericht zu gehen.
Haben die Schulen wirklich so viel Macht?
Hirschmann: Ich kenne Schulen, die Kinder mit teils fadenscheinigen Argumenten ablehnen. Das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Elternwahlrecht setzt ihnen allerdings eine Grenze – auch wenn es ein harter Weg ist, einen Schulplatz im Ernstfall einzuklagen.
Wie war das an Ihrer Schule?
Hirschmann: Wir haben jedes Kind aufgenommen. Im Kollegium herrschte Konsens, was Kinder mit Lernschwierigkeiten betraf. Als es aber darum ging, das erste stark geistig behinderte Mädchen aufzunehmen, waren manche Kollegen vehement dagegen und fragten, was sie noch alles machen sollen. Wir haben damals abgestimmt. Die Gegner waren in der Minderheit.
Krauthausen: Viele Lehrer sind überlastet, insofern kann ich ihre Vorbehalte ein Stück weit verstehen. In meiner Klasse war die Ausstattung gut. Eine pädagogische Mitarbeiterin unterstützte die Lehrerin und war für alle Kinder da. Außer mir gab es ein Kind mit Hörbehinderung, zwei lernbehinderte Kinder – und ein geistig behindertes Mädchen. Mich hat es sehr bewegt, als sie irgendwann entschied, dass auch sie schreiben lernen will. Niemand hat ihr das zugetraut, aber sie hat jeden Tag das Alphabet gelernt. Am Ende des letzten Schuljahrs konnte sie ihren Namen schreiben und war unglaublich stolz.
Ist so eine Entwicklung nur möglich, wenn die Kinder gemeinsam zur Schule gehen?
Hirschmann: Sie ist zumindest wahrscheinlicher. Wir hatten an der Heinrich-Zille-Grundschule Kinder, die am Anfang mit dem Buggy gebracht wurden. Wenn die am Ende der Schulzeit an Geländern entlang ins Sekretariat laufen konnten, war das ein tolles Gefühl. Trotzdem muss man sich fragen, was ein Kollegium leisten kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Schule für alle Kinder möglich ist. Aber im Detail gibt es offene Fragen.
Zurzeit wird intensiv über Schwerpunktschulen diskutiert, Regelschulen, die besonders viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufnehmen.
Hirschmann: Ich glaube, dass es Beeinträchtigungen gibt, für die sie sinnvoll sein können, vor allem für blinde, stark seh- oder hörbehinderte Kinder. Je mehr Schüler mit einer bestimmten Behinderung eine Schule besuchen, desto bessere Konzepte können die Lehrer für sie entwickeln. Gemeinsamen Sportunterricht für körperlich stark beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler beispielsweise. Außerdem brauchen die Kinder Begegnungen mit anderen, denen es ähnlich geht. Gehörlose etwa müssen die Gelegenheit haben, sich mit Mitschülern in Gebärdensprache zu unterhalten.
Krauthausen: Für mich hat die Schwerpunktschule einen negativen Beiklang. Ich warne davor, dass sie die Förderschule 2.0 wird – an der wir erneut aussortieren.
Blanck: Bei der Diskussion um die Schwerpunktschule vermischen sich zwei Argumentationslinien: Zum einen verspricht man sich von ihnen, dass Kinder mit bestimmten Behinderungen dort besonders gut gefördert werden können, die von Frau Hirschmann angesprochenen Seh- und Hörbehinderten beispielsweise. Diese Gruppen machen aber nur einen kleinen Prozentsatz der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus. Zum anderen werden Schwerpunktschulen in manchen Bundesländern mit dem Ziel eingerichtet, dort besonders viele Schüler mit Behinderungen aufzunehmen. Bei der Mehrheit der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung diagnostiziert. Viele von ihnen kommen aus sozial benachteiligten Familien. Konzentriert man sie an einer Schule, konzentriert man dort auch diese Problemlagen. In beiden Fällen grenzt man Kinder weiter aus, wenn sie nicht einfach auf eine Regelschule in ihrer Nachbarschaft gehen können.
Sie haben in zwei westdeutschen Flächenländern die Umsetzung der Inklusion verglichen: Bayern und Schleswig- Holstein. Wo liegen die Unterschiede?
Blanck: Konkret haben wir die Wirkung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Schulreformprozesse in beiden Bundesländern untersucht und dafür zunächst eine Bestandsaufname gemacht. In Bayern steht die integrative Schulentwicklung demnach noch am Anfang. Man ist dort der Meinung, dass optimale Förderung nur gelingen kann, wenn man Kinder in unterschiedliche Schulen sortiert. In Schleswig-Holstein wurde die Integration über Jahrzehnte vorangetrieben: Der gemeinsame Unterricht an Regelschulen wurde stark ausgeweitet, die Lehrer wurden mit ins Boot geholt – und auch die Sonderpädagogen, deren Arbeitsbedingungen sich durch den gemeinsamen Unterricht am stärksten verändern. Mit der Gemeinschaftsschule wurde zudem eine Schulform geschaffen, die Heterogenität offiziell anerkennt. Für Lehrer und Eltern wurde ein Beratungszentrum eingerichtet.
Hirschmann: So ein Zentrum baue ich in Berlin im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg auf. Eltern und Lehrer sollen dort bei Fragen zum gemeinsamen Lernen künftig Beratung und Unterstützung finden. Was Inklusion betrifft, ist übrigens auch Bremen weit vorn. Man hat dort radikal umgesteuert, mit Gesetzen von oben und viel Unterstützung für die Schulen. Nordrhein-Westfalen hat Ähnliches versucht, aber zu stark auf Sonderpädagogen gesetzt, die für mehrere Schulen zuständig sind, sogenannte Ambulanzlehrer. Wir müssen die sonderpädagogischen Fachkräfte aber fest in den Kollegien verankern.
Blanck: In Bremen sitzen die Sonderpädagogen sogar mit in der Schulleitung. Neben Schleswig-Holstein ist es eines der wenigen Bundesländer, in denen Sonderschulen aufgelöst werden und die Zahl der Sonderschüler daher tatsächlich sinkt.
Aber die UN-Behindertenrechtskonvention gilt seit 2009 für alle.
Blanck: Ja, aber es gibt starke Beharrungskräfte, die Inklusion erschweren. Wir haben vier Mechanismen betrachtet, die die Sonderschule stabilisieren. Zum einen gibt es mächtige Gruppen, die sich gegen die Reform sperren, dazu zählt die sonderpädagogische Profession: Sie befürchtet schlechtere Arbeitsbedingungen und Gehaltseinbußen, sollten Sonderschulen aufgelöst werden. Dann geht es um Vorstellungen davon, wie Schüler unterrichtet werden sollen. Viele Menschen glauben, dass beeinträchtigte Schüler nur im vermeintlichen Schonraum Sonderschule angemessen gefördert werden können. Die Abschaffung der Sonderschule stellt zudem die Funktionsweise des gegliederten Schulsystems in Frage. Regelschulen sind auf Leistungsauslese eingestellt und nicht darauf, Schüler mit Beeinträchtigungen zu fördern. Und dann ist da natürlich die Kostenfrage.
Ist Inklusion denn wirklich zu teuer?
Blanck: Zumindest stand sie früher in diesem Verdacht. In den meisten Bundesländern steht deshalb der sogenannte Ressourcenvorbehalt im Schulgesetz: Integration kann demnach mit dem Argument abgelehnt werden, sie sei aus finanziellen Gründen nicht möglich. Mittlerweile haben Studien gezeigt, dass lediglich die Übergangsphase etwas teurer ist. Langfristig kostet Integration genauso viel oder ist sogar billiger als das Doppelsystem aus Regel- und Sonderschulen. Bei der Bewertung der Frage, wie viele Ressourcen man für inklusiven Unterricht braucht, bin ich vorsichtig. Hier muss man natürlich auf die Erfahrungen von Lehrern zurückgreifen. Dabei sollte man aber bedenken, dass Forderungen zum Teil auch von der Haltung des Fordernden geprägt sind. Wenn ein Regelschullehrer meint, er sei nicht für behinderte Kinder zuständig, wird er mehr Sonderpädagogen für seine Schule fordern.
Die Ausstattung der Schulen ist das eine, die Ausbildung der Lehrer das andere. In Berlin und anderen Bundesländern wird sie derzeit reformiert. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Krauthausen: Er war längst überfällig. Alle warten auf den Super-Referendar, der die Schulen inklusiv macht. Der wird aber nicht kommen – und die Eltern behinderter Kinder waren vorher ja ebenfalls keine Fachkräfte. Wir müssen mit der Inklusion jetzt anfangen, anstatt ewig zu warten. Und Lehrer und Eltern auch mal jammern lassen.
Hirschmann: Alle Lehrer bekommen in Berlin in Zukunft eine gleichwertige Ausbildung, reine Sonderschullehrer werden nicht mehr ausgebildet. Irgendwann werden im Lehrerzimmer hoffentlich auch alle gleich viel verdienen. Privilegien fallen weg.
Aber was können die Lehrer wirklich, wenn Inklusion nur ein kleiner Teil ihres Studiums ist?
Hirschmann: Das meiste lernt man tatsächlich im Unterricht. Auch ein paar Stunden Fortbildung reichen nicht aus. Es sollte an allen Schulen Fachleute für Inklusion geben, die ihre Kollegen beraten. Dafür brauchen wir Ressourcen.
Sie bilden an der Freien Universität Berlin Lehrer für den inklusiven Unterricht fort. Mit welchen Fragen kommen die Teilnehmer zu Ihnen?
Hirschmann: Was mich am meisten überrascht: Sie wollen Patentrezepte. Manche Lehrer denken, man könnte ihnen vormachen, wie es geht. Aber Inklusion ist ein Prozess, auf den man sich einlassen muss. Mein Ziel ist, dass die Teilnehmer nach dem Kurs differenzierten Unterricht machen und versuchen, individuell auf die Kinder einzugehen. Auch wenn nicht alles auf Anhieb glatt geht.
Krauthausen: Ich glaube, Inklusion hat auch viel mit unserer Haltung gegenüber dem Anderen zu tun. Wir fürchten am meisten, was wir am wenigsten kennen. Inklusion funktioniert nur durch Konfrontation.
Warum ist die Kritik an dem Konzept oft sehr polemisch und aggressiv?
Hirschmann: Eine Rolle spielen die Sorgen der Eltern. Früher haben sie unseren integrativen Ansatz bewundert, heute fürchten sie, behinderte Mitschüler könnten den Lernerfolg ihrer Kinder schmälern.
Blanck: Viele wissenschaftliche Studien zeigen übrigens, dass dem nicht so ist.
Hirschmann: Trotzdem hat gerade die Mittelschicht seit einigen Jahren unheimliche Verlustängste, es hat sich eine Ellenbogenmentalität entwickelt. Wie können Schulen das Vertrauen der Eltern gewinnen? Die magische Zahl ist dabei noch immer die Anzahl der Kinder, die nach der Grundschule ans Gymnasium gehen.
Krauthausen: Menschen werden vor allem bei fehlender Sachkenntnis polemisch. Wir führen heute ganz ähnliche Debatten wie 1920, als es in Deutschland darum ging, ob Mädchen und Jungen gemeinsam zur Schule gehen sollen.
Glauben Sie, unsere Schulen werden in 20 Jahren inklusiv sein?
Blanck: Ich hoffe es. Ich bin selbst auf eine integrative Gesamtschule gegangen und habe persönlich erlebt, wie viel möglich ist, wenn alle gemeinsam lernen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass es bei Inklusion ja nicht nur um Schule geht, sondern darum, in allen Lebensbereichen mehr soziale Teilhabe zu ermöglichen. Sie geht uns alle an: Wir leben in einer alternden Gesellschaft, schon allein deshalb wird die Zahl der Menschen mit Behinderungen zunehmen. Die meisten Behinderungen sind schließlich nicht angeboren, sondern entstehen im Laufe des Lebens.
Hirschmann: Ich hoffe das auch. Schließlich habe ich ein Arbeitsleben damit verbracht, eine andere Vision von Schule zu verwirklichen. Aber die Beharrungskräfte sind groß. In Berlin merke ich: Es läuft zu langsam.
Krauthausen: Mir machen vor allem die jungen Menschen große Hoffnung. Wenn mich ein Kind früher neugierig angestarrt hat, haben seine Eltern es weggezerrt. Heute höre ich bestärkende Sätze: "Wenn du möchtest, können wir fragen, warum der Mann im Rollstuhl sitzt." So eine Offenheit wünsche ich mir. Übrigens nicht nur gegenüber Menschen mit Behinderungen.
Das Interview führten Barbara Kerbel und David Schelp
Zuerst erschienen in der Zeitschrift "Leibniz-Journal – Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft" 1/2015, S. 16-23. (Externer Link: http://www.leibniz-gemeinschaft.de/fileadmin/user_upload/downloads/Presse/Journal/Bildung/LG_Journal_1_2015_WEB_M__2_.pdf)