Chancengleichheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Wulf HopfBenjamin Edelstein
/ 12 Minuten zu lesen
Link kopieren
Quer durch das politische Spektrum ist man sich einig: alle Kinder und Jugendlichen sollen die gleichen Bildungschancen haben. Doch was genau ist unter Chancengleichheit eigentlich zu verstehen?
Alle Kinder und Jugendlichen sollen die gleiche Chance haben sich zu bilden und es beruflich zu etwas zu bringen – diese Forderung steht in den Programmen aller Parteien, fast täglich wird sie uns durch Zeitungsartikel, Radiobeiträge, Talkshows und dergleichen in Erinnerung gerufen. Jeder soll die gleiche Chance bekommen – wer würde dem heute widersprechen? Im Frühjahr 2017 war es 78 % der Deutschen wichtig, "dass jeder, unabhängig seiner sozialen Herkunft, seiner Abstammung oder seines Geschlechts, die gleichen Chancen bei Bildung und Beruf bekommt." (Kantar Emnid 2017, S. 10). Auch im Vergleich mit anderen politischen Prioritäten folgt Chancengleichheit in Bildung und Beruf mit 69 % Zustimmung gleich nach den noch höher geschätzten materiell-ökonomischen Zielsetzungen (z.B. Sicherung der Renten, Senkung der Arbeitslosigkeit, Preisstabilität) (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2013, S. 13 f.). Aber was genau ist mit Chancengleichheit eigentlich gemeint? Und in welchem Maß ist sie in Deutschland verwirklicht?
Was bedeutet Chancengleichheit – ein paar Grundlagen
Ganz allgemein gesprochen besagt das Prinzip der Chancengleichheit, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleiche Chance bekommen sollen, möglichst viel aus ihrem Leben zu machen. In all jenen Bereichen und Situationen des gesellschaftlichen Lebens, in denen begehrte Ressourcen, Positionen oder Lebensverhältnisse knapp sind und daher Menschen um sie konkurrieren, soll niemand wegen seiner sozialen Herkunft, seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Religionszugehörigkeit oder wegen anderer persönlicher Merkmale im Vorteil oder im Nachteil sein.
Diese Forderung beruht auf einem ganz bestimmten Verständnis von sozialer Gerechtigkeit: Ungleichheit zwischen Menschen wird als gerecht angesehen, wenn der Bessergestellte seinen Vorteil in einem fairen Wettbewerb erlangt hat – in einem Wettbewerb also, an dessen Anfang alle anderen Teilnehmer ebenfalls eine reale Chance hatten, zu den Gewinnern zu zählen (man spricht daher auch von "Startchancengleichheit"). Eine auf diesem Weg erreichte Besserstellung wäre nicht willkürlich (wie früher etwa die Privilegien eines Adeligen, der "das Glück hatte" in den richtigen Stand geboren worden zu sein), sondern durch Anstrengung und Leistung "verdient“ und deshalb legitim. Dieses Prinzip wird auch "meritokratisches Prinzip" genannt und bezieht sich auf das lateinische Wort "meritum", das sich mit "Verdienst" oder "Leistung" übersetzt. Chancengleichheit ist insofern eng mit einem weiteren Gerechtigkeitsprinzip verbunden: der Leistungsgerechtigkeit.
Das alles sind Überlegungen im Bereich des Sollens (normative Überlegungen). Ob die begehrten Ressourcen, Positionen und Lebensverhältnisse tatsächlich in einem fairen Leistungswettbewerb unter Gleichen erreicht werden, ist eine andere, nur empirisch zu klärende Frage.
Chancengleichheit in Bildung und Beruf
Dass jeder unabhängig etwa von seiner sozialen Herkunft, seiner Abstammung oder seinem Geschlecht die gleichen Chancen bei Bildung und Beruf bekommen soll, verbindet drei ganz zentrale Eckpunkte im Lebensverlauf:
Die Herkunft aus einer Familie: Mit der Geburt sind einige Bedingungen schlicht vorgegeben, auf die Kinder und Jugendliche keinen oder wenig Einfluss haben. Dazu gehören neben der Geschlechterzugehörigkeit, der Herkunft aus einer bestimmten Sozialschicht und der "Abstammung" bzw. ethnischen Zugehörigkeit auch die Religion und die Region, in der man aufwächst. Diese mit der Geburt "sozial zugeschriebenen" Lebensbedingungen sind in der Gesellschaft mehr oder weniger ungleich verteilt. Nach der Norm der Gleichheit aller Menschen gilt es als ungerecht, dass das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen von diesen Unterschieden bestimmt wird: ihre Bildung, ihre Kontaktmöglichkeiten untereinander, ihre Freizeitgestaltung, ihre Gesundheit, Wohlbefinden und Ernährung, um nur einige zu nennen.
Die Bildung: Das Bildungssystem nimmt in modernen Gesellschaften eine Schlüsselrolle ein, denn es ist die erste und damit wohl wichtigste Schaltstelle für den zukünftigen sozialen Status eines Menschen. Welche beruflichen Positionen, welche Einkommensperspektiven, welches Maß an sozialer Sicherung – kurzum welchen Lebensstandard – man im Lebensverlauf erreichen kann, hängt in hohem Maße vom Bildungsniveau ab. Dabei verfügen moderne Gesellschaften über ein breit aufgefächertes ("differenziertes") Bildungssystem mit verschiedenen Bildungsgängen, die ihren Absolventen und Absolventinnen sehr unterschiedliche Möglichkeiten für den weiteren Bildungs- und Lebensweg eröffnen. Daher gibt es auch in der Bildung eine große Spanne der Ungleichheit: Die Bildungsabschlüsse reichen – mit unterschiedlich langen Lernzeiten – von der einfachen Berufsbildungsreife (Hauptschulabschluss) bis zur Promotion ("Dr.").
Die berufliche Tätigkeit: Ist die Erstausbildung in Schule, Berufsausbildung oder Universität abgeschlossen, folgt der Eintritt in die Berufstätigkeit, und auch die Berufswelt ist durch große Ungleichheiten gekennzeichnet. Denn die Berufe unterscheiden sich extrem etwa nach Einkommen, Sicherheit des Arbeitsplatzes, Selbständigkeit der Arbeit, Prestige und Belastungen. Die Berufe in den gut bezahlten, prestigereichen Berufssegmenten können als knappe, begehrte "Güter" verstanden werden. Die einfachen Berufe dagegen bedeuten häufig ein Leben unter finanziellen Einschränkungen und erheblichen Belastungen (wie z. B. schwere körperliche Arbeit, monotone Arbeitsabläufe, Nacht- und Schichtarbeit). Sie werden, wenn es geht, gemieden.
Das oben beschriebene "meritokratische Prinzip" verknüpft diese drei Eckpunkte des Lebenslaufs so, dass es zwischen den ungleichen sozialen Herkunftsbedingungen und dem Bildungserfolg (z. B. Schulnoten, Abschlüsse) möglichst keinerlei Zusammenhang und zwischen dem Bildungserfolg und dem Beruf dagegen einen möglichst engen Zusammenhang geben soll. Dann wäre Chancengleichheit im Sinne von "Leistungsgerechtigkeit" erreicht.
Wie steht es um die Chancengleichheit in Deutschland?
Wie weit die Realität im gegenwärtigen Bildungswesen von diesem Ideal entfernt ist, mag das folgende Beispiel illustrieren. Der Übergang nach der Grundschule in "weiterführende" Schulformen stellt in Deutschland immer noch eine entscheidende Weiche für ungleiche Bildungsabschlüsse und den späteren Berufseintritt dar. Im Sinne der "Leistungsgerechtigkeit" sollte er unabhängig von Merkmalen der sozialen Herkunft allein auf Grundlage der Leistungsfähigkeit erfolgen. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich anhand von Befunden der sogenannten IGLU-Untersuchung aus dem Jahr 2016 beurteilen. Sie erfasste die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschule mit Hilfe von zwei Tests – einem, der Aufschluss über allgemeine "kognitive Fähigkeiten" gibt und einem weiteren, der die Lesekompetenz bestimmt – und prüfte sodann in welchem Maße die Übergangsempfehlung für die weiterführende Schule von der gemessenen Leistungsfähigkeit der Viertklässler abhing. Dabei zeigte sich: bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und Lesekompetenzen hatten Kinder aus der obersten Schicht ("obere Dienstklasse") eine fast vier Mal höhere Chance als Kinder von Facharbeitern, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen (Hußmann u.a. 2017, S. 244). Diese Zahlen beziehen sich auf die Schulempfehlung der Lehrer und Lehrerinnen am Ende der vierjährigen Grundschule, nicht auf den tatsächlich vollzogenen Übergang auf die Schulen der Sekundarstufe I. Doch Daten des IQB-Ländervergleichs aus dem Jahr 2009 belegen einen ähnlichen starken Einfluss der sozialen Herkunft für den tatsächlichen Übergang: Danach besuchten bei gleicher Leistungsfähigkeit Kinder von Eltern aus der "oberen Dienstklasse" in der neunten Klasse viereinhalb mal so häufig ein Gymnasium wie Kinder von Facharbeitern (Köller u.a. 2009; S. 22).
Chancengleichheit im Sinne von "Leistungsgerechtigkeit" ist beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen offensichtlich nicht gegeben; die starke Verzerrung zugunsten von Kindern oberer und mittlerer Schichten macht vielmehr deutlich, dass die Schulkarriere eines Kindes in erheblichem Maße auch von sozialen Faktoren bestimmt wird, die mit Leistungsfähigkeit weniger zu tun haben.
In der Diskussion um Chancengleichheit ist es außerordentlich wichtig, den Bezug auf die herkunftsbedingten Ungleichheiten im Blick zu behalten. Denn betrachtet man die Gesellschaft insgesamt, sind die Aussichten auf einen hohen Bildungsabschluss über die Zeit immer besser geworden. Ein Beispiel: Im Jahr 1965 machten etwa 5 % der 18jährigen ein Abitur; fünfzig Jahre später, 2015, waren es etwa 50 % des Altersjahrgangs. Durch den Ausbau von weiterführenden Schulen und Hochschulen, ihre bessere regionale Erreichbarkeit, eine höhere Durchlässigkeit zwischen den Schularten, die Etablierung alternativer Wege zur Hochschulreife und anderes mehr, hat sich die Chance ein Abitur zu erwerben in diesem Zeitraum verzehnfacht. Zwischen 1965 und 2015 hat sich das Erreichen des Abiturs von einem höchst seltenen Ereignis zu einem Ereignis gewandelt, dass mit einer 50:50-Chance eintritt. Auf die Gesellschaft insgesamt gesehen, schließt heute jeder Zweite die Schule mit dem Abitur ab.
Über die Veränderung der Bildungschancen der einzelnen sozialen Gruppen – etwa von Kindern aus der Arbeiterschicht – sagt diese Erfolgsmeldung jedoch nichts aus, denn hinter dem "gesamtgesellschaftlichen" Wert verbergen sich je nach Sozialschicht sehr unterschiedliche Erfolgschancen. So liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Akademikerkind seine Schulkarriere im Jahr 2015 mit dem Abitur beendet, zweifellos deutlich über 50 Prozent, die eines Kindes ungelernter Arbeiter hingegen erheblich niedriger. Um aussagekräftigere Informationen über die Verteilung der Bildungschancen in der Gesellschaft treffen zu können, braucht man daher Angaben zum Bildungserfolg der verschiedenen sozialen Gruppen, denen der Einzelne oder die Einzelne angehört. Hier zeigt sich ein deutlich gemischtes Bild: Einige der schon vor Jahrzehnten als benachteiligt erkannten Kinder und Jugendlichen sind es heute immer noch: die Kinder von Angehörigen unterer Sozialschichten (wenn auch in geringerem Maße als vor 50 Jahren) und Kinder und Jugendliche vom Lande.
Darüber hinaus gibt es im föderalen deutschen Schulsystem große Interner Link: Bildungsunterschiede zwischen den Bundesländern. Bei Jungen und Mädchen dagegen haben sich die Bildungsungleichheiten umgekehrt: Anders als noch in den 1960 und 1970er Jahren sind Jungen mittlerweile gegenüber Mädchen im Bildungsnachteil. Neue Benachteiligungen sind seitdem hinzu getreten, vor allem von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. Geißler 2008).
Verteilungsgerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit
In der Diskussion um Chancengleichheit wird Bildung meist als Mittel zum Zweck verstanden, als Eintrittskarte zu den gut bezahlten, verantwortungs- und prestigereichen Berufen. In dieser Perspektive tritt die gesellschaftliche Verteilungsfunktion des Bildungssystems in den Vordergrund: auf Grundlage von Noten und Prüfungen werden die Lernenden auf die ungleichen Bildungsgänge verteilt, von wo aus sie letztlich in die ungleichen Berufe kanalisiert werden. Diese Verteilungsfunktion war schon immer eine wichtige Aufgabe des staatlichen Bildungssystems. Mit dessen Aufbau im Interner Link: 19. Jahrhundert wollte der Staat nicht zuletzt sicherstellen, dass verantwortungsvolle Berufe von leistungsfähigen Personen mit nachgewiesener Qualifikation ausgeübt werden. Und auch heute ist kaum vorstellbar, wie wir ohne diese Verteilungsfunktion des Bildungssystems auskommen würden – wie sonst ließe sich entscheiden, wer die begehrten "höheren" Berufspositionen einnehmen soll? Darin aber erschöpft sich nicht die Aufgabe von Bildungsinstitutionen! Unabhängig von der Verteilung von Schülern und Schülerinnen in verschiedene Bildungsgänge und Berufe nach dem "Leistungsprinzip" haben vor allem die Grund- und die Sekundarschulausbildung die Aufgabe, bis zum Ende der Pflichtschulzeit allen Schülern und Schülerinnen eine solide Grundbildung zu vermitteln. Heute ist in diesem Zusammenhang häufig von "Basiskompetenzen" die Rede. Sie umfassen Fähigkeiten, "die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind". (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 16 – siehe Infobox). Bildung soll also nicht nur Berufswege eröffnen, sondern der umfassenden Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dienen.
QuellentextPISA und Basiskompetenzen
PISA – das "Programme for International Student Assessment" – ist eine Studie zur "Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation" (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 15). Sie wird unter Federführung der OECD alle drei Jahre in zahlreichen Ländern der Welt durchgeführt und untersucht mit wechselndem Schwerpunkt die Lesekompetenzen, die mathematische Grundbildung und die naturwissenschaftliche Grundbildung 15-jähriger Schülerinnen und Schüler. Mit der Untersuchung solcher "Basiskompetenzen" zielt PISA gerade nicht darauf ab, das Fachwissen der Schülerinnen und Schüler zu prüfen. Vielmehr geht es darum abzuschätzen, inwieweit Schülerinnen und Schüler in der Lage sind ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zur Bewältigung alltäglicher Herausforderungen und Problem einzusetzen. Dieses auf das Leben gerichtete Erkenntnisinteresse spiegelt sich deutlich im Kompetenzverständnis wieder, das der Studie zugrunde liegt, wie etwa die PISA-Definition von "Lesekompetenz" verdeutlicht:
"Geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen." (ebda, S. 23).
Noch deutlicher wird der fachlich nicht verengte Anspruch bei der Definition der "mathematischen Grundbildung": "Die Rolle zu erkennen und zu verstehen, die die Mathematik in der Welt spielt, fundierte mathematische Urteile abzugeben und sich auf eine Weise mit der Mathematik zu befassen, die den Anforderungen des gegenwärtigen und künftigen Lebens einer Person als konstruktivem, engagiertem und reflektierendem Bürger entspricht." (ebda.)
Die Vorstellung einer solchen "Grundbildung" kann auch auf andere Lernbereiche – z.B. politische, fremdsprachliche oder ästhetische – erweitert werden. Darüber hinaus werden fächerübergreifende Kompetenzen wie Problemlösen, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erhoben. Die "Basiskompetenzen", die am Ende der Grundbildung (mit ca. 15-16 Jahren) erreicht sein sollen, umfassen damit eine Art "zivilisatorische Mindestausstattung" an Bildung, die für die berufliche und gesellschaftliche Teilhabe im späteren Leben erforderlich ist.
Jedes Jahr, wenn die Industrie- Handels- und Handwerkskammern über das Ergebnis der Prüfungen in der Berufsausbildung berichten, kann man die Klage hören, ein erschütternd hoher Anteil von Schülern und Schülerinnen könne weder richtig schreiben noch rechnen. Diese grundlegenden Fähigkeiten hätten alle in der Schule erlernen müssen. In den aufwändigeren internationalen Erhebungen von Bildungskompetenzen (z.B. PISA) hat sich stets aufs Neue gezeigt, dass ein erheblicher Anteil der Schülerschaft etwa im Lesen und Rechnen allenfalls die unterste Kompetenzstufe erreicht. In dieser sogenannten "Risikogruppe" sind Schülerinnen und Schüler aus Familien unterer Sozialschichten ebenso wie solche mit Migrationshintergrund weit überdurchschnittlich häufig vertreten. So erreichten in der jüngsten PISA-Studie (2015) 16 Prozent aller Jugendlichen im Lesen nur die unterste Kompetenzstufe oder lagen gar darunter (Reiss u.a. 2016: 266); unter den Kindern von un- und angelernten Arbeitern lag der Anteil solcher "Risikoschüler" jedoch mit rund 25 Prozent erheblich höher (ebda: 306).
Auch in diesem Fall handelt es sich also um sozial bedingte ungleiche Bildungschancen, aber nicht im Hinblick auf die Verteilung auf ungleiche Bildungsgänge und Berufe, sondern bei der Sicherung der Basiskompetenzen, die die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und aktive gesellschaftliche Teilhabe bilden. Bei einer solchen Sicherung der "Mindestbildung" wird nichts verteilt; daher ist hier – anders als etwa bei der Vergabe von Schulabschlüssen – das Leistungsprinzip als Zuteilungsprinzip entbehrlich. Worauf es vielmehr ankommt, sind pädagogische und schulorganisatorische Maßnahmen, die sozial benachteiligten Schülern und Schülerinnen die Möglichkeit geben ohne Konkurrenz, Zeit- und Zensurendruck das Mindestmaß notwendiger Kompetenzen zu erlangen.
Ein Spannungsfeld und wie das deutsche Schulsystem damit umgeht
Beide Funktionen – leistungsgerechte Verteilung und Gewährleistung einer soliden Grundbildung – stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander: Liegt der politische und pädagogische Ehrgeiz bei der Sicherung von anspruchsvollen Basiskompetenzen für alle, kann dies auf Kosten der leistungsbestimmten Verteilungsfunktion gehen. Denn das Erreichen von Basiskompetenzen für alle erfordert überdurchschnittliche Ressourcen (Zeit, Zuwendung, Unterrichtskompetenzen von Lehrenden, passgenaue Lernmaterialien) und eine abwertungs- und angstfreie Lernumgebung für die Gruppe der besonders benachteiligten Schüler und Schülerinnen. Nimmt die Verteilungsfunktion überhand, besteht hingegen die Gefahr, dass die Vermittlung gleicher Basiskompetenzen als Nebenaufgabe vernachlässigt wird. Wenn es lediglich darum geht, in den ersten Schuljahren einigermaßen gleiche Startbedingungen für einen in den späteren Schuljahren folgenden Leistungswettbewerb zu erreichen, genügt ein inhaltlich anspruchsloses Konzept von kurzfristig erwerbbarem Wissen, das gegenüber dem Anspruch von Basisqualifikationen für umfassende gesellschaftliche Teilhabe zurückbleibt (vgl. dazu näher Hopf 2011).
Im deutschen Schulsystem mit seiner frühen Trennung von Schülerinnen und Schülern nach der Grundschule und ihrer Verteilung auf verschiedene weiterführende Schulen wird dieses Spannungsfeld tendenziell in Richtung der Verteilungsfunktion aufgelöst: Die Grundschule, die der Grundbildung aller dienen soll, wird frühzeitig unter Auslesedruck gesetzt, weil schon nach der vierten (in Berlin und Brandenburg: sechsten) Klasse die Verteilung auf die weiterführenden Schulen ansteht. Damit tritt die vergleichende Leistungsbewertung der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund, die Vermittlung gleicher Basisqualifikationen steht dahinter zurück. Und die Schulen der Sekundarstufe I, an deren Ende alle Schüler gleiche Basiskompetenzen für das Leben in einer modernen Gesellschaft erworben haben sollen, gliedern sich in Gymnasien und (je nach Bundesland unterschiedliche) andere Schulformen, die ihrerseits von Beginn an unter Verteilungsdruck stehen, da auch sie fortlaufend Selektionsentscheidungen treffen müssen, etwa über Versetzungen oder Auf- und Abschulungen. In den vergangenen Jahren haben viele Bundesländer die Hürden für solche Selektionsmaßnahmen erhöht und Schulen verpflichtet gefährdete Schülerinnen und Schüler gezielt individuell zu fördern, ehe sie zum Einsatz kommen dürfen. Zumindest als letztes Mittel aber sind Klassenwiederholungen und Abschulungen an deutschen Schulen in der Regel weiterhin vorgesehen.
Ausblick
Die Forderung nach mehr Chancengleichheit in Bildung und Beruf ist in den letzten 20 Jahren zunehmend unter Druck geraten. Auf der konservativen Seite des politischen Spektrums wird daran gezweifelt, dass es eine wirkliche Gleichheit von Bildungschancen überhaupt geben kann. Ausgehend von der Überzeugung, dass Kinder von Natur aus unterschiedliche Neigungen und Begabungen haben, bevorzugen sie eine weniger strikt definiertes Ziel von "Bildungsgerechtigkeit", demzufolge jedes Kind die seiner jeweiligen Begabung entsprechenden Lernmöglichkeiten erhalten soll. Tatsächlich lässt sich festhalten, dass es bisher in keinem Land der Welt gelungen ist, Bildungserfolg und soziale Herkunft vollständig zu entkoppeln. Allerdings sind andere Länder durchaus erfolgreicher als Deutschland darin, den Einfluss der sozialen Herkunft gering zu halten und kommen damit dem Ziel gleicher Bildungschancen zumindest näher als hierzulande.
Von der linken Seite des politischen Spektrums ist bisweilen der Einwand gekommen, "Chancengleichheit" sei angesichts der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse ein Ziel, das nur Illusionen über den Weg zum Abbau sozialer Ungleichheit wecken kann. Die empirischen Ergebnisse zum beständigen Fortwirken der Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft trotz gleicher Leistungsfähigkeiten würden zeigen, dass es falsch sei, von mehr "Leistungsgerechtigkeit" einen Abbau sozialer Ungleichheit zu erwarten.
Mag diese Kritik auch überzogen sein, sie ist zumindest insofern berechtigt, als sie davor warnt, mit dem Ziel der Chancengleichheit in Bildung und Beruf Fragen der Vermögens- und Einkommensverteilung in der Gesellschaft aus dem Blick zu verlieren. Denn eine allzu einseitige Fokussierung auf den Abbau von sozialer Ungleichheit durch chancengleiche Bildung verkennt, dass die in unserer Gesellschaft vorherrschenden Ungleichheiten keineswegs allein über das Bildungssystem hergestellt und folglich auch nicht allein über das Bildungssystem aufgehoben werden können. Auch in der "meritokratischen" Gesellschaft werden gesellschaftliche Privilegien wie Geldvermögen, Immobilien, Unternehmensbesitz und dergleichen in erheblichem Umfang direkt von einer Generation in die nächste weitergegeben und für die Erben solcher Privilegien spielt das Bildungssystem als Verteilungsinstanz eine geringere Rolle als für jene, die auf ihrem Lebensweg "bei Null" starten.
Natürlich sollte der Staat alles dafür tun das Bildungssystem so zu gestalten, dass möglichst niemand in seiner Bildungskarriere Nachteile aufgrund seiner sozialen Herkunft erleidet. Dafür gibt es verschiedene Ansatzpunkte, etwa den Abbau finanzieller Bildungshürden, die Vermeidung frühzeitiger Leistungsauslese, die gezielte Förderung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler und anderes mehr. Aber die Voraussetzungen einer gelingenden Bildungskarriere werden eben auch außerhalb der Schule gelegt. Eine wirksame Politik der Bildungschancengleichheit muss daher immer Teil einer umfassenderen gesellschaftspolitischen Strategie sein, in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Städtebau, Steuer- und Erbrecht und die Politik der Mitbestimmung in der Privatwirtschaft genauso wie die Bildungspolitik auf einen nachhaltigen Abbau gesellschaftlicher Ungleichheit zielen.
Prof. i.R. Dr. Wulf Hopf, geb. 1944 in Wildeshausen, war Hochschullehrer am Institut für Erziehungswissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Bildung; politische Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, insbesondere Rechtsextremismus. Zuletzt erschienen: "Von der Gleichheit der Bildungschancen zur Bildungsgerechtigkeit für alle – ein Abschied auf Raten vom Gleichheitsideal?", in: Meike S. Baader, Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden 2017 (Springer VS), S. 23-37.
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).