"Nichts geht ohne Nachhilfe" ist einer der zahlreichen Artikel überschrieben, die sich in deutschen Zeitungen und Zeitschriften in den letzten Jahren mit der für das Schülerdasein mittlerweile "normalen" Nachhilfe befassen. Muss man sich da nicht fragen, ob Deutschlands Schulen ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag noch erfüllen? Ist es um die Qualität des schulischen Lehrens und Lernens so schlecht bestellt, dass Nachhilfe als zusätzliche Lerngelegenheit nötig ist, um in der Schule überhaupt noch mitzukommen? Kurz: Ohne Nachhilfe keine Schule? Was international unter dem Schlagwort "shadow education" Furore macht (Bray 2007), fristet weltweit und auch in Deutschland längst kein „Schattendasein“ mehr: die jenseits von der "Hausaufgabenhilfe am Küchentisch" privat bezahlte und organisierte Förderung in Mathematik, Deutsch, Englisch und anderen Fächern. Das Sprachspiel mit Schatten und Licht verweist auf die eingangs polemisch angesprochene, bildungs- und gesellschaftspolitisch aber hoch relevante gegenseitige Abhängigkeit von schulischem Unterricht und Nachhilfe. Im "Dunklen" wird Nachhilfe auch deshalb verortet, weil sie pädagogisch wie ökonomisch als wenig erforscht gilt. Hinsichtlich ungleicher Bildungschancen rückt sie zunehmend in den Blick der Öffentlichkeit. Was aber ist "Nachhilfe"? Warum und mit welchem Nutzen wird sie in Deutschland in Anspruch genommen? Diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen.
Shadow Education? Private Nachhilfe und das öffentliche Schulsystem
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20 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland nehmen Nachhilfeunterricht. Wenn dabei wohl nicht von einem neuerlichen Boom infolge eines medial aufbereiteten mangelhaften Schulwesens die Rede sein kann, so ist der Anteil doch bedeutend. Neben Schülern, Studenten und (pensionierten) Lehrern bieten seit vielen Jahren große Unternehmen Nachhilfe an. Zwar scheint sie individuelle Lerndefizite beheben zu helfen. Doch fordert sie auch gesellschaftspolitische Diskussionen heraus: Erfüllt die Schule ihren Bildungsauftrag? Oder verstärkt die private Nachhilfe Bildungsungleichheiten?
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- Schlagzeilen zu "Nachhilfe"
- Was ist Nachhilfe und seit wann gibt es sie?
- Wer nimmt in Deutschland Nachhilfe in Anspruch und in welchen Fächern?
- Wie viel Geld wird für Nachhilfe in Deutschland aufgewendet und wer sind die Anbieter?
- Warum nehmen Eltern für ihre Kinder Nachhilfe in Anspruch?
- Wie verbreitet ist Nachhilfe weltweit?
- Trägt Nachhilfe zu einer weiteren "Ökonomisierung" von Bildung und der Verschärfung von Bildungsungleichheit bei?
Was ist Nachhilfe und seit wann gibt es sie?
Nachhilfe ist Teil der non-formalen Bildung und umfasst verschiedene Formen der institutionalisierten Lernförderung und Unterstützung außerhalb des regulären Unterrichts und meist auch außerhalb der Schule. Sie kann Hausaufgabenbetreuung ebenso einschließen wie die gezielte Vorbereitung auf eine Klassenarbeit, auf Leistungstests oder Abschlussprüfungen. Bei dieser ergänzenden Gelegenheit des Lernens sollen Schülerinnen und Schüler versäumten oder nicht hinreichend verstandenen Unterrichtsstoff üben, wiederholen oder aber "richtig" erlernen und sich grundlegende Lern- und Arbeitstechniken aneignen. Die Schülerinnen und Schüler sollen so ihre Leistung im jeweiligen Schulfach steigern und dadurch bessere Noten, bessere Zeugnisse, Versetzungen oder den Übergang an eine prestigeträchtige weiterführende Schule beziehungsweise in eine berufliche Ausbildung erreichen.
Dabei ist Nachhilfe keine neue Erscheinung. Seit sich Mitte des 19. Jahrhunderts das öffentliche höhere Schulwesen ausweitete, war Nachhilfe ein verbreitetes und anerkanntes Phänomen. Sie war sogar der Schulaufsicht unterstellt oder wurde mit Genehmigung des Schulleiters vom Klassenlehrer beziehungsweise von Lehrern der eigenen Schule erteilt. Die Mehrheit der Schülerschaft an höheren Schulen Preußens nahm Anfang des 20. Jahrhunderts Nachhilfe in Anspruch. Diese Praxis breitete sich seit den 1960er Jahren mit dem Anwachsen des gesamten Sekundarschulwesens und seinen verschiedenen Schulformen weiter aus. Bildung, besonders Bildung an einer (Fach-)Hochschule, die meist einen Gymnasialbesuch voraussetzte, wurde für viele Bevölkerungsschichten zunehmend wichtiger. Deshalb wurde Nachhilfe stärker nachgefragt, woraufhin sich auch ein gewerblicher Sektor mit überregionalen Anbietern etablierte.
Wer nimmt in Deutschland Nachhilfe in Anspruch und in welchen Fächern?
Genaue Zahlen über den Umfang und das Ausmaß von Nachhilfe sind schwer zu ermitteln. Laut dem Bildungsbericht 2012 nahmen in Deutschland insgesamt 21,3 Prozent der 13- bis 18-Jährigen außerschulische Nachhilfe in Anspruch (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2012). Andere Studien weisen Nachhilfequoten zwischen unter 20 und über 30 Prozent aus. Fakt ist: Schüler aller weiterführenden Schulformen (Haupt-, Real-, Gesamtschule, Gymnasium) nutzen Nachhilfe. Aber auch im Grundschulbereich besuchen immerhin ca. 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler den ergänzenden Unterricht. In der Regel wird Nachhilfe für 90 Minuten pro Fach und Woche über einen Zeitraum von sechs bis neun Monaten erteilt (vgl. Koinzer, 2011).
Unterschiede finden sich eher in der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe nutzen: Kommen sie aus Haushalten mit mittleren und höheren Bildungsabschlüssen der Eltern und/oder höherem Einkommen, ist es wahrscheinlicher, dass sie Nachhilfe nehmen. Auch wenn man die Bundesländer vergleicht, unterscheiden sich die Nachhilfequoten teilweise beträchtlich. Am häufigsten wird in Mathematik Nachhilfe erteilt, gefolgt von Englisch und Deutsch, Französisch, den Naturwissenschaften und Latein. Mädchen erhalten in der Sekundarstufe etwas mehr Mathematiknachhilfe als Jungen. Ansonsten wird Nachhilfe von Mädchen und Jungen gleichermaßen oft und in den gleichen Fächern nachgefragt (vgl. Koinzer, 2011).
Wie viel Geld wird für Nachhilfe in Deutschland aufgewendet und wer sind die Anbieter?
Interner Link: Wieviel wird jährlich für Nachhilfe je Schüler/in ausgegeben? (
Interner Link: Wieviel wird jährlich für Nachhilfe je Schüler/in ausgegeben? (
Insgesamt werden in Deutschland geschätzte 1 bis 1,3 Milliarden Euro im Jahr privat für Nachhilfe ausgegeben. Bei angenommenen zwei bis drei Nachhilfestunden von je 45 Minuten wöchentlich fallen somit Kosten von jährlich 900 bis 1.300 Euro pro Nachhilfefach und Schülerin beziehungsweise Schüler an (vgl. Klemm/Klemm, 2010). Geschätzte 70 Prozent entfallen auf Nachhilfe durch Einzelpersonen. Das sind zumeist ältere Schülerinnen und Schüler, Studierende und (pensionierte) Lehrkräfte, die ihre Dienste über Aushänge im Supermarkt, Kleinanzeigen in Zeitungen, Mund-zu-Mund-Propaganda oder über Internetplattformen anbieten. Die restlichen 30 Prozent werden durch ungefähr 300 kleinere und größere Nachhilfeinstitute mit ca. 3.000 Niederlassungen abgedeckt. Die beiden größten Unternehmen vereinen auf sich ca. 50 Prozent dieses Marktvolumens. Beide gehören zu Investmentgesellschaften und ihre Filialen werden als Franchise betrieben. So ist das drittgrößte Franchiseunternehmen in Deutschland direkt nach einem Reiseanbieter und einer Fast-Food-Kette ein Nachhilfeinstitut. Neben einer ganzen Reihe kleinerer, lokaler Institute etablierten sich in den letzten Jahren darüber hinaus auch mehrere ausländische Anbieter, etwa aus Frankreich oder Japan, die über ihre Niederlassungen Lehrende für Nachhilfe in allen Fächern zu Hause vermitteln. Einer der größten Anbieter in Japan ist z.B. in Deutschland auf Nachhilfe in Mathematik und Englisch spezialisiert.
Warum nehmen Eltern für ihre Kinder Nachhilfe in Anspruch?
Eltern bezahlen für ihre Kinder Nachhilfe aus mehreren, sich oft überlappenden Gründen. Vor allem geht es ihnen darum, schulischen Leistungsschwächen und schlechten Noten ihrer Kinder entgegenzuwirken. Unabhängig davon wird Nachhilfe im Grundschulbereich zu einem Gutteil auch von leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern in Anspruch genommen, um die Leistung zu halten oder auszubauen, hauptsächlich mit Blick auf einen erfolgreichen Übergang auf eine prestigeträchtigere weiterführende Schule (Gymnasium). Überdies wollen Eltern, dass ihr Kind möglichst hohe Bildungsabschlüsse erreicht, weil sie damit die Erwartung einer gute Ausbildung und eines guten beziehungsweise gut bezahlten Arbeitsplatzes verknüpfen. Einige Eltern sind auch skeptisch, ob Schule und Lehrkräfte ihr Kind angemessen fördern. Sie meinen, dass dies in der Nachhilfe eher und besser möglich ist.
Wie verbreitet ist Nachhilfe weltweit?
Nachhilfe wird in vielen Staaten und teilweise in deutlich höherem Ausmaß als in Deutschland genutzt. In einigen ostasiatischen Ländern (z. B. Süd-Korea, Japan) besuchen bis zu 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler Nachhilfeinstitute (sogenannte Hak-wons, Jukus und Yobikos). In Japan existieren schätzungsweise ca. 50.000 Jukus (Dierkes, 2009). Nicht zuletzt weil die zentralen Zugangsprüfungen zu den Universitäten in diesen Ländern ganz entscheidend für die weiteren Bildungs- und Karrieremöglichkeiten sind, soll frühzeitig über die Nachhilfe der Besuch einer (prestigeträchtigeren) weiterführenden Schule und später einer renommierten Universität ermöglicht werden. Aber auch in Westeuropa und Nordamerika gibt es einen hohen Anteil an Nachhilfeschülern und -schülerinnen. Hier wurde Nachhilfe vor allem als Teil der staatlichen Bildungspolitik mit Maßnahmen und Gesetzen unterstützt, um die Schülerleistungen zu steigern. In den USA stieg allein durch die bundesstaatliche Förderung aus dem No Child Left Behind Act von 2001 die Zahl der Nachhilfeschüler und -schülerinnen zwischen 2003 und 2007 von 550.000 auf 3,3 Millionen und die Zahl der staatlich anerkannten Nachhilfe-Anbieter von 1.000 auf über 3.000 (vgl. Koinzer, 2011).
Trägt Nachhilfe zu einer weiteren "Ökonomisierung" von Bildung und der Verschärfung von Bildungsungleichheit bei?
Bildung hat immer etwas mit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Teilhabe sowie individuellen Marktchancen zu tun. Ein hoher Bildungsabschluss birgt für viele das Versprechen auf einen angesehenen und gut bezahlten Job. Außerschulische Nachhilfe besetzt hier ein pädagogisches und gesellschaftliches Thema, das diese individuellen Bedürfnisse je nach Motivlage bedient. Seit der Einführung des staatlichen "Bildungs- und Teilhabepakets" im Jahr 2011 können nun auch Eltern mit einem geringen oder einem Transfereinkommen über kommunale Ämter und Jobcenter Unterstützung für die außerunterrichtliche Lernförderung ihrer Kinder erhalten. Somit ist es nicht mehr nur den mittleren und höheren Einkommensgruppen vorbehalten, eine solche Förderung für ihre Kinder am Nachhilfemarkt zu kaufen. Diskussionswürdig ist aber die Frage, ob diese staatliche finanzielle Förderung aus dem Bildungspaket nicht eher den (öffentlichen) Schulen zugutekommen sollte, um sie auf eine bessere individuell orientierte Lern- und Förderpraxis zu verpflichten. Nachhilfe verspricht eben jene individuelle Lernförderung, die von Bildungspolitik und Schuladministration als ein zentrales Qualitätskriterium "guter Schule" eingefordert und von Eltern, Schülern und Schülerinnen häufig in der Schule vermisst wird. Schulen und Lehrpersonen müssen hier unterstützt werden, aus der bisher individuell wie gesellschaftlich als nötig wahrgenommenen Praxis außerschulischer Nachhilfe eine alltägliche und effektive Praxis individueller Lernförderung innerhalb von Schule und Unterricht zu machen.
Doch auch derartige schulpädagogische Anstrengungen werden außerschulische Nachhilfe nicht vollständig beseitigen. Nachhilfelehrer und Nachhilfeinstitute werden außerschulische Lernförderung auch zukünftig anbieten. Als "Learning Center" und ähnliche Einrichtungen versprechen sie, bessere oder modernere Orte individuellen Lernens zu sein als die öffentlichen Schulen. Stets kann das "bisschen Mehr" Motiv genug sein, Nachhilfe in Anspruch zu nehmen. Denn Angebote wie Sprachreisen oder Lernferiencamps sind breit akzeptierte und meist nicht von den Eltern veranstaltete Gelegenheiten zusätzlichen (Nachhilfe-)Lernens. Dass diese Gelegenheiten von einkommensstärkeren und/oder bildungsnahen Haushalten eher für ihre Kinder realisiert werden können als von anderen, überrascht nicht. Die Existenz von Nachhilfe im Erziehungssystem verweist vielmehr darauf, dass eine gesellschaftliche Diskussion über "Bildung als öffentliches Gut" im Vergleich zu "Bildung als privates Gut" zu führen ist, also darüber, wie die kollektiv-gesellschaftliche Bildungsverantwortung und die individuell-freiheitlichen Bildungsinteressen in Einklang gebracht werden können.
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Prof. Dr. Thomas Koinzer, geb. 1967 in Arnstadt, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwerpunkte seiner Arbeit sind u.a. Forschungen zum Privatschulwesen und dem Zusammenhang von öffentlicher und privater institutionalisierter Bildung und Erziehung.
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