Jahrhundertwenden erscheinen uns immer auch als pädagogisch-kulturelle Umbrüche: In der Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die Lernfähigkeit entdeckt und gefördert. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die Ausgestaltung förderlicher Lernmilieus an Bedeutung. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert schließlich beschäftigt uns die zunehmende Verselbstständigung des Lernens durch technische Medien und Hilfsmittel. Die heutigen Tablet-Computer beispielsweise binden das Recherchieren und Kommunizieren, Erarbeiten, Lernen und Präsentieren von Arbeitsergebnissen nicht mehr an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit und damit nicht mehr an die traditionellen Lehr-Lern-Arrangements. Lehrer und Schüler müssen nicht in einem gemeinsamen Klassenzimmer sein; der Arbeitsfortschritt des Lernenden lässt sich online abfragen. Zudem eröffnet das Internet heute Zugänge zu Informationen, die alle Dimensionen der bisherigen im Unterricht gebräuchlichen Print- und Non-Print-Medien bei weitem überschreiten. Und wie bei der Flut an billigen Lesestoffen im ausgehenden 18. Jahrhundert die Lesesucht und Lesewut angeprangert wurde und um 1900 der Besuch der "Kinematographentheater" als verderblich galt, so warnen heute viele nicht zu Unrecht vor einem Suchtverhalten, ständig online sein zu wollen. Sogar von "digitaler Demenz" ist die Rede.
Gewiss, bei allen medientechnischen Neuerungen muss nach den pädagogischen Gewinnen und Verlusten gefragt werden. Nur: Was sich im Hinblick auf Lernen und Verstehen, Kompetenzen und Urteilsfähigkeit als mögliche Verluste oder erhoffte Gewinne abrechnen lässt, gibt nicht das neue Medium vor, sondern seine mehr oder weniger sinnvolle Nutzung.
Neue Medien verändern die Rolle der Lehrkraft
Die Faszination der neuen technischen Medien widerlegt alle bisherigen Klagen über mangelndes Interesse fürs Lernen und Üben. Die leichten Zugänge zu vielfältigen Informationen werden lebhaft genutzt, wenn nicht in der Schule selbst, so doch zumindest außerhalb (etwa bei den Hausaufgaben). Aus der Allgegenwärtigkeit der Neuen Medien ergeben sich unweigerlich auch Folgen für schulische Lehr-Lern-Arrangements: Der Lehrer als Informator tritt weiter zurück, um zugleich als begleitender Mentor umso größere Bedeutung zu erlangen. Seine Funktion als "Lerncoach" mag die Technik mehr und mehr übernehmen, aber seine Verantwortung für die Nutzung eben dieser Technik nimmt enorm zu. Nicht zuletzt wird der Lehrer als Experte und "erfahrener Älterer" gebraucht, um im kritischen Umgang mit den Neuen Medien anzuleiten (etwa bei der Bewertung der Qualität aufgefundener Informationen). Eines muss er dabei beachten: dass seine Schülerinnen und Schüler ihm in der Nutzung der Neuen Medien zumeist weit voraus sind, und dass er demzufolge an ihrer Medienpraxis ablesen sollte, was seine konkreten pädagogischen Aufgaben sind. Im "digitalen Zeitalter" wird eine neue Seite der Lehrerrolle sichtbar. Der Lehrer lernt immer häufiger vom Schüler, welche manchmal auch überraschenden individuellen Wege zu einer Problemlösung möglich sind.
Eine Gewinn- und Verlustrechnung
Wie könnte sich eine pädagogische Gewinn- und Verlustrechnung darstellen? Das ist eine Frage des Bezugsmaßstabs. Eine nicht-mundartliche und womöglich noch literarisch geschulte Sprachlichkeit, die man auch heute noch in den großen Tages- und Wochenzeitungen findet, war und ist ein Minderheitenphänomen, auch innerhalb des "Bildungsbürgertums". Zu den Verlusten wird gewöhnlich der Rückgang herkömmlicher Sprach- und Schriftlichkeit gezählt. Stattdessen findet man vermehrt saloppe Anreden, bruchstückhafte Formulierungen, oberflächliche Thesenhaftigkeit. Zu den Gewinnen ist eindeutig zu rechnen, dass sich mit den Oberflächen moderner IT-Geräte Informationen wesentlich einfacher finden und verknüpfen lassen. Dies geschieht zudem mit dem ältesten und sichersten dazu verfügbaren Instrument: mit dem Zeigefinger beziehungsweise mit dem Pinzetten-Griff von Daumen und Zeigefinger. Ferner machen akustische und visuelle Rückmeldungen unmittelbar auf Fehler aufmerksam und damit die jeweilige ausgelöste technische Aktivität korrigierbar. All dies kann binnen kürzester Zeit gelernt und perfektioniert werden, sodass sich ganz neue zeitliche Möglichkeiten zum Recherchieren und Üben ergeben. Die methodische Nutzung der neuen Techniken im Unterricht steht zwar noch am Anfang, aber voraussichtlich wird das "digitale Zeitalter" die Art und Weise, wie wir uns Wissen aneignen und ordnen, grundlegend verändern.
Das bedeutet freilich nicht, dass sich dadurch auch die neuronalen Prozesse der Informationsverarbeitung und -speicherung in unserem Gehirn verändern werden, denn sie sind biologisch festgelegt. Inwieweit die neuen technischen Hilfsmittel den Aufbau und die Stärkung neuronaler Netze und die Festigung bestimmter Gedächtnisformen beeinflussen, muss sich noch erweisen. Als problematisch wird von Hirnforschern derzeit angesehen, dass die digital vermittelte Information nicht durch begleitende Erfahrungen wie Fühlen, Schreiben, Bewegen, Riechen unterstützt wird. Dieser Einwand galt und gilt aber genauso für die herkömmliche Informationsaufnahme durch Buch und Film. In dem Maße, wie es in Familie und Schule gelingt, Kindern und Jugendlichen gemeinsame Erfahrungs- und Bewährungsräume in der realen Welt zu eröffnen, wird sich die Mediennutzung von selbst in Grenzen halten.
In diesem Sinne sind in der Geschichte der Lehrens und Lernens neue Medien stets Instrumente vermehrten und erweiterten Wissenserwerbs gewesen. Die jeweiligen neuen Medien blieben aber darauf angewiesen, dass das mit ihrer Hilfe erschließbare neue Wissen durch eigene Anstrengungen in die bestehenden Wissens- und Verstehensformen eingebaut wurde, wodurch diese sich zugleich erweiterten. Der technisch vereinfachte Zugang zu allem verfügbaren Wissen muss den Suchenden und Lernenden ein Stück weit ratlos machen, sodass für ihn Kriterien der Bewertung und Ordnung umso wichtiger werden. Dies wird eine zentrale Aufgabe des Lehrens im "digitalen Zeitalter" sein: denn dasjenige, worauf der Finger (lateinisch: digitus) zeigt, offenbart dadurch noch nicht seinen Sinn und seine Bedeutung.