Hochschulentwicklung kontrovers
Die Entwicklung des deutschen Hochschulwesens wird seit Jahrzehnten von verschiedenen Debatten begleitet, in denen immer wieder ein Thema im Zentrum steht: das offensichtlich unaufhaltsame Wachstum in der Beteiligung an Hochschulbildung, greifbar in der Entwicklung der Studienanfänger- und Studierendenzahlen. Auf der einen Seite stehen Warnungen vor einer zu starken Ausweitung, die nicht nur die Studienplatz- und Personalkapazitäten der Hochschulen, sondern auch die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes überfordern würde. Vor allem wird ein nachhaltiger Qualitätsverlust akademischer Bildung befürchtet. Auf der anderen Seite wird die anhaltende Hochschulexpansion weniger pessimistisch als Ausdruck wachsender Teilhabe an Bildung und als Anzeichen dafür gesehen, dass auch Deutschland dem globalen Trend zu immer stärker wissen(schaft)sbasierten Formen von Arbeit, Beschäftigung und Wertschöpfung folgt.
Jüngst wurden diese gegenläufigen Einschätzungen wieder in aller Deutlichkeit sichtbar (Schultz/Hurrelmann 2013): Während das von der Bertelsmann Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz getragene Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) zu seinem 20. Jubiläum eine Publikation und eine Tagung unter das Thema "Wenn Studieren zum Normalfall wird" (CHE 2014) stellte, sieht der Münchener Philosoph Julian Nida-Rümelin diese Entwicklung unter dem Schlagwort "Akademisierungswahn" (Nida-Rümelin 2014) betont kritisch – ähnlich wie ein Schweizer Autor, der von einer "Akademisierungsfalle" (Strahm 2014) spricht. Selbst in der gewerkschaftlichen Bildungspolitik, sonst der Öffnung der Hochschule verpflichtet, gibt es Stimmen, die vor einer weiteren Akademisierung warnen (Kuda/Strauss 2013).
InfoboxAkademisierung – ein unscharfer Begriff
Der sich in der Debatte ausbreitende Begriff der Akademisierung bezieht sich auf ganz unterschiedliche, nur teilweise miteinander zusammenhängende Entwicklungen. Vielleicht ist der Begriff auch deshalb so populär geworden, weil hier vieles durcheinandergeworfen wird:
"Akademisierung" kann erstens die formale Anhebung der Ausbildungsvoraussetzungen in bislang zumeist im Schulberufssystem qualifizierten Berufen – etwa im Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegebereich – auf (Fach-)Hochschulniveau bedeuten, eine Entwicklung, die primär durch veränderte berufliche Anforderungen hervorgerufen wird, aber mit einer steigenden Bildungsbeteiligung im Hochschulbereich vereinbar wäre.
"Akademisierung" kann zweitens die Verdrängung von Fachkräften im mittleren Qualifikations- und Beschäftigungssegment durch Personen mit Hochschulabschluss als Folge eines steigenden Angebots an höher qualifizierten Arbeitskräften heißen. Dieser Prozess wird auch als "vertikale Substitution" bezeichnet.
Drittens kann "Akademisierung" den häufigeren Übergang von Bachelorabsolventen und -absolventinnen in Tätigkeitsfelder meinen, die traditionell nicht von Personen mit Hochschulabschluss wahrgenommen werden; dieser Prozess wäre eine Art Dequalifizierung des neuen Bachelorabschlusses.
Viertens kann sich "Akademisierung" auf die in den letzten Jahren erfolgte stärkere Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Berufstätige ohne herkömmliche schulische Studienberechtigung, sogenannte nicht-traditionelle Studierende, beziehen, eine Maßnahme, die bislang aber nur zu einem bescheidenen Anstieg der Studierendenzahlen geführt hat (Dahm u.a. 2013; Wolter u.a. 2014).
Fünftens ist "Akademisierung" mit dem volkswirtschaftlichen Strukturwandel verbunden, der anhaltenden Umschichtung vom sekundären, industriell-gewerblichen Sektor zum tertiären, zum Dienstleistungssektor; in beiden Sektoren findet eine tendenzielle Höherqualifizierung durch wachsende Anteile von Erwerbstätigen mit Hochschulabschluss statt.
Schließlich kann sechstens mit "Akademisierung" die in diesem Beitrag thematisierte Umschichtung in der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung gemeint sein.
Hochschulexpansion – die Fakten
Zunächst zu den Fakten und Anlässen hinter dieser aktuellen, wenn auch nicht ganz neuen Kontroverse. Seit Jahrzehnten steigt die Studienanfängerquote (der Anteil der Jugendlichen an den Geburtsjahrgängen, die ein Studium aufnehmen) nahezu kontinuierlich an. Lag sie Anfang der 1950er Jahre noch bei ca. 5 Prozent, so hat sie sich bis zum Jahr 2013 auf 58 Prozent mehr als verzehnfacht (siehe Abb. 1).
Vor allem in den letzten Jahren war eine beinahe explosionsartige Zunahme der Anfängerzahlen im Hochschulbereich zu beobachten, parallel dazu nahmen die Neuzugänge in der dualen Berufsausbildung ab. Im Jahr 2011 erreichte die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger in Deutschland mit 519.000 ihren bisher höchsten Stand. 2013 übertraf die Studienanfängerzahl (507.000) erstmals die Zahl der Neuzugänge in der dualen Berufsausbildung (497.000) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014).
InfoboxBesonderheiten der Studienanfängerstatistik
Die hohe Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger enthält auch die in der Statistik sogenannten "Bildungsausländerinnen und -ausländer", also diejenigen, die mit einer außerhalb Deutschlands erworbenen Studienberechtigung zum Studium nach Deutschland kommen.
Immerhin umfasst diese Gruppe etwa ein Sechstel der Studienanfängerinnen und -anfänger. Ferner geht ein – kleiner – Teil des Zuwachses in den letzten Jahren auf die doppelten Abiturientenjahrgänge sowie das Aussetzen der Wehrpflicht zurück. Berücksichtigt man diese Effekte, liegt die Studienanfängerquote bei knapp unter 50 Prozent und die Zahl der Studienanfänger damit schon wieder deutlich unter den Neuzugängen in der betrieblichen Berufsausbildung.
Diese Entwicklung wird von kritischen Beobachtern mit Sorge begleitet, gilt doch die betriebliche Berufsausbildung weithin als das Rückgrat des Industriestandorts Deutschlands und als Garant für dessen wirtschaftliche Stärke. Im internationalen Vergleich zeichnet sich das deutsche Qualifizierungssystem traditionell durch einen breiten Sektor betrieblicher Berufsausbildung für die Mehrheit und einen schmaleren Sektor akademischer Bildung für einen kleineren Teil ("Elite") der jungen Bevölkerung aus. Und genau dieses historisch bewährte Qualifikationsmodell scheint sich aufzulösen.
Auf der anderen Seite hatte die OECD seit Jahren, fußend auf ihrem jährlichen Bildungsbericht (zuletzt OECD 2014), die aus ihrer Sicht zu niedrigen Studienanfängerzahlen in Deutschland aus bildungsökonomischer Perspektive kritisiert. Und in der Tat lag die Anfängerquote in Deutschland immer weit unterhalb derjenigen in vergleichbaren Industrieländern. Weltweit hat es in nahezu allen Regionen ein starkes Wachstum im Hochschulbesuch gegeben (Schofer/Meyer 2005; Teichler 2013), Deutschland ist hier eher ein Nachzügler. Diese Diskrepanz wurde von deutscher Seite mit der besonderen Bedeutung der dualen Berufsausbildung begründet, die es in vielen Staaten so nicht gibt. Inzwischen hat Deutschland bei der Studienanfängerquote beinahe den OECD-Durchschnitt erreicht und den "Rückstand" gegenüber anderen Staaten deutlich vermindert, damit paradoxerweise aber auch die Bedeutung der international hochgelobten beruflichen Bildung verringert.
Das Bild wird aber erst vollständig, wenn man aufseiten der beruflichen Bildung die in den letzten Jahren zwar stark rückläufige, aber immer noch sehr hohe Zahl der Jugendlichen (2013 waren es 260.000) einbezieht, die nach dem Schulabschluss keinen Ausbildungsplatz finden und daher in das sogenannte Übergangssystem einmünden (siehe Infobox).
InfoboxWas ist das Übergangssystem?
Das Übergangssystem bezeichnet eine Vielzahl berufsvorbereitender Maßnahmen für Jugendliche, die nach Verlassen der Schule keinen Ausbildungsplatz finden.
Die oft einjährigen Qualifizierungsangebote werden überwiegend von Schulabgängern mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss besucht und sollen deren "Ausbildungsreife" fördern, damit sie anschließend bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Allerdings wird kritisiert, dass die Angebote sehr uneinheitlich sind und daher kaum von einem System gesprochen werden kann. Da die Angebote zu keinem regulären Berufsabschluss führen und die Jugendlichen, die sie absolvieren, häufig trotzdem keinen Ausbildungsplatz finden, sehen Kritiker zudem die Gefahr unproduktiver "Warteschleifen".
Angenommen, die Hälfte dieser Jugendlichen würde direkt in die duale Ausbildung eintreten, gäbe es in Deutschland keine Klagen über einen "Akademisierungswahn". Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass es in Deutschland gegenwärtig nicht zu viele Studienanfängerinnen und -anfänger gibt, sondern zu viele Jugendliche im Übergangssystem, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Ausbildungsplatz finden. Auch wenn ein Teil von ihnen später noch eine Berufsausbildung absolviert, bleiben doch immerhin in der Altersgruppe der Über-30-Jährigen auf Dauer etwa 15 bis 17 Prozent ohne Berufsabschluss (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 237). Das ist die "wirkliche" Problemgruppe.
Ursachen der Hochschulexpansion
Mit dieser offenbar bislang unaufhaltsamen Expansion der Beteiligung an Hochschulbildung verbinden sich nun zwei bildungs- und arbeitsmarktpolitisch bedeutsame Fragen: die nach den Ursachen dieser Entwicklung und die nach ihren Folgen für Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Zunächst zu den Ursachen.
Steigende Bildungsaspirationen
Die Expansion des Hochschulbesuchs wird bereits im Schulsystem angelegt – durch das kontinuierliche Wachstum des Übergangs von der Grundschule in das Gymnasium und der Erfolgs- und Abschlussquoten im Gymnasium. Die Abiturienten- und Studierendenzahlen zu erhöhen war zwar in den letzten Jahren mit Blick auf den Fachkräftebedarf ein erklärtes politisches Ziel in Deutschland. Allerdings liegen die von den Institutionen der Wissenschaftspolitik aufgestellten Zielgrößen weit unter den tatsächlich erreichten Beteiligungswerten. So hatte der Wissenschaftsrat (2006) eine Studienanfängerquote von 40 Prozent für erstrebenswert gehalten (und eine Studienberechtigtenquote von 50 Prozent). Der Bildungsgipfel von Bund und Ländern 2008 in Dresden hatte diese Zielzahlen gleichsam offiziell bestätigt. Nur wenige Jahre später hat die Entwicklung diese Zielwerte weit übertroffen. Ein beträchtlicher Anteil dieses Wachstums ist dabei auf nicht intendierte Faktoren zurückzuführen, auf Faktoren also, die sich eigendynamisch entwickeln und von der Politik kaum beeinflussbar ("steuerbar") sind.
Der wichtigste Mechanismus dieser Eigendynamik besteht in steigenden Bildungsaspirationen in der Bevölkerung: Fast unmerklich hat sich das gesellschaftliche Bildungsbewusstsein tiefgreifend verändert. Schul- und Ausbildungsabschlüsse, die vor Jahrzehnten noch als hinreichend galten (wie der Hauptschulabschluss), werden heute sowohl in der Bevölkerung als auch vonseiten der Ausbildungsbetriebe nicht mehr als Minimalstandard akzeptiert. Immer mehr Jugendliche und ihre Eltern sehen im Abitur und einem anschließenden Studium die beste Ausgangsposition für den Start in das Berufsleben. Die steigenden Bildungsbestrebungen der Bevölkerung haben dabei weniger mit einer zunehmenden "Bildungsbeflissenheit" zu tun als mit der Erwartung höherer Erträge, die durch Bildung erzielt werden können – beispielsweise höhere Einkommen und soziale Sicherheit, gesellschaftliches Ansehen, aber auch höhere Kompetenzen, die durch längeren Schulbesuch erworben werden (z. B. Fremdsprachen). Höhere Abschlüsse werden, gerade unter den Bedingungen eines schärferen Bildungswettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt, immer mehr zu einer unumgänglichen, aber allein immer weniger ausreichenden Voraussetzung für die späteren Berufs- und Lebenschancen.
Größere Durchlässigkeit des Bildungssystems
Zugleich ist die Realisierung veränderter Bildungsaspirationen durch eine größere Durchlässigkeit des Bildungssystems unterstützt worden, die sich vor allem an den Übergangsstellen zeigt. Diese Entwicklung ist politisch gewollt um das Niveau der Bildungsbeteiligung anzuheben, also mehr Jugendliche zum Abitur zu führen. So entscheiden in den meisten Bundesländern die Eltern selbst über den weiteren Schulbesuch ihrer Kinder, auch über den Besuch des Gymnasiums. Aus der Realschule sind Übergänge in die gymnasiale Oberstufe ebenso möglich wie an Gesamtschulen. In einigen Ländern haben Berufs- beziehungsweise Fachgymnasien, Berufskollegs und ähnliche Einrichtungen die Optionen zum Erwerb einer Studienberechtigung erweitert. Neben den schon länger vorhandenen Einrichtungen des Zweitens Bildungswegs sind direkte Zugangswege zur Hochschule für Berufstätige ohne traditionelle schulische Studienberechtigung eingerichtet worden.
Erhöhung der Erfolgsquoten
Schließlich haben innerhalb des Gymnasiums die Erfolgsquoten (Anteil derjenigen, die in das Gymnasium eintreten und es erfolgreich abschließen) zugenommen beziehungsweise hat sich der vorzeitige Abgang erheblich verringert (Hillebrand 2014).
Diese Entwicklung haben insgesamt dazu beigetragen, die Teilhabe an höherer Bildung durch Öffnung der Übergänge zu steigern. Statistisch zeigt sich dies in der sogenannten Studienberechtigtenquote, die von 4 Prozent (1950) auf gut 60 Prozent (2012) angestiegen ist. Etwa 60 Prozent eines Altersjahrgangs erwerben heute also eine Studienberechtigung. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten "nur" zwischen 70 und 75 Prozent eines Studienberechtigtenjahrgangs ein Studium aufgenommen haben, ist hier der zentrale "Motor" der Hochschulexpansion zu sehen. Allerdings ist sowohl der Erwerb einer Studienberechtigung als auch die Aufnahme eines Studiums nach wie vor erheblich von der sozialen Herkunft abhängig (Middendorff u.a. 2013).
Wie das Elternhaus den Bildungsweg prägt (
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Folgen der Hochschulexpansion für Arbeitsmarkt und Beschäftigung
Seit dem 18. Jahrhundert ziehen sich Warnungen vor einer "Überfüllung" der Universitäten und der gelehrten (heute sagt man akademischen) Berufe durch die deutsche Universitätsgeschichte. Und in der Tat hat es im 19. und 20. Jahrhundert historisch immer wieder aufeinanderfolgende Phasen hoher und geringerer Nachfrage nach akademisch qualifizierten Fachkräften gegeben (Titze 1990; für den Lehrerarbeitsmarkt vgl. Wolter 2014), die sich in manchmal steigenden, dann wieder sinkenden Quoten an Erwerbslosigkeit niederschlugen. Dennoch zeichnete sich langfristig ein klarer Wachstumstrend in der Akademikerbeschäftigung ab, insbesondere als Folge des volkswirtschaftlichen Strukturwandels zu einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Insofern ist die Bildungsexpansion nicht nur Folge eines veränderten Bildungsbewusstseins in der Gesellschaft, sondern eines tief greifenden ökonomischen und sozialen Wandels.
Abb. 2: Entwicklung der qualifikationsspezifischen Arbeitslosigkeit seit 1993
Quelle: Agentur für Arbeit, Nationaler Bildungsbericht 2014
Abb. 2: Entwicklung der qualifikationsspezifischen Arbeitslosigkeit seit 1993
Quelle: Agentur für Arbeit, Nationaler Bildungsbericht 2014
Eine weitere Triebkraft der Hochschulexpansion liegt daher in den günstigen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsperspektiven, die sich Hochschulabsolventinnen und -absolventen in den letzten Jahrzehnten geboten haben. Sie haben das veränderte Bildungsaspirationsniveau insofern verstärkt, als sie die von den Jugendlichen und ihren Eltern getroffenen Bildungsentscheidungen bestätigten. So liegt die qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen sehr deutlich unter der aller anderen Qualifikationsgruppen (siehe Abb. 2). Sie hat in den letzten Jahren sogar weiter abgenommen, obwohl sich die Zahl der Hochschulabsolventinnen und -absolventen stark erhöht hat. Zwar fanden zeitweise nicht alle Hochschulabsolventinnen und -absolventen einen ihren Wünschen entsprechenden Arbeitsplatz, etwa in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Lehrer oder in den 1990er Jahren Ingenieure. Das ändert aber nichts daran, dass die Beschäftigungs- und Karriereperspektiven eindeutig mit der erworbenen Qualifikation ansteigen. Das zeigen auch andere Indikatoren für Bildungserträge, etwa das durchschnittliche Lebenseinkommen, die Weiterbildungschancen oder die Lebenserwartung (vgl. ifo 2013).
Oft wird argumentiert, dass die Tatsache, nicht arbeitslos zu sein, gerade bei Arbeitskräften mit Hochschulabschluss ja gar nichts darüber aussagt, ob die ausgeübte Beschäftigung der erworbenen Qualifikation tatsächlich entspricht. Sie seien zwar formal beschäftigt, aber eben häufig nur "unter Wert". Deshalb steht die Frage der sogenannten (In-)Adäquanz von Qualifikation und Beschäftigung auch im Zentrum der Absolventenforschung (siehe Infobox).
Absolventenbefragungen zeigen, dass der Anteil der Personen, die sich ein Jahr nach dem Hochschulabschluss ihrer Qualifikation entsprechend beschäftigt sehen, seit 1997 sogar leicht zugenommen hat. Je nach Befragungszeitpunkt liegt ihr Anteil zwischen 55 und 70 Prozent. Der Anteil derer, die ihre Beschäftigung als nicht adäquat einschätzen, liegt zwischen 10 und 18 Prozent und damit deutlich niedriger. Bachelors sind häufiger betroffen als Absolventen mit traditionellen Abschlüssen und Geistes- und Wirtschaftswissenschaftler häufiger als Absolventen anderer Fachrichtungen. Verfolgt man die Absolventen über einen längeren Zeitraum, so nimmt der Anteil der inadäquat Beschäftigten kontinuierlich ab, die Unterschiede bleiben aber auch zehn Jahre nach Berufseintritt bestehen.
InfoboxAdäquanz der Erwerbstätigkeit
In der Einschätzung einer angemessenen Erwerbstätigkeit bündeln sich verschiedene Erwartungen und Ansprüche an den Beruf und subjektive Kriterien für den Berufserfolg. In der Regel werden folgende Kriterien herangezogen:
Fachadäquanz, Positions- und Niveauadäquanz, Einkommensadäquanz sowie die Notwendigkeit eines Hochschulabschlusses für die ausgeübte Tätigkeit. Im Ergebnis werden vier Formen von Adäquanz unterschieden: (1) volladäquat beschäftigt, (2) vertikal (positions- und niveau-)adäquat beschäftigt, (3) horizontal (fach-)adäquat beschäftigt und (4) bei allen Kriterien inadäquat (vgl. Fehse/Kerst 2007; Koepernik/Wolter 2011).
Vergleicht man auf der Grundlage der bundesweit repräsentativen HIS-Absolventen-befragungen die Absolventenjahrgänge 1997 bis 2009 unter dem Aspekt der selbst eingeschätzten Adäquanz miteinander, dann hat unter den traditionellen Abschlüssen der Anteil derjenigen, die sich ein Jahr nach Hochschulabschluss als volladäquat beschäftigt sehen, leicht zugenommen und liegt in allen Altersgruppen zwischen 55 und 70 Prozent. Der Anteil derjenigen, die sich am anderen Ende der Skala als "nicht adäquat" einstufen, schwankt zwischen 10 und 18 Prozent. Die höchste Inadäquanz lässt sich bei der Einschätzung der Einkommensadäquanz feststellen. Auffällig an der Zeitreihe ist die beträchtliche Differenz zwischen herkömmlichen und neuen Abschlüssen. Deutlich mehr Bachelors sehen sich als inadäquat beschäftigt. In besonderer Weise trifft dies auf die Universitätsbachelors zu und hier insbesondere wieder auf die geisteswissenschaftlichen Studiengänge. Diese Ergebnisse werden durch länderspezifische Absolventenstudien bestätigt (Wolter 2014; Lenz u.a. 2015).
Die HIS-Absolventenkohorte 1997 ist im Rahmen einer Langzeitstudie bereits drei Mal befragt worden, ein, fünf und zehn Jahre nach Studienabschluss (Fabian/Briedis 2009). Der Anteil derjenigen, die ihre Beschäftigung als "inadäquat" einstufen, nimmt kontinuierlich ab und beträgt nach zehn Berufsjahren etwa zehn Prozent. Deutlich zugenommen hat die Quote derjenigen, die ihre Tätigkeit als niveau- oder positionsadäquat einschätzen. Insbesondere bei der Inadäquanz zeigen sich aber erhebliche Unterschiede zwischen den Fachrichtungen. Eine Beschäftigung "unter Wert" wird deutlich häufiger von den Geistes- und den Wirtschaftswissenschaftlern empfunden. Ihr Umfang nimmt zwar im Zeitverlauf ab, aber die Unterschiede bleiben auch zehn Jahre nach Berufseintritt noch vorhanden.
Das eher geringe Ausmaß inadäquater Beschäftigung spricht gegen die These, die Hochschulexpansion führe unweigerlich zu einer schlechteren Beschäftigungssituation von akademisch Gebildeten. Jedenfalls hat sich diese Sorge in der Vergangenheit nicht bewahrheitet. "Mismatches" zwischen Bedarf und Angebot können auf allen Ebenen – Branchen, Regionen, Qualifikationen, Berufe, Fachrichtungen – auftreten. Sie sind eine kaum vermeidbare Folge eines (offenen) Bildungssystems, in dem die einzelnen Bildungsteilnehmerinnen und-teilnehmer selbst über ihren Bildungsweg entscheiden und nicht eine nachfrageorientierte Arbeitskräfteplanung. Jedenfalls sind von denjenigen, die nach ihrem Studienabschluss in den Beruf wechseln, ein Jahr nach Abschluss bereits etwa 80 Prozent regulär in einem "Normalarbeitsverhältnis" beschäftigt (Wolter 2014). Die negativen Arbeitsmarktszenarien – wie der berühmte "Taxifahrer Dr. phil." – sind bislang nicht eingetreten, auch wenn der Übergang vom Studium in den Beruf zweifellos – bei starken Unterschieden zwischen Fachrichtungen und Teilarbeitsmärkten – langwieriger, risikoreicher und schwieriger geworden ist. Der akademische Arbeitsmarkt hat sich trotz deutlich steigender Absolventenzahlen alles in allem als aufnahmefähig erwiesen.
Zukunftsszenarien
Dennoch kann aus all dem nicht geschlossen werden, dass sich die Chancen von Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft nicht verschlechtern werden. Arbeitsmarktprojektionen sind immer mit Unsicherheit behaftet und zeichnen aufgrund unterschiedlicher Annahmen und Szenarien kein eindeutiges Bild zum zukünftigen Akademikerbedarf (Cordes 2012; Neubecker 2014; Helmrich u.a. 2012). Zu den offenen Fragen zählen (1), ob ein höherer Arbeitskräftebedarf eher bei den akademisch oder bei den in betrieblicher Ausbildung qualifizierten Fachkräften zu erwarten ist, (2) in welchen Fachrichtungen (MINT, Gesundheits- und Sozialberufe oder andere Berufe) mit Engpässen zu rechnen ist und (3) ob mit einem zu hohen oder zu niedrigen Angebot bei Arbeitskräften mit Hochschulabschluss zu rechnen ist.
Die meisten Projektionen kommen zu dem Ergebnis, dass der Bedarf an Fachkräften mit Hochschulabschluss weiter ansteigen wird, auch wenn voraussichtlich das mittlere Segment der Fachkräfte aus der betrieblichen Ausbildung oder dem Schulberufssystem (Berufsfachschulen usw.) das stärkste bleiben wird. Umstritten ist aber, in welchem Umfang und in welchen Fachrichtungen dieser Zuwachs hauptsächlich erfolgen wird und in welchen Bereichen am ehesten Engpässe zu erwarten sind. Daher ist es wenig hilfreich, die akademische und die berufliche Bildung gegeneinander auszuspielen. Ebenso wenig helfen Klagen über einen vermeintlichen Akademisierungswahn.
Die meisten Diagnosen eines Akademisierungswahns leiden an einer zentralen Schwäche: Sie überschätzen die politische Steuerbarkeit der Hochschulexpansion und benennen trotzdem keinerlei politische Gegenmaßnahmen mit Aussicht auf Erfolg. Wenn der Wandel des Bildungsbewusstseins und -verhaltens eine durch die Funktion von Bildung vorangetriebene gesellschaftliche Grundströmung darstellt, dann handelt es sich um eine kaum umkehrbare, sich selbst verstärkende Entwicklung, die durch die Summe aller Bildungsentscheidungen hervorgerufen wird. Diese individuellen Entscheidungen sind alles andere als ein pathologisches Wahnphänomen; sie beruhen vielmehr auf vergleichsweise rationalen Gründen, da Eltern und Jugendliche die soziale Funktion von Bildung in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft recht realistisch einschätzen.
Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der staatlichen Bildungspolitik oder anderer Akteure, Bildungsentscheidungen wirksam zu beeinflussen und Bildungsströme dadurch zu steuern, äußerst begrenzt. Soll die historisch erreichte, größere institutionelle Offenheit innerhalb unseres Bildungssystems ernsthaft wieder rückgängig gemacht werden, indem die zentralen Übergangsstellen erneut restriktiv reguliert werden? Eine deutliche Verschärfung der Selektion an den Verteilerstellen in unserem Bildungssystem stößt auf rechtliche und politische Grenzen und würde eine massive Entmutigung von Bildungsanstrengungen zur Folge haben. Im günstigsten Fall sind Bildungsentscheidungen durch "weiche", eher informelle Maßnahmen wie Information und Beratung zu beeinflussen. Wie effektiv aber eine Informations- und Beratungsstrategie wäre, von akademischer zu beruflicher Bildung "umzulenken", ist zu bezweifeln.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es zwischen Nachfrage nach und Bedarf an Bildung marktförmige Rückkopplungen gibt. So kann ein steigender Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften einen neuen Nachfrageschub auslösen – und umgekehrt ein rückläufiger Bedarf unter bestimmten Umständen zu einem Nachfragerückgang führen. Vor diesem Hintergrund sind mehrere Zukunftsszenarien vorstellbar.
Erstens könnte die berufliche Bildung wiedererstarken, wenn Hochschulabschlüsse durch sinkende Bildungserträge (wie steigendes Beschäftigungsrisiko, Zunahme inadäquater Beschäftigung oder sinkende Einkommen) entwertet und die Berufsausbildung (durch höhere Einkommen) aufgewertet würden.
Zweitens könnte aber auch die umgekehrte Entwicklung eintreten: Die Anreize des Arbeitsmarktes, die "Belohnung" akademischer Bildung, könnten die anhaltende Bildungsexpansion noch einmal verstärken.
Drittens könnten aber sogar sinkende Erträge eines Hochschulabschlusses eine neue Expansionswelle erzeugen, wenn die Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer ihre Marktposition durch immer "höhere" Abschlüsse (Abitur statt Realschulabschluss, Master statt Bachelor, Doktor statt Master) und feinere Unterschiede im Qualifikations- und Kompetenzniveau zu stärken versuchen.
Viertens wären als Reaktion auf die Umschichtung in der Bildungsbeteiligung – von der beruflichen Bildung zur Hochschulbildung – neue bildungs- und beschäftigungspolitische Konzepte vorstellbar. Die Bildungsexpansion könnte als volkswirtschaftliche Ressource konstruktiv genutzt werden, indem neue Ausbildungs- und Weiterbildungsformate geschaffen werden, die den Gegensatz zwischen beruflicher und akademischer Bildung überwinden. Dies wäre aber die mit Abstand größte bildungs- und gesellschaftspolitische Herausforderung, die eine sehr weitgehende Umgestaltung bisheriger Qualifizierungswege erfordern würde (Baethge/Wolter 2015).
Mehr empirische Nüchternheit wäre angebracht, um die aktuellen Entwicklungen in unserem Bildungssystem in ihrem arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Kontext realistisch zu beurteilen. Die Mediendebatte würde dann einen Teil ihrer dramatischen Überspitzung verlieren. Ob eine wachsende Akademisierung eine Gefahr oder eine Chance ist, hängt vor allem von den bildungs-, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Antworten auf diese Entwicklung ab.
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin (© Privat) Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin (© Privat) | Standpunkt Julian Nida-Rümelin: |
Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland. Bielefeld.
Baethge, M./Wolter, A. (2015): The German Skill Formation Model in Transition: From Dual System of VET to Higher Education? Erscheint im Journal for Labour Market Research.
CHE, Centrum für Hochschulentwicklung (2014): Wenn Studieren der Normalfall wird. DUZ-spezial. Berlin.
Cordes, A. (2012): Projektionen von Arbeitsangebot und -nachfrage nach Qualifikation und Beruf im Vergleich. Hannover.
Dahm, G./Kamm, C./Kerst, C./Otto, A./Wolter, A. (2013): "Stille Revolution"? Der Hochschulzugang für nicht-traditionelle Studierende im Umbruch. In: Die Deutsche Schule. 105 H. 4. S. 382-401.
Fabian, G./Briedis, K. (2009): Aufgestiegen und erfolgreich. Ergebnisse der dritten HIS-Absolventenbefragung des Jahrgangs 1997 zehn Jahre nach dem Examen. Hannover (HIS: Forum Hochschule 2/2009).
Fehse, S./Kerst, C. (2007): Arbeiten unter Wert? Vertikal und horizontal inadäquate Beschäftigung von Hochschulabsolventen. In: Beiträge zur Hochschulforschung. 29. Jahrgang Heft 1. S. 72-99.
Helmrich, R./Zika, G./Kalinowski, M./Wolter, M. (2012): Engpässe auf dem Arbeitsmarkt: Geändertes Bildungs- und Erwerbsverhalten mildert Fachkräftebedarf. In: BIBB-Report. Heft 18/2012.
Hillebrand, A. (2014): Selektion im Gymnasium. Münster.
Ifo, ifo-Schnelldienst (2013): "Akademisierungswahn": Studieren zu viele? 66. Jahrgang Nr. 23/2013. München.
Koepernik, C./Wolter, A. (2011): Studium und Beruf. In: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Expertisen für die Hochschule der Zukunft. Bad Heilbrunn. S. 273-340.
Kuda, E./Strauß, J. (2013): Akademisierung als Königsweg? Eine gewerkschaftliche Perspektive. In: Schultz, T./Hurrelmann, K. (Hrsg.): Die Akademiker-Gesellschaft. Weinheim/Basel. S. 176-194.
Lenz, K./Wolter, A./Otto, M./Pelz, R. (2015): Studium und Berufseinstieg. Ergebnisse der zweiten Sächsischen Absolventenstudie. Dresden (i.E.).
Middendorff, E./Apolinarski, B./Poskowsky, J./Kandulla, M./Netz, N. (2013): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung. Berlin.
Neubecker, N. (2014): Die Debatte über den Fachkräftemangel. DIW Roundup 4/2014. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. Berlin.
Nida-Rümelin, J. (2014): Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung? Hamburg.
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Schofer, E./Meyer, J. W. (2005): The World-Wide Expansion of Higher Education in the Twentieth Century. In: American Sociological Review, Vol. 70, 898-920.
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Strahm, R. H. (2014): Die Akademisierungsfalle. Warum nicht alle an die Uni müssen. Bern.
Teichler, U. (2013): Hochschulexpansion – auf dem Weg zur hochqualifizierten Gesellschaft? In: Schultz, T./Hurrelmann, K. (Hrsg.): Die Akademiker-Gesellschaft. Weinheim/Basel. S. 30-43.
Titze, H. (1990): Der Akademikerzyklus. Göttingen.
Wissenschaftsrat (2006): Empfehlungen zum arbeitsmarkt- und demographiegerechten Ausbau des Hochschulsystems. Berlin.
Wolter, A. (2014): Studiennachfrage, Absolventenverbleib und Fachkräftediskurs. Wohin steuert die Hochschulentwicklung in Deutschland? In: Bauer, U./Bolder, A./Bremer, H./Dobischat, R./Kutscha, G. (Hrsg.): Expansive Bildungspolitik- expansive Bildung? Wiesbaden. S. 145-171.
Wolter, A./Banscherus, U./Kamm, C./Otto, A./Spexard, A. (2014): Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung als mehrstufiges Konzept. Bilanz und Perspektiven. In: Beiträge zur Hochschulforschung. 4/2014. S. 8-39.