"Der Grad der Heterogenität in deutschen Schulklassen wird in den kommenden Jahren zunehmen". In der Löwenklasse herrscht ein geschäftiges Treiben. Ben schreibt fleißig seinen Tagesablauf ins Deutschheft. Der Siebenjährige bekommt gar nicht mit, was um ihn herum passiert. Rüveyda und Julia sitzen in der hinteren Ecke des Klassenzimmers. Hier haben die beiden Drittklässlerinnen genug Platz, um das neue Mathespiel auszuprobieren. Währenddessen setzt sich Frau Weinbrecht zu Jakob, der einen Förderbedarf im Bereich Lernen hat. Die Lehrerin bespricht mit ihm noch einmal in aller Ruhe, was er beim Arbeitsblatt beachten muss. In der Zwischenzeit geht Herr Wendel von Tisch zu Tisch und beantwortet geduldig die Fragen der Schülerinnen und Schüler. Nach zwei Schulstunden endet die selbstständige Arbeit am Wochenplan. Die Kinder packen ihre Sachen zusammen und machen sich auf den Weg zum Musikraum.
Heterogenität im Klassenzimmer – ein Modethema der Bildungspolitik
In der Löwenklasse werden rund zwanzig Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur dritten Klasse gemeinsam unterrichtet. Manche der Kinder sind bereits acht Jahre alt, andere Kinder haben gerade erst ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Die Kinder der Löwenklasse unterscheiden sich jedoch nicht nur in ihrem Alter, sondern auch in vielen anderen Merkmalen, beispielsweise in ihrem Geschlecht, ihrer Religion, ihrer ethnischen und sozialen Herkunft, ihrem Förderbedarf und ihrem Körpergewicht. Dabei ist die Löwenklasse keine besondere Lerngruppe. In jeder Schulklasse unterscheiden sich die Kinder in Bezug auf bestimmte Merkmale, wenn auch nicht immer dieselben. Darüber hinaus wird der Grad der
Vor diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren auf bildungspolitischer Ebene verstärkt gefordert, die Heterogenität der Lerngruppe im schulischen Alltag stärker zu berücksichtigen. Diese Forderung steht im Einklang mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die belegen, dass Merkmale wie die oben genannten auf unterschiedliche Art und Weise den schulischen Erfolg und Werdegang von Kindern beeinflussen. So besuchen beispielsweise Kinder aus Arbeiterfamilien (selbst bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und Lesekompetenzen) mit deutlich geringer Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium als Kinder aus Akademikerhaushalten; Jugendliche mit Migrationshintergrund schneiden in Schulleistungsstudien wie PISA schlechter ab und verlassen die Schule deutlich häufiger ohne Schulabschluss als ihre deutschen Altersgenossen; Jungen machen seltener Abitur und werden weit häufiger auf eine Förderschule überwiesen als Mädchen. Eine Studie von Helbig und Jähnen (2013) kam jüngst sogar zu dem Ergebnis, dass fettleibige Kinder schlechtere Mathematiknoten erhalten als normalgewichtige.
Forschungsbefunde wie diese machen deutlich, dass es im deutschen Schulsystem nicht ausreichend gelingt, Kinder nach ihren individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen zu fördern. Ein wesentlicher Grund dafür scheint zu sein, dass Lehrkräfte in ihrer Ausbildung auf die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen nicht ausreichend vorbereitet werden. In einer Umfrage von Monitor Lehrerbildung
Welche Merkmale der Schülerinnen und Schüler sind besonders relevant?
Aber was genau bedeutet es für den Unterricht, auf die Heterogenität der Lerngruppe einzugehen? Müssen Lehrkräfte in der Unterrichtsgestaltung nun auch die Augenfarbe und die Schuhgröße der Kinder bedenken? Selbstverständlich ist es weder möglich noch notwendig, dass Lehrkräfte alle erdenklichen Merkmale der Schülerinnen und Schüler beachten. Vielmehr sollten die Lehrkräfte in ihrer Ausbildung gezielt mit ganz bestimmten Merkmalen vertraut gemacht werden. Aber mit welchen? Hier ist es hilfreich, sich zwei zentrale Aufgaben der Schule vor Augen zu führen, die in jedem Schulgesetz an prominenter Stelle stehen: Alle Schülerinnen und Schüler sollen im Unterricht bestmöglich gefördert und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden. Legt man diese im Prinzip unstrittigen Ziele zugrunde, lassen sich die zu beachtenden Merkmale in folgende drei Gruppen einteilen:
Einige Merkmale beeinflussen direkt, wie und in welchem Tempo sich Schülerinnen und Schüler Wissen und Fähigkeiten aneignen können. Darunter fallen etwa Vorkenntnisse, Intelligenz und Motivation. Wenn Lehrkräfte diese individuellen Voraussetzungen der einzelnen Kinder und Jugendlichen in der Unterrichtsgestaltung berücksichtigen, statt sich am durchschnittlichen Leistungsniveau der Klasse zu orientieren, können sie leistungsstarke wie leistungsschwache Schülerinnen und Schüler besser fördern.
Zu anderen Merkmalen existieren stereotype Vorstellungen über das Lernverhalten und Leistungsvermögen. Dies trifft etwa auf das Körpergewicht oder die ethnische Herkunft eines Schülers zu. So zeigte die Volkswirtschaftlerin Maresa Sprietsma, dass Lehrkräfte nicht selten stereotype Vorstellungen über das Leistungsvermögen von Schülerinnen und Schülern mit türkischem Migrationshintergrund haben: Im Rahmen eines Experiments sollten Lehrkräfte Essays von Schülerinnen und Schülern bewerten. Einige erhielten einen Essay von einem Schüler mit deutschem Namen. Anderen Lehrkräften wurde der gleiche Essay vorgelegt, jedoch stand ein türkischer Name auf dem Titelblatt. Obwohl die Leistungen sich nicht unterschieden, bekamen Schülerinnen und Schüler mit türkischem Namen schlechtere Noten (vgl. Sprietsma 2009). Es lässt sich daher festhalten, dass im schulischen Alltag auch Merkmale berücksichtigt werden müssen, die mit dem Leistungsvermögen auf den ersten Blick nichts zu tun haben.
Schließlich sind Merkmale zu nennen, die von vielen als abweichend von der gesellschaftlichen Norm angesehen werden, beispielsweise
Interner Link: Homosexualität oder eine körperliche Beeinträchtigung. Die Soziologin Melanie Bittner (2011: 48) analysierte dazu Englischbücher und stellte fest, dass homosexuelle Personen in den von ihr untersuchten Schulbüchern nicht auftauchten. Den Schülerinnen und Schülern wird so der Eindruck vermittelt, dass Heterosexualität die Norm sei und andere Formen von sexueller Orientierung davon abweichen. Auch diese Merkmale müssen mitgedacht werden, da sie entscheidend für das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler sind
Heterogenität: Welches Handwerkszeug brauchen Lehrkräfte?
Keine Frage: Die Berücksichtigung derartiger Merkmale im schulischen Alltag ist sehr voraussetzungsvoll und setzt auf Seiten der Lehrkräften eine ganze Reihe von Fähigkeiten voraus – oder in der Sprache der Bildungsforschung: Kompetenzen. Zur Erklärung des Kompetenzbegriffs wird oft auf die Definition des Psychologen und Lernforschers Franz E. Weinerts zurückgegriffen und auch hier ist es hilfreich, sich seine berühmt gewordene Definition zu vergegenwärtigen.
Kompetenzbegriff nach Franz E. Weinert
Kompetenzen sind "die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortlich nutzen zu können".
Quelle: Weinert 2001, S. 27 f.
Nach Weinert haben Kompetenzen mehrere Aspekte, nämlich Fähigkeiten und Fertigkeiten (was auch Wissen einschließt) und Einstellungen. Diese Unterscheidung lässt sich ohne Weiteres auf die Ausbildung der Lehrkräfte übertragen: Lehrkräfte müssen nicht nur über bestimmte Kenntnisse verfügen, etwa als Mathelehrerin oder Mathelehrer über mathematisches Fachwissen. Sie müssen auch Fertigkeiten erwerben, wie die Fähigkeit eine Unterrichtsstunde zu gestalten und durchzuführen. Diese Fähigkeiten sind wiederum eng verbunden mit Einstellungen, beispielsweise der Wertschätzung von Schülerinnen und Schüler. Denn Einstellungen beeinflussen, wie eine Lehrkraft eine bestimmte Situation, beispielsweise ein Schüler stört den Unterricht, wahrnimmt und bewertet.
Allerdings können nicht alle Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen, die mit Blick auf den Umgang mit Heterogenität wünschenswert sind, tatsächlich während der Lehrerausbildung erworben werden. Beispielsweise lassen sich bereits bestehende individuelle Überzeugungen durch das Lehramtsstudium nur schwer verändern. Andere Fähigkeiten setzen eine langjährige Praxis voraus. Außerdem muss und kann nicht jede Einzelperson über alle notwendigen Kompetenzen verfügen. Stattdessen sollte man sich das Bild eines Lehrerzimmers vor Augen führen, in dem Expertinnen und Experten zu verschiedenen Themen gemeinsam zusammensitzen und sich gegenseitig bei fachlichen, didaktischen und pädagogischen Fragen unterstützen.
Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen für den Unterricht im bunten Klassenzimmer
Kompetenzen schließen also Kenntnisse und Fertigkeiten ein, die mit bestimmten Einstellungen eng verknüpft sind. Doch welche konkreten Fähigkeiten sollen Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Ausbildung erwerben, damit sie den Unterricht in heterogenen Gruppen erfolgreich meistern? Um diese Frage zu beantworten, habe ich im Rahmen eines Forschungsprojekts wissenschaftliche Literatur ausgewertet und Gespräche mit Expertinnen und Experten aus der Lehrerbildung geführt. Einige Ergebnisse stelle ich nachfolgend kurz vor (für eine ausführliche Darstellung siehe Piezunka 2012).
Wissen und Fertigkeiten vermitteln
Die Ausbildung sollte vor allem Wissen über einzelne Merkmale vermitteln, die eng mit dem Schulerfolg oder dem Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler zusammenhängen. Um beispielsweise auf die jeweilige Religion besser eingehen zu können, hilft Wissen über die Traditionen und Regeln der verschiedenen Religionen. Auch Wissen über gesellschaftliche Strukturen ist unentbehrlich. In Bezug auf die ethnische Herkunft liegt es nahe, sich im Studium mit den Lebensverläufen von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in Deutschland zu beschäftigen und sich mit den damit verbundenen Bildungsungleichheiten sowie deren Ursachen auseinanderzusetzen. Wie bereits angedeutet, reicht jedoch Wissen allein nicht aus. Man benötigt auch die Fertigkeit und Bereitschaft dieses Wissen in der Praxis zu nutzen. Um beim Beispiel Religion zu bleiben, könnte man verschiedene religiöse Feiertage auch in die Schuljahresplanung einbauen. Damit eine Lehrkraft im Alltag auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen eingehen kann, muss sie beispielsweise in ihrer Ausbildung gelernt haben, auf Basis alternativer Aufgabenformen ein individuell angepasstes Lernangebot zu konzipieren und umzusetzen.
Wichtig sind weiterhin Kenntnisse über diagnostische Verfahren und deren Anwendung sowie die Fähigkeit, sie für die Unterrichtsentwicklung sinnvoll zu nutzen. Denn mit diesen Diagnoseverfahren können Lehrkräfte den Leistungsstand eines Schülers überprüfen und Wissenslücken identifizieren, aber auch seine individuellen Interessen ermitteln. Auf dieser Grundlage können Förderpläne erstellt werden, die die individuellen Lernziele und Entwicklungspotenziale festhalten. Schließlich benötigen Lehrkräfte für den Unterricht in heterogenen Lerngruppen spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich der Unterrichtsgestaltung. Von besonderer Bedeutung sind hier Unterrichtsmethoden und Lernarrangements, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, nach ihrem individuellen Tempo zu arbeiten und dabei unterschiedliche Herangehensweisen zu wählen. Im Fall der Löwenklasse haben die Schülerinnen und Schüler täglich zwei Schulstunden Zeit, um selbstständig an ihrem Wochenplan zu arbeiten.
Zudem müssen Lehrinnen und Lehrer darin geschult werden, die Klasse als eine Gruppe von Individuen im Blick zu haben und die Identität eines Schülers nicht pauschal auf ein Merkmal zu reduzieren, etwa ein Kind im Rollstuhl vor allem als "behindertes" Kind wahrzunehmen. Auch Rüveyda aus der Löwenklasse ist nicht nur ein Mädchen, sie ist gleichzeitig Drittklässlerin, hat einen Migrationshintergrund und ist noch vieles mehr. Verschiedene Merkmale sind hier individuell miteinander verschränkt und es kommt unter anderem auf Rüveydas eigene Wahrnehmung an, welche Bedeutung bestimmten Merkmalen zugemessen werden soll. Wohlgemerkt: Nur wenige Lehrkräfte unterrichten unter den verhältnismäßig günstigen Bedingungen der Löwenklasse, wo auf nur 20 Schülerinnen und Schüler zwei Lehrkräfte kommen. Bei den in der Regel deutlich höheren Schüler-Lehrer-Relationen wird es selbst für erfahrene Lehrkräfte zu einer echten Herausforderung die einzelnen Schülerinnen und Schüler als individuelle Lerner wahrzunehmen. Daher ist auch die Personalausstattung an Schulen in diesem Zusammenhang ein nicht zu vernachlässigender Gesichtspunkt.
Wie gesagt, all diese Kenntnisse und Fähigkeiten lassen sich im Studium allein nicht erlernen. Ebenso wichtig ist die Praxiserfahrung und deren Reflektion. Im Referendariat beispielsweise können junge Lehrkräfte die im Studium erlernten Methoden anwenden, sich mit Mentorinnen und Mentoren oder anderen Lehrkräften austauschen und so weitere Fertigkeiten erwerben beziehungsweise die bereits angeeigneten ausbauen.
Einstellungen kultivieren
Und welche Einstellungen sind für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen relevant? In erster Linie natürlich die Bereitschaft mit Verschiedenheit verständnisvoll umzugehen und diese im Unterricht und im Schulleben mitzudenken. Dies kann die Organisation des Schulfests betreffen, die Kooperation mit außerschulischen Organisationen oder die Formulierung des Schulprogramms.
Ferner hilft die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen und Werten, um das eigene Verhalten – womöglich auch eigene Vorurteile – im schulischen Alltag kritisch reflektieren zu können. Hierfür könnten in der Ausbildung verstärkt sogenannte Anti-Bias-Workshops eingesetzt werden, um angehende Lehrkräfte für unterschiedliche – vor allem auch subtile – Formen der Diskriminierung zu sensibilisieren. Sie lernen so, die eigenen Wahrnehmungsmuster und Stereotype in Bezug auf bestimmte Merkmale zu hinterfragen.
Nicht zuletzt machen es heterogene Lerngruppen erforderlich, dass Lehrkräfte kooperieren. Wie oben bereits dargestellt, können einzelne Lehrkräfte kaum über alle notwendigen Kompetenzen für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen verfügen. Gerade bei der Arbeit in multiprofessionellen Teams, in denen neben Lehrkräften auch Sonderpädagogen, Sozialarbeiter, Schulpsychologen und anderes Personal vertreten sind, bedarf es der Fähigkeit, eigene Grenzen anzuerkennen, um Hilfe von Kolleginnen und Kollegen annehmen zu können. Dazu gehört auch, Lösungen für Herausforderungen im schulischen Alltag gemeinsam zu erarbeiten sowie im Team aufkommende Konflikte zu bewältigen.
Viele Hochschulen haben begonnen, das Thema Heterogenität stärker in die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer einzubeziehen. Ebenso hat sich in der Weiterbildung von Lehrkräften in den letzten Jahren einiges verändert. Die systematische Verankerung von Heterogenitätskompetenzen in der Lehrerausbildung steht jedoch an vielen Hochschulen noch am Anfang und es wird – das haben Lehrerbildungsreformen an sich – einige Jahre dauern, bis die eingeleiteten Veränderungen in der Schule vollständig angekommen sind. Im Übrigen ist der Umgang mit Heterogenität nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch in der Lehrerausbildung selbst relevant. Daher lohnt sich auch ein Blick in die Hörsäle: Inwiefern achten eigentlich die Hochschulverwaltung, die Lehrenden, die Kommilitonen und viele andere auf die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen von zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern?