Herr Professor Tenorth, sind die heutigen Studenten dümmer als jene in den sechziger oder neunziger Jahren?
Heinz-Elmar Tenorth: Nein. Sie sind anders als wir in den Sechzigern. Sie hantieren souverän mit den Ressourcen im Internet, dafür muss man vielen die Arbeit in der Bibliothek erst nahebringen. Viele kennen den Schah und Heinrich Lübke nicht, wie ich gerade in einer Vorlesung erlebt habe. Dafür sind sie viel selbstständiger, als wir es waren.
Aber im Durchschnitt sind doch die Studienanfänger weniger gebildet, wenn heute 40 Prozent eines Jahrgangs ins Studium streben, während es früher nur fünf Prozent waren.
Tenorth: Ach, die Klage über den angeblich dummen Nachwuchs gab es schon, als weniger als ein halbes Prozent des Jahrgangs studieren durfte. 1788 wurde deswegen das Abitur als Zugangsprüfung zur Universität eingeführt. Der Kanzler der Universität Halle beklagte sich damals darüber, dass die Studenten »alle so dumm« seien, unter »Studiersucht« litten, sich aus den falschen Kreisen rekrutierten; man müsse die Universität von ihnen »reinigen«. Später prägte Bismarck den Begriff des »akademischen Proletariats«, das durch die »Überfüllung« der Universitäten entstehe. Und vor knapp hundert Jahren nannte ein Professor die Universität »Wärmehalle der Dummen«.
Aber auch ernst zu nehmende Hochschullehrer zweifeln an der Qualifikation des Nachwuchses.
Tenorth: Richtig. Meine Chemikerkollegen etwa unterziehen die Neuen jeweils einem Mathetest auf Oberstufenniveau – mit katastrophalen Ergebnissen. Aber ein Teil dieser Studenten promoviert später in Chemie. So dumm können die nicht sein.
Bildung ist mehr als Wissen. Die heutigen Studenten sind unpolitischer als ihre Vorgänger.
Tenorth: Da bin ich mir auch nicht sicher. Anfang der sechziger Jahre erschien eine soziologische Studie, unter anderem von Habermas, über das politische Bewusstsein Frankfurter Studenten. Das Ergebnis: Sie seien unpolitisch und schauten nicht über den Tellerrand ihres Fachs. Kurze Zeit später erlebten wir die Studentenrevolte. Das spricht weniger gegen die Studenten als gegen die Soziologie.
Wie erleben Sie denn als Hochschullehrer die heutigen Studenten?
Tenorth: Sie sind wissbegierig, bildungsinteressiert und fleißig. Für ihre Bachelorarbeit über Jugendkultur haben Studenten von mir gerade mehrere Ordner Prozessakten aus den dreißiger Jahren durchgearbeitet. Eine türkischstämmige Studentin hat ihr Praktikum in einer Schule absolviert und dort fünf Wochen lang neben dem Studium Briefe übersetzt, Lehrern und Schülern Türkisch beigebracht und ihr Forschungsthema gefunden. Ich hatte noch nie so viel Spaß bei der Lehre wie heute. In den Vorlesungen stellen die Studenten kluge und respektlose Fragen. Das hätte ich mich früher nie getraut.
Stört Sie nicht die neue Studienstruktur? Die Studenten haben einen strikteren Stundenplan, müssen viele kleine sogenannte Module absolvieren und müssen ständig Prüfungen abgelegen.
Tenorth: Viele Probleme der Bachelorreform entstehen durch ihre fantasielose Umsetzung. Mir gefällt diese neue Struktur. Zu kleine Studieneinheiten haben wir in meinem Fachbereich ebenso vermieden wie zu viele Prüfungen. Aber die Studenten haben jetzt einen besseren Überblick darüber, was von ihnen verlangt wird, sie werden systematisch mit den Grundlagen des Fachs vertraut gemacht und bekommen Rückmeldungen über ihren Leistungsstand. Das amorphe Studium von früher war doch eine Zumutung.
Sie sind ja richtig begeistert von der neuen Studienstruktur.
Tenorth: Ja, aber ich könnte die Geschichte auch ganz anders erzählen: Die Reform hat nachhaltige Konsequenzen für mich. Schauen Sie sich die Stapel in meinem Büro an. Ich habe eine Siebentagewoche. Neun Stunden Lehrverpflichtung sind einfach nicht zu leisten, wenn man die neuen Lehr- und Lernformen ernst nimmt. Sie müssen die Mentoren und Tutoren für die Lehre betreuen, Reader mit der wichtigsten Literatur erstellen, auf studentische Kritik an den Lehrveranstaltungen eingehen. Und dann sollte man als Professor auch noch exzellent forschen, denn nach der Forschungsleistung bemessen sich der Erfolg und die finanzielle Zuweisung. Das ist irre! Man kann nicht verlangen, dass Studenten hierzulande so gut wie in Harvard betreut werden, aber kein Geld dafür investieren.
Was wäre nötig?
Tenorth: Um die Studenten besser zu betreuen muss man entweder mehr Professoren einstellen oder, wie in der Schweiz, mehr Personal, das sich der Lehre widmet. Die deutsche Variante, nichts zu tun, ist unverantwortlich.
Wer trägt die Verantwortung?
Tenorth: Die Wissenschaftsminister und ihre Finanzkollegen. Die wissen offenbar nicht, was sie anrichten.
Die Schuld bei der Politik abzuladen ist billig. Viele Ihrer Kollegen drücken sich vor der Lehre.
Tenorth: Da ist sicherlich noch Luft. Auch an unserer Universität ist die Belastung mit Prüfungen oder der Betreuung von Studenten sehr ungleich verteilt, das Engagement in der Lehre könnte besser sein.
Kann man Professoren nicht zur Lehre zwingen?
Tenorth: Schwerlich, für einen Professor zahlen sich finanziell nur Leistungen in der Forschung aus. Solange es keine leistungsbezogenen Mittel für gute Lehre gibt, wird sich da nichts bewegen. Die Politik muss andere Anreize setzen. Und dafür sehr viel Geld investieren.
Wie kann sich denn ein Professor vor der Lehre drücken?
Tenorth: Auf tausend Wegen. Prüflinge kann man abwimmeln: »Waren Sie bei mir im Hauptseminar? Nein, dann kommen Sie erst noch mal vorbei!« Wer möchte da geprüft werden? Oder die Pflichtlektüre für ein Seminar besteht zur Hälfte aus seltener fremdsprachiger Literatur. Oder man legt ein Seminar auf montags um acht Uhr. Jeder kennt die Tricks.
Zurück zum Studium. Täuscht denn der Eindruck vieler Ihrer Kollegen, dass Studenten früher mehr Zeit für eine umfassende Bildung hatten?
Tenorth: Mehr Zeit, ja, aber mehr Bildung? Da wird die Vergangenheit idealisiert. Auch früher war die Universität zu 80 Prozent eine Ausbildungsstätte für Juristen, Theologen, Lehrer und Mediziner. Der »Humboldtsche Geist«, die Einheit von Forschung und Lehre war immer die Ausnahme. Ein Student hat doch in den Zeiten, die heute verklärt werden, seinen Professor gar nicht zu Gesicht bekommen.
Aber früher hatten die Studenten mehr Freiheit.
Tenorth: Richtig. Das Studium war früher ein Privileg für wenige, heute besteht scharfe Konkurrenz unter vielen. Die relativ freie und von Wettbewerb entlastete Phase zwischen dem stark geregelten Schulleben und den Zwängen des Berufs fehlt, nicht selten auch die Phase der Loslösung vom Elternhaus. Da ging es um jugendkulturelle Geselligkeit. Das hat aber nichts mit Humboldt zu tun. Humboldts Ideal bestand ja nicht in der Bildung durch Freizeit, sondern im Durchdringen eines Studienfachs, in der distanzierten Reflexion darüber.
Aber so eine freie Phase ist doch wichtig.
Tenorth: Sicher. Ich ermuntere meine Studenten auch alle, zu Hause auszuziehen. Für mich gehört das zum Studium dazu. Vielen ist das aus Geldmangel nicht möglich. Wir brauchen dringend ein Stipendiensystem, das die Studenten von ihren Eltern unabhängig macht.
Die neuen Studiengänge sollen die Studenten »berufsfähig« machen. Muss denn alles dem ökonomischen Kalkül folgen?
Tenorth: Ich habe noch keinen Kritiker der neuen Studiengänge kennengelernt, dem es im Studium nur um seine intellektuelle Qualifikation ging. Die wollten doch auch alle eine Stelle haben, nämlich Professor werden. Die Studenten haben ein Recht auf ein marktkonformes Zertifikat!
Ist vielleicht nicht der Bachelor das Problem, sondern die Karrierefixierung vieler Studenten?
Tenorth: Auch da wird die Vergangenheit verklärt. 1968 sind doch nicht die BWLer auf die Straße gegangen. Die haben nur ihre Schlipse abgelegt, weil sie in der Mensa nicht angepöbelt werden wollten. Der studentische Protest war die Veranstaltung einer lautstarken Minderheit. Viele von ihnen haben danach als Lehrer oder Professoren im Staatsdienst Karriere gemacht und sind heute die Kritiker der Karriereorientierung.
Interview: Thomas Kerstan und Martin Spiewak
Zuerst erschienen in der Wochenzeitung DIE ZEIT, Nr. 18/2009 (Externer Link: www.zeit.de/2009/18/C-Tenorth)