Früher war alles anders. Auch Universitäten sind nicht mehr das, was sie einmal waren oder sein wollten: Kaderschmieden für bessere Kreise, die zwei oder vier Prozent eines Altersjahrgangs das Rüstzeug für "höhere Berufe" und sozialen Schliff vermittelten, und zugleich akademische Lehranstalten, deren Professoren, vom Staat alimentiert und beschützt, große Freiheiten und hohes Ansehen genossen. Aufgaben und Gestalt von Hochschulen haben sich massiv verändert – ob zum Guten oder zum Schlechten, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Klagen über den Niedergang der "Alma Mater" gehören zum festen Repertoire hochschulpolitischer Debatten, genauso wie das Dringen auf Reformen und der Verweis darauf, wie unverzichtbar Hochschulen für unser aller Wohlergehen geworden sind.
Ob man der guten alten Zeit nachtrauert oder die neue Vielfalt feiert, bleibt eine Frage persönlicher politischer Präferenzen. Unstrittig ist indes: Zusammen mit der enormen Expansion der Hochschulbildung haben sich Funktion und Form des Hochschulwesens tiefgreifend verändert. Ein Ende dieses Prozesses ist nicht absehbar, ständiger Wandel gefragt. Seit Mitte der 1990er Jahre vollzieht er sich nach neuen politischen Spielregeln. Für die Finanzierung und Steuerung seiner Hochschulen setzt der Staat seither weniger auf ministerielle Vorgaben und bürokratische Regeln, sondern vor allem auf Wettbewerb, Leistungsanreize und Eigenverantwortung. Vom administrativen "Gängelband" befreit sollen Hochschulen selber ihren Kurs finden, sich mit anderen messen, ihre Leistungen unter Beweis stellen, ein jeweils eigenes Profil entwickeln und selbständig Mittel einwerben. Wettbewerb, so das oft bemühte Argument, wirke leistungssteigernd, schärfe das Kosten- und Qualitätsbewusstsein und führe zu besseren "Produkten" in Lehre und Forschung. Vom Wettbewerb verspricht man sich angesichts erheblich gestiegener staatlicher Mittel für die Hochschulen wahre Wunder: mehr Masse und mehr Klasse, immer mehr und immer besser qualifizierte Absolventen, Innovationsimpulse und internationale Spitzenforschung, vor allem auch einen besseren Einsatz der Mittel und mehr Effizienz.
Statt in einer eigenen, kleinen und feinen Welt den Befindlichkeiten ihrer Klientel nachgehen zu können, wie das noch vor fünfzig Jahren der Fall war, stehen Hochschulen heute in der Mitte der Gesellschaft. Aus staatlich gelenkten und geschützten Anstalten sind Unternehmen geworden, die sich auf dem Markt der Möglichkeiten positionieren und mit den Leistungsanforderungen und Erwartungen verschiedener Interessengruppen aktiv auseinandersetzen müssen.
1960er bis heute: Studieren ist nicht mehr die Ausnahme, sondern Normalität
Schon ein kurzer Blick auf die Zahlen macht Tempo und Tragweite der Veränderungen deutlich: 1960 hatten die damals 33 Universitäten, 52 Pädagogischen Hochschulen und 41 sonstigen Hochschulen der alten Bundesrepublik (Fachhochschulen gibt es erst seit 1970) 300.000 Studierende, was knapp vier Prozent der 18- bis 22-jährigen Bevölkerung entsprach. 1980 zählte man bereits eine Million Studierende (10 Prozent eines Altersjahrgangs) an den 230 westdeutschen Hochschulen, 2000 waren es dann 1,8 Millionen an 350 Hochschulen in ganz Deutschland. Heute haben wir 2,5 Millionen Studierende an 427 Hochschulen (108 Universitäten und 215 Fachhochschulen).
Noch eindrucksvoller ist die jüngste, durch die doppelten Abiturjahrgänge zusätzlich beschleunigte Entwicklung der Studienanfängerzahlen und Studierquoten: 2008 hatten sich die Regierungschefs von Bund und Ländern auf ihrem "Bildungsgipfel" in Dresden auf eine mittelfristige Zielmarke von 40 Prozent Studienanfänger pro Altersjahrgang verständigt. Tatsächlich waren es drei Jahre später schon fast 51 Prozent. Mehr als die Hälfte aller 18- bis 22-jährigen in Deutschland lebenden Menschen beginnt heute ein Hochschulstudium. Immer mehr von ihnen, inzwischen sind es etwas über 38 Prozent, besuchen eine Fachhochschule. 2005 lag allein die Zahl der Studienanfänger um 20 Prozent höher als die aller Studierenden im Jahr 1960. Im Jahr 2011 gab es, vor allem wegen der doppelten Abiturjahrgänge, sogar 73 Prozent mehr Studienanfänger als es 1960 Studierende gab. Diese Zahlen machen deutlich: Studieren ist zur Norm, zum Regelfall geworden. Dafür gibt es viele gute Gründe – einerseits wirtschaftliche wie die wachsende Bedeutung wissensintensiver Wirtschaftssektoren im globalen Wettbewerb und andererseits soziale wie den Wunsch nach beruflichem Aufstieg und gesellschaftlicher Teilhabe. Seine frühere Exklusivität, die stets auch einen höheren sozialen Status signalisierte, hat das Studium weitgehend verloren. Auch die alte „Burschenherrlichkeit“ hat ausgedient, denn seit kurzem sind knapp die Hälfte aller Studienanfänger und etwas mehr als die Hälfte der Hochschulabsolventen weiblichen Geschlechts.
Zwar haben Hochschulabsolventen noch immer weitaus bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als geringer qualifizierte Personen. Doch eine Garantie für einen interessanten, gut bezahlten und sicheren Job bietet ein Studienabschluss nur noch in ganz wenigen Fachrichtungen, etwa der Medizin. Absolventen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge hingegen müssen zur Stellensuche beste Examensnoten, Zusatzqualifikationen und Praktika mitbringen und sich in großer Flexibilität, Geduld und Kompromissbereitschaft üben. Nicht wenige durchlaufen auf der Suche nach einer festen Anstellung ein Praktikum nach dem nächsten. Längst ist von einer "Generation Praktikum" die Rede.
Frisst die Hochschulexpansion ihre Kinder? Nicht ganz. Doch auf dem Arbeitsmarkt haben es diese nicht mehr so leicht wie Generationen früherer "Akademiker". Bis in die 1970er Jahre hinein landeten mehr als zwei Drittel der Hochschulabsolventen als Lehrer, Verwaltungsjuristen, Richter, Wissenschaftler, Mediziner oder Ingenieure als Beamte direkt im Staatsdienst oder als Angestellte bei öffentlichen Betrieben. Wer sich nicht völlig dumm anstellte, hatte bei Studienbeginn seine Anstellung in der Tasche, kannte seine Eingruppierung und Laufbahnaussichten. Märchenhaft oder nicht – diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei. Heute sind Wendigkeit und Selbstvermarktungsfähigkeiten gefragt, Laufbahndenken ist out. Was ein Abschluss auf dem Arbeitsmarkt wert ist, ist vor Studienbeginn kaum absehbar: Allerdings wird dadurch auch die traditionelle, für Deutschland typische Engführung zwischen Studienfach und Studienabschluss einerseits und einem damit unmittelbar zusammenhängenden Berufsfeld andererseits problematisch. Studium und Beruf werden mehr und mehr entkoppelt, Übergänge holpriger und riskanter. In Ländern wie den USA oder Großbritannien ist das nicht Neues, sondern schon lange so: Absolventen einer guten Universität konnten und können dort Investmentbanker oder Unternehmensberater werden, obwohl sie nicht Betriebswirtschaft, Jura oder Ingenieurwesen, sondern Klassische Philologie oder Kunstgeschichte studiert hatten. In Deutschland dagegen war und ist so etwas mehr als unüblich; hier bedeutete die Wahl eines Studienfaches im Grunde immer auch die eines bestimmten Berufes. Dass diese Verbindung zunehmend brüchig wird, stellt die deutsche Hochschulausbildung vor große Herausforderungen.
Keine getrennten Welten mehr: Fachhochschulen und Universitäten
Mit der wachsenden Zahl von Studierenden und Hochschulen (durch Neugründungen und die Aufwertung ehemaliger Fachschulen zu Fachhochschulen) ging eine rasche Differenzierung von Einrichtungen und Studienangeboten einher. Als 1970 die ersten Fachhochschulen das Licht der Welt erblickten, war das Einheitsmodell der deutschen Universität passé. Als "Lehrhochschulen" sollten sie dreijährige, anwendungsorientierte, möglichst auf das regionale Umfeld bezogene Studiengänge anbieten. Forschungs- und Entwicklungsaufgaben durften sie, wenn überhaupt, dann nur in kleinem Maßstab wahrnehmen, vorzugsweise in enger Abstimmung mit kleinen und mittleren Unternehmen aus der Region. Doch die strikte Trennung von Universitäten und Fachhochschulen erwies sich recht bald als wenig alltagstauglich. Wiederholten Regulierungsversuchen zum Trotz überlappten sich Aufgaben und Arbeitsweisen der beiden Hochschultypen immer öfter, wurden die Grenze zwischen ihnen immer poröser und beide einander immer ähnlicher. Mit der Einführung eines zweistufigen Studiensystems im Zuge des Bologna-Prozesses war es dann endgültig vorbei mit der klaren Unterscheidung zweier Welten im deutschen Hochschulsystem. Viele Fachhochschulen legten das "Fach" in ihrem Namen ab, heißen nun "University of Applied Sciences", führen Master-Studiengänge, betreiben kooperative Promotionen zusammen mit einer Universität und fordern ein eigenes Promotionsrecht. Kritiker dieser Entwicklung befürchten, damit würden sie aus reinem Prestigestreben ihr besonderes Markenzeichen verspielen. Doch angesichts der von der Politik angemahnten "Beschäftigungsfähigkeit" von Absolventen bewegen sich auch die Universitäten zusehends in Richtung einer stärkeren "Verberuflichung" von Bachelor- und Masterstudiengängen und damit wiederum in Richtung der Fachhochschulen.
Die "Währung" des Wettbewerbs: Forschung, nicht die Qualität der Lehre?
Kein Wunder, dass der "Hochschulkompass" der Hochschulrektorenkonferenz, der über Studienmöglichkeiten, Studienangebote und Studienorte informiert, Jahr um Jahr dicker wird. Inzwischen weist er 16.000 Studiengänge an deutschen Hochschulen aus – wohlgemerkt ohne Graduiertenstudien und Promotionen. "Produktdifferenzierung" ist eine beliebte Wettbewerbsstrategie. Doch hier werden deren Nebeneffekte offensichtlich: ein Wildwuchs an immer spezielleren Studienangeboten, Nischenprodukten und Qualifikationsversprechen, häufig mangelnde Transparenz und geringe Erwartungssicherheit.
Dabei hat der Wettbewerb die Lehre noch gar nicht richtig erreicht. Natürlich gibt es Studienorte und Studiengänge, die attraktiver und für Studienbewerber daher schwerer zu erreichen sind als andere, weniger begehrte. Während aber in der Forschung die von Förderorganisationen, Stiftungen oder der Wirtschaft eingeworbenen "Drittmittel" für Forschungsprojekte, Veröffentlichungen und verliehene Preise schon lange als Indikatoren für die Qualität und Leistungen einer Hochschule, eines Faches oder einzelner Wissenschaftler anerkannt sind, fehlen entsprechende Möglichkeiten für Leistungsmessungen und Qualitätsvergleiche in Lehre und Studium. Dass nicht alle deutschen Universitäten in allen Bereichen gleich gut sind, wie es die Politik vor 20 Jahren noch standhaft glaubhaft machen wollte, ist keine Frage mehr, allerdings nur insoweit, wie es die Forschung betrifft: Die Daten im "Förderatlas" der Deutschen Forschungsgemeinschaft belegen eindeutig, dass es in Deutschland etwa 20 besonders forschungsstarke Universitäten gibt. Sie zeigen aber auch, dass an fast doppelt so vielen Universitäten Forschung kaum eine Rolle spielt. Die "Exzellenzinitiative" hat diese Unterschiede seit 2006 nochmals deutlicher werden lassen und in aufwendigen Begutachtungsverfahren offiziell attestiert. Vergleichbare Möglichkeiten, mit der Qualität der Lehre zu punkten, haben deutsche Hochschulen bisher nicht. Hochschulrankings sind allenfalls ein Placebo: Für die Ermittlung der „Spitzenuniversitäten“ in den viel beachteten internationalen Rankings zählen ohnehin nur Forschungsleistungen. In die Rankings von Studienangeboten wiederum fließen lediglich sogenannte Input-Faktoren wie etwa die Ressourcenausstattung des Faches oder Qualitätsurteile von Studierenden und Dozenten ein, während die Qualität der Lehre und des Produktes – also der Absolventen – die große Unbekannte bleibt. Lehrevaluationen sagen zwar etwas über die wahrgenommene Qualität der Darbietung des Dozenten; ob die Lehre – das Seminar, die Vorlesung – aber wirklich gut war in dem Sinne, dass sie bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt hat, ist kaum zu beurteilen. Denn das hängt nicht allein von der Person des Dozenten und der jeweiligen Zusammensetzung der Gruppe ab, sondern auch vom Curriculum insgesamt. Daher können solche Rankings zwar dabei helfen, Unsicherheiten zu reduzieren und die Unübersichtlichkeit im Dschungel der Hochschulen und Studienfächer ein wenig zu lichten. Verlässliche Qualitätsurteile liefern sie jedoch nicht. Eine vollkommene Markttransparenz, die wohl begründete Studienwahlentscheidungen erlaubt, wird es vermutlich lange nicht geben, wenn überhaupt jemals.