Die Entwicklung des deutschen Bildungswesens im europäischen Kontext
Die schrittweise Einführung der Schulpflicht (z. B. 1763 in Preußen) und eine geregelte Mindestbildung für alle Bevölkerungsgruppen waren im 18. und 19. Jahrhundert mit entscheidend für die Entstehung nationaler Identität und die kulturelle Integration der sich herausbildenden Nationalstaaten. Die Einrichtung eines eigenständigen Bildungssystems stellt eine besondere Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa dar, weil in ihm Sozialisation sowie Erziehungs- und Lernprozesse der nachwachsenden Generation systematisch organisiert und geregelt werden. Die national unterschiedlichen Bildungssysteme entstanden nicht durch die rationale Planung herrschender Eliten, auch wenn diese an der Bereitstellung von hinreichend qualifizierten Soldaten und Bürgern interessiert waren, um die wirtschaftliche und militärische Situation zu verbessern, sondern sind vornehmlich das Ergebnis komplexer kultureller und sozioökonomischer Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse. In ihnen spiegeln sich Konflikt- und Machtkonstellationen zwischen Interessengruppen und politischen Parteien im 18. Jahrhundert wider, als die Alphabetisierung in Gang gesetzt wurde, und im 19. Jahrhundert, als die Schulpflicht eingeführt wurde. Im Zuge der Säkularisierung und der Konsolidierung der Nationalstaaten erfolgte über das Bildungssystem eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. Die Bildungsexpansion war auch Voraussetzung für die politische Beteiligung und Integration der Bürger (Aufbegehren gegen Absolutismus) sowie für die staatliche Umverteilung von Lebenschancen (Paternalismus und Protektion), die an den Erwerb von Bildung geknüpft sind wie etwa Arbeitsmarktchancen, Einkommenserzielung und Erwerb von wohlfahrtsstaatlichen Anrechten (z. B. Altersabsicherung).
Die Etablierung eines Bildungssystems im 19. Jahrhundert
In diesen frühen Perioden der Etablierung nationaler Bildungssysteme zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg löste der säkularisierte Staat die Kirchen als wichtigsten Träger von Bildungseinrichtungen ab. Dies führte zu tiefgreifenden Konflikten um Werte und Weltanschauungen, und diese Auseinandersetzungen beeinflussten die Art und Weise, wie der Staat die Kontrolle des Bildungssystems und die Verantwortung für die Bildung übernahm. Die sich verbreitende Erkenntnis, dass Bildung nicht nur die Identitäten und Werthaltungen nachwachsender Generationen, sondern auch die politischen und ökonomischen Chancen der Gesellschaftsmitglieder beeinflusst, heizte die politischen Diskussionen über Bildung an. Die Reformen des Bildungssystems wurden mehr und mehr von Klassenkonflikten geprägt. Zwar öffnete die Einführung der Schulpflicht Kindern aus allen Schichten zumindest den Zugang zur Elementarbildung, doch in den höheren Schulen und Universitäten blieben die Mittel- und Oberschicht noch weitgehend unter sich.
Die Reformen während der Weimarer Republik
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Primarschule, Berufsausbildung und allgemeine Sekundarschule ausgebaut. In Deutschland kam es wie in vielen anderen europäischen Ländern zur Öffnung der höheren Schulen für breitere Bevölkerungsschichten, indem das Nebeneinander von Volksschule als Institution für das "gemeine Volk" und Gymnasium als Institution für gesellschaftliche Eliten beendet wurde. Die Volksschule wurde nun den höheren Bildungsgängen vorgeschaltet und musste von allen Kindern besucht werden. Somit etablierte sich endgültig das bereits im 19. Jahrhundert entstandene dreigliedrige Schulsystem, das im Wesentlichen den politischen, ökonomischen und sozialen Statusinteressen einer Dreiklassengesellschaft entsprach. Während die Volksschule vom "gemeinen Volk" besucht werden sollte und zur beruflichen Tätigkeit in Landwirtschaft und Industrie führte, sah die Realschule für die Mittelschichten eine Ausbildung für Tätigkeiten im Bereich der privatwirtschaftlichen Verwaltung und des Militärs vor. Das Gymnasium als Elitenbildungsanstalt war schließlich der Oberschicht, vor allem dem Bildungsbürgertum, vorbehalten, die dann auch die leitenden Positionen in Politik und Wirtschaft einnehmen sollten. Hier hat die strukturell-institutionelle Beziehung zwischen Bildungssystem und Sozialstruktur, die zur Reproduktion von sozialer Ungleichheit und Klassenstrukturen durch das Bildungssystem führt, ihren Ursprung. Unter der nationalsozialistischen Diktatur (1933 – 45) kam es trotz der allgemeinen Gleichschaltungspolitik zu keiner grundlegenden Neustrukturierung des Bildungssystems.
Die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden überall in Europa – von Land zu Land verschieden – sowohl der Sekundarbereich ausgebaut als auch die höheren Schulen, Universitäten und Fachhochschulen auch für Kinder aus bislang benachteiligten Schichten weiter geöffnet. Nationale Besonderheiten der politischen, ökonomischen und sozialstrukturellen Entwicklung sowie Unterschiede in der Organisation, Kontrolle und Finanzierung ließen in Europa eine vielfältige Landschaft von Bildungssystemen entstehen, für die sehr verschiedene Formen der sozialen Durchlässigkeit von Bildungseinrichtungen kennzeichnend sind (Müller u. a. 1997).
In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde in Westdeutschland das Bildungswesen der Weimarer Republik restauriert und hat dann in den Folgejahren – im Unterschied zur DDR – allenfalls noch graduelle Änderungen erfahren. Die Einführung einer schulformunabhängigen Orientierungsstufe, der Ausbau der (integrierten) Gesamtschule oder der Umbau der gymnasialen Oberstufe in den 1970er-Jahren scheiterte am parteipolitischen Streit. Der von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung vorgelegte und 1973 von Bund und Ländern verabschiedete Bildungsgesamtplan wurde nie umgesetzt. Auch gegenwärtig bewirken im Unterschied zu anderen europäischen Ländern Bildungsreformen in Deutschland keine einschneidenden institutionellen Veränderungen des schulischen und berufsbildenden Bildungssystems. Nach der Wiedervereinigung wurden in den 1990er-Jahren zunächst die westdeutschen Strukturen mit nur geringfügigen Modifikationen auf das Bildungssystem der neuen Bundesländer übertragen. Doch seit Ende den 1990er-Jahren kam es wegen der internationalen Konkurrenz, drängender Forderungen aus der Wirtschaft und offenkundiger Diskrepanzen zwischen Anspruch und Realität des Bildungssystems wieder zu bildungspolitischen Debatten über den Modernitätsrückstand des deutschen Bildungswesens und zu vereinzelten Reformmaßnahmen (einschließlich der sogenannten "Bologna-Reform"), deren Tragweite und Folgen noch nicht absehbar sind.
Die heutigen Strukturen des Bildungssystems in Deutschland
Entsprechend der föderalen Struktur Deutschlands gibt es – basierend auf dem Grundgesetz sowie auf Bundes- und Landesgesetzen – keine länderübergreifende gesetzliche Regelung für das gesamte Bildungssystem und keine bundeseinheitliche Verwaltung des Bildungswesens, denn das allgemeinbildende und berufsbildende Schul- und Ausbildungswesen sowie die Hochschulgesetzgebung unterliegen der Kulturhoheit der 16 Bundesländer. Sie sind primär für Schulgesetzgebung und Verwaltung des Bildungswesens (Schulaufsicht und -verwaltung) zuständig. Die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) soll die Bildungsangelegenheiten der Länder koordinieren, um eine föderalistische Zersplitterung des Bildungssystems zu vermeiden. Die Berufsausbildung ist fast einheitlich durch das Berufsbildungsgesetz, ein Bundesgesetz, definiert, wobei die einzelnen Länder für die Verwaltung der berufsbildenden Schulen zuständig sind. Der Vorschulbereich obliegt der Sozialgesetzgebung des Bundes (Bundesministerium für Bildung und Forschung). Die Rahmenkompetenz für das Hochschulwesen liegt beim Bund, während der Hochschulbau eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern ist. Für die materielle Ausstattung der Schulen wiederum sind die jeweiligen Schulträger zuständig – für die öffentlichen Schulen sind das die Gemeinden oder Gemeindeverbände bzw. das Bundesland, für die privaten Schulen sind es natürliche oder juristische Personen (z. B. die Kirchen).
Segmentierung und Differenzierung als Kennzeichen des Bildungssystems
Im Zuge seiner Entwicklung ist in Deutschland ein nach Stufen hochgradig stratifiziertes und nach Typen stark segmentiertes bzw. differenziertes Bildungssystem entstanden. Die Abbildung gibt einen groben Überblick über dessen Aufbau und Gliederung. Unterschieden wird zwischen der Elementar- und Primarstufe (Kindergarten, Vorschule, Grundschule), Sekundarstufe (weiterführende Schulen, berufliche Bildung) und der Tertiärstufe (Hochschulen). Der quartäre Bereich mit allgemeiner und beruflicher Weiterbildung ist – trotz der Einführung von Volkshochschulen für die Erwachsenenbildung seit Januar 1902 – in Deutschland keine institutionalisierte Stufe im Bildungswesen. Eine zusätzliche Differenzierung des Bildungswesens unterscheidet zwischen den Institutionen der Allgemeinbildung und der Berufsbildung. Der Bereich der Berufsbildung ist in sich differenziert. Derzeit werden drei Bereiche unterschieden: 1.) vollzeitliche schulische Ausbildung (zumeist in Berufsfachschule), 2.) berufspraktische Ausbildung (Lehre) in einem Betrieb mit einem begleitenden Unterricht in der Berufsschule (duale Berufsausbildung *), und 3.) das sogenannte "Übergangssystem" für jugendliche Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz (z. B. schulisches Berufsgrundbildungsjahr, welches einem berufsvorbereitenden Jahr auf einer Berufsschule entspricht oder Besuch von Berufsfachschulen ohne Erwerb eines beruflichen Abschlusses oder berufsvorbereitende Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, usw.).
Elementar- und Primarstufe
Typisch ist für Deutschland – wie für alle Bildungssysteme, aber mit graduellen nationalen Variationen – die Koppelung der Bildungseinrichtungen an das Lebensalter der Lernenden. Ab dem ersten bis zum dritten Lebensjahr kann die Kinderkrippe, ab dem vierten bis zur Einschulung der Kindergarten besucht werden. Der Besuch der Elementarstufe ist für die noch nicht schulpflichtigen Kinder freiwillig. In einigen Ländern findet der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule über Vorklassen und Schulkindergärten statt. Derzeit erfolgt der Schuleintritt mit dem vollendeten sechsten Lebensjahr. Die Pflichtschulzeit umfasst neun, in manchen Bundesländern zehn Schuljahre. Die anschließende Teilzeitschulpflicht (Berufsschulpflicht bis zum 18. Lebensjahr) beträgt drei Jahre. Die Grundschule umfasst vier Klassenstufen und in Berlin sowie Brandenburg sechs Jahrgangsstufen.
Sekundarstufe I und II
Am Ende der Primarstufe erfolgt der Übergang in eine der zwei bis fünf Schultypen in der Sekundarstufe I, die sich durch ihre Leistungsanforderungen unterscheiden. Hierbei hat der Elternwille Vorrang vor dem staatlichen Bestimmungsrecht, wobei in einigen Bundesländern die Grundschulempfehlung einen mehr oder weniger verbindlichen Charakter hat. Die Orientierungsstufe (Jahrgangsstufen 5 und 6) dient unabhängig von ihrer organisatorischen Zuordnung zur Orientierung über den weiteren Bildungsweg in einer der Schullaufbahnen.
Während in der Vergangenheit das dreigliedrige Schulsystem mit Hauptschule (allgemeine Bildung), Realschule (vertiefte allgemeine Bildung) und Gymnasium (erweiterte allgemeine Bildung) dominierte, haben sich seit 1990 institutionelle Änderungen ergeben. So wurden – abgesehen von bereits bestehenden Gesamtschulen in einigen Bundesländern im Westen Deutschlands – unterschiedliche Formen der kooperativen und integrativen Gesamtschule etabliert mit besonderen Regelungen. In einigen Bundesländern gibt es zweigliedrige Schulsysteme, in denen die Bildungsgänge der Haupt- und Realschulen angeboten werden. Die derzeitigen Entwicklungen laufen offenbar auf eine flächendeckende Konvergenz zu einer zweigliedrigen Sekundarstufe I hinaus. Behinderte werden entsprechend ihrer Behinderungsart – teilweise auch integrativ zusammen mit nichtbehinderten Schulkindern – in besonderen allgemeinbildenden und beruflichen Schulen unterrichtet. Im Jahre 2007 haben sich die Schülerzahlen in der Jahrgangsstufe 8 zu 20,6 % auf die Hauptschule, 26,5 % auf die Realschule, 33,4 % auf das Gymnasium, 8,5 % auf die integrierte Gesamtschule, zu 6,4 % auf Schularten mit mehreren Bildungsgängen zu 3,8 % auf die Sonderschulen verteilt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Die Durchlässigkeit zwischen den Schularten und gegenseitige Anerkennung der Schulabschlüsse sind gewährleistet.
Der Hauptschulabschluss ist der erste allgemeinbildende Schulabschluss, der je nach Bundesland nach 9 oder 10 Jahren erworben wird. Der Realabschluss wird in der Regel nach 10 Schuljahren erworben. Der nachträgliche Erwerb dieser Abschlüsse an Abendschulen und beruflichen Schulen ist möglich. Der Hauptschulabschluss berechtigt zum Besuch weiterführender beruflicher Schulen und ist Voraussetzung für die Ausbildung zum Handwerker bzw. Facharbeiter oder für kaufmännische Berufe. Derzeit gibt es eine zunehmende Entkopplung des Schulabschlusses von der besuchten Schullaufbahn in der Sekundarstufe I. Beispielsweise kann der Realschulabschluss auch an Hauptschulen erworben werden. Der im Vergleich zum Hauptschulabschluss höherwertige Realschulabschluss, der in der Zwischenzeit zum Mindeststandard bei den Schulabschlüssen geworden ist, berechtigt zur fortgesetzten Schulbildung in der Oberstufe eines allgemeinen oder beruflichen Gymnasiums und nach abgeschlossener Ausbildung zum Besuch der Fachoberschule. Und wenn Personen in diesem Bildungsbereich besondere leistungsbezogene Voraussetzungen erfüllen, können sie auch auf das Gymnasium wechseln. Die auf der gymnasialen Oberstufe mit dem vorzeitigen Abgang vor dem Abitur nach der 11. bzw. 12. Klassenstufe erworbene Fachhochschulreife berechtigt neben einer nichtakademischen Berufsausbildung zum Fachhochschulstudium und das Abitur zum Studium an allen Hochschulen.
Die Sekundarstufe II ist gegliedert und heterogen. Nach dem Erwerb formeller Berechtigung nach der Jahrgangsstufe 9 oder 10 kann die Allgemeinbildung in der gymnasialen Oberstufe fortgesetzt werden. Die Hochschulreife (Abitur) erreicht man in den meisten Bundesländern nach der Klassenstufe 13 und die Fachhochschulreife bereits eine Klassenstufe früher. Derzeit findet in der Mehrzahl von Bundesländern – dem Vorbild ostdeutscher Länder und europäischer Nachbarländern folgend – eine Umstellung auf das achtjährige Gymnasium statt, so dass die Hochschulreife bereits nach der Jahrgangsstufe 12 erworben wird. Schulabgänger nach der Sekundarstufe I finden ein breites Angebot an beruflicher Ausbildung vor. Den größten Raum nimmt die berufliche Ausbildung mit einer Dauer von ein bis drei Jahren ein. Sie erfolgt entweder im dualen System der Berufsausbildung in einer berufspraktischen Ausbildung in einem Betrieb (Lehre) mit einem begleitenden Unterricht in der Berufsschule oder über den Besuch einer beruflichen Vollzeitschule (zumeist Berufsfachschule). Neben dem Berufsabschluss können je nach Voraussetzungen (etwa Realschulabschluss und Besuch der Fachoberschule oder nach Besuch der Berufs- oder Fachgymnasien) auch die fachgebundene Fachhochschulreife oder Allgemeine Hochschulreife erworben werden. Aufgrund der Standardisierung und beruflichen Spezifität der beruflichen Ausbildung sowie der engen Kopplung zwischen Ausbildungs- und Beschäftigungssystem, die mit vergleichsweise geringer Jugendarbeitslosigkeit einhergeht, gilt das deutsche Modell der Berufsausbildung als eine erfolgreiche Lösung für die Sicherstellung des Angebots qualifizierter Arbeitskräfte und des erfolgreichen Übergangs von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt (Müller u. a. 2002).
Der Tertiärbereich
Der Tertiärbereich in Deutschland umfasst mit seinen Hochschulen die Institutionen, die schon traditionell über die Einheit von Forschung und Lehre mit der Entwicklung kultureller Leitideen, der Entdeckung von ökonomisch verwertbarem Wissen und der Produktion hochqualifizierter Arbeitskräfte verbunden werden. Er ist (noch) ein binäres System mit den Universitäten einerseits, Fachhochschulen und anderen Hochschulen wie Pädagogische Hochschulen, Musik- und Kunsthochschulen sowie Verwaltungshochschulen andererseits. Laut Statistischem Bundesamt gab es im Wintersemester 2008/09 insgesamt 394 Hochschulen in Deutschland: 104 Universitäten (mit dem größten Anteil der Studierenden), 6 Pädagogische Hochschulen, 14 Theologische Hochschulen, 51 Kunsthochschulen, 189 Fachhochschulen (mit dem zweitgrößten Anteil der Studierenden) und 30 Verwaltungsfachhochschulen. In der Quantität dominieren Universitäten (mit akademischer Ausbildung und Grundlagenforschung) und Fachhochschulen (mit praxisorientiertem Studium und anwendungsbezogener Forschung), die nach Erwerb der Studienberechtigung (Abitur bzw. Fachhochschulreife) besucht werden können. Aufgrund des in den letzten Jahren enorm angewachsenen Reformdrucks im Hochschulbereich ist eine Ausweitung des Tertiärbereichs mit der Etablierung privater Hochschulen und von Berufsakademien zu beobachten, die eine wissenschaftsbezogene und praxisorientierte Berufsausbildung an einer Studienakademie und in einem Betrieb ähnlich der dualen Berufsausbildung im Sekundarbereich vermitteln. Gegenwärtig können Berufsakademien noch keinen staatlich anerkannten Abschluss bieten.
Nachdem sich am 19. Juni 1999 die europäischen Bildungsminister von insgesamt 29 Staaten im norditalienischen Bologna auf eine Hochschulreform ("Bologna-Erklärung" zum "Europäischen Hochschulraum") geeinigt haben, wird in Deutschland flächendeckend ein zweistufiges System von Studienabschlüssen nach angloamerikanischem Vorbild eingeführt. Nach einem Studium von sechs bis maximal acht Semestern wird mit dem Bachelor ein erster anerkannter Studienabschluss erworben. Der Bachelor (BA) soll ein praxis- und berufsorientiertes Studium sein und dem bisherigen Diplomabschluss von Fachhochschulen entsprechen. Für den daran anschließenden Master als nächsten akademischen Abschluss sind zwei bis vier Semester vorgesehen. Der Master (MA) soll als theoretisch ausgerichtetes Studium den bisherigen Diplom- und Magisterabschlüssen an Universitäten entsprechen. Durch die Bologna-Reform soll ein einheitlicher Hochschulraum innerhalb der Europäischen Union geschaffen und mit der gegenseitigen Anerkennung dieser Abschlüsse die Mobilität der Studierenden innerhalb Europas verbessert werden. Derzeit wird an der Umsetzung der Bologna-Reform kritisiert, dass durch sie die Arbeitsbelastung für Studierende wie Lehrende gestiegen sei und eine Verschulung der akademischen Ausbildung vorangetrieben werde. Noch ist unklar, ob mit dieser Reform die von den Initiatoren avisierten Ziele wie etwa höhere Mobilität der Studierenden erreicht werden oder ob eher ungewollt eine weitere Stratifikation des Hochschulbereichs mit negativen Konsequenzen für Studienchancen "bildungsferner" Schichten eingeführt wurde (Becker 2010).
Funktionen des Bildungswesens
Dem Bildungswesen werden verschiedene Funktionen zugeschrieben, wobei im Hinblick auf Effizienz und Effektivität des Bildungssystems Anspruch und Wirklichkeit oft weit auseinander liegen. Die Qualifikations- und Sozialisationsaufgabe des Bildungssystems besteht zum einen darin, der Bevölkerung grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, um die Nachfrage des Arbeitsmarktes nach Qualifikationen und Kompetenzen zu befriedigen. Zum anderen sollen nachfolgende Generationen mit Wissen und Werten erzogen werden, damit sie gesellschaftlich erwünschte Verhaltensmuster zeigen. Die Legitimationsfunktion meint die Vermittlung gesellschaftlicher Werte und Weltanschauungen, damit sich die jungen Bürgerinnen und Bürger loyal in die Gesellschaft und ihr politisches System integrieren. Die Selektionsfunktion des Bildungssystems liegt darin, dass Anrechte für bestimmte Ausbildungen und soziale Positionen über Leistung und die Vergabe von Zertifikaten nach Leistung erfolgen soll. Die Platzierungsfunktion meint, dass der Zugang zu bestimmten Berufen und privilegierten Positionen über das Bildungssystem nach erworbenen Abschlüssen erfolgen soll. Ihrem Anspruch nach können diese Funktionen nicht immer erfüllt werden, wenn beispielsweise der Ausstoß des Bildungssystems hinter den Erwartungen und Erfordernissen des Arbeitsmarktes zurück bleibt, die Selektion statt nach Leistung über soziale Merkmale und andere Kategorien erfolgt, die Platzierung statt nach erworbenen Anrechten über andere Auswahlmechanismen wie etwa über Geschlecht, Korruption oder Beziehungen verläuft.
Bildungsausgaben
Bildungsausgaben – die öffentlichen und privaten Aufwendungen für Bildung – sind als ein Indikator für die dem Bildungssystem zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen auch ein Richtwert dafür, welche Bedeutung eine Gesellschaft der Bildung beimisst. Im Jahre 2007 wurden in Deutschland rund 204,1 Milliarden Euro für Bildung, Forschung und Wissenschaft budgetiert. Von diesem Betrag wurden rund 147,8 Milliarden Euro für Bildung ausgegeben. Zwar wurden im Jahre 2007 rund 22 Milliarden Euro mehr als im Jahre 1995 für Bildung ausgeben. Je höher die jeweilige Bildungsstufe ist, desto mehr Geld wird pro Lernende ausgegeben. Betrachtet man die Ausgaben für Bildungseinrichtungen je Person der bildungsrelevanten Bevölkerung (Personen im Alter von 3 bis 29 Jahren) und setzt sie in Beziehung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner, so werden in Deutschland rund 18 % des BIP je Einwohner für Bildung aufgewendet. Aber abgesehen davon, dass ein niedriges BIP geringe und ein hohes BIP höhere Bildungsausgaben bedeuten, sind – gemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland – in den letzten Jahren die Bildungsausgaben in ihrem Zuwachs zurück geblieben: Denn während 1995 noch 6,8 % des BIP für Bildung aufgewendet wurden, lagen sie 2007 bei einem Anteil von 6,1 % am BIP (Autorengruppe Berichterstattung 2010). Im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern liegt Deutschland damit nur im unteren Mittelfeld – insbesondere dann, wenn nur die staatlichen Ausgaben, aber nicht die privaten Aufwendungen für Bildung berücksichtigt werden. Es ist naheliegend, dass mit der Zahl der bildungsrelevanten Bevölkerung – und Deutschland liegt hierbei aufgrund der demographischen Altersstruktur ihrer Bevölkerung relativ gesehen weit unterhalb des OECD-Durchschnitts – und der Dauer der Bildungsbeteiligung von Lernenden die Ausgaben für Bildung insgesamt steigen (Frieder 2008). Typisch für Deutschland ist im internationalen Vergleich, dass die Bildungsausgaben über die Phasen des Bildungsverlaufs gestreckt und die älteren Personen gegenüber den jüngeren im Bildungssystem bevorzugt werden.
Bei den Ausgaben für den Primarbereich und Sekundarstufe I liegen in Deutschland die Bildungsausgaben unter dem OECD-Durchschnitt und für die Sekundarstufe II (insbesondere Berufsausbildung) und den Tertiärbereich über dem OECD-Durchschnitt (Schmidt 2003). In Deutschland wird vor allem in die Bildungsbereiche (Primarbereich und Sekundarstufe I) unterdurchschnittlich investiert, die für die qualifikatorischen und beruflichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts (Wirtschaftssektoren und Spitzenförderung) entscheidend sind, und am meisten in die Bereiche von mittlerer Schul- und Berufsausbildung und Wirtschaftsbereichen wie Industrie und Gewerbe, die im 20. Jahrhundert dominierten. Ein Großteil der Bildungsausgaben wird dabei – bei einem im internationalen Vergleich "ungünstigen" Verhältnis von Lernenden und Lehrpersonen – für die Gehälter von Lehrpersonen statt für die Ausstattung der Schulen oder für den Unterricht verwendet. Im OECD-Vergleich gehört Deutschland zu den Ländern, deren Bildungsausgaben stark über politisch motivierte Entscheidungen für bestimmte Bildungsbereiche (vor allem zu Gunsten der mittleren dualen Berufsausbildung) erfolgen. Für die Menge und Entwicklung von Bildungsausgaben spielen die besonders ausgeprägte Kulturhoheit der Bundesländer mit Länderhaushalten in chronischer Finanznot, die relativ geringe Größe des kostenintensiven tertiären Bildungsbereichs, der geringe Anteil der bildungsrelevanten Bevölkerung und der beachtliche Beitrag privater Bildungsausgaben eine bedeutsame Rolle. Sie erklären die Entscheidung über Bildungsausgaben eher als andere Faktoren wie etwa die nationale Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung. Deutschland gehört auch zu den Ländern, die im Vergleich zu den Ausgaben für andere Bereiche der öffentlichen Haushalte (wie etwa Sozialbereich, Militär oder Schuldentilgung usw.) relativ wenig in Bereiche wie Bildung, Qualifikation und kulturelle Integration nachwachsender Generationen und wirtschaftliche Entwicklung investieren, die für die Zukunft einer Gesellschaft besonders wichtig sind. So gesehen, ist es in Deutschland vergleichsweise ungünstig bestellt um die Wertschätzung von Bildung, obwohl die Rhetorik der Politik einen anderen Eindruck erwecken will.