In Deutschland mussten 2011 insgesamt 156.000 Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholen. Das waren 1,9 Prozent all derer, die in diesem Jahr allgemeinbildende Schulen besuchten. Hinter diesem deutschen Durchschnittswert verbergen sich beachtliche Länderunterschiede: Während 2011 in Bayern 3,0 Prozent aller Schülerinnen und Schüler sitzengeblieben sind, galt dies in Brandenburg nur für 1,1 Prozent und in Baden-Württemberg nur für 1,2 Prozent. Diese auf ein einzelnes Jahr bezogenen Werte vermitteln lediglich einen Ausschnitt der schulischen Wirklichkeit. Betrachtet man nämlich mithilfe der PISA-Untersuchung von 2012 die kumulativen Effekte im Verlauf von Schulkarrieren, zeigt sich: Deutschlandweit ist jeder fünfte Fünfzehnjährige (20,2 %) bis zum Ende seiner Schulpflichtzeit mindestens einmal sitzengeblieben.
Die Funktion von Klassenwiederholungen
Auch im internationalen Vergleich verzeichnet Deutschland eine hohe Quote an Klassenwiederholungen. Dies lässt sich auch darauf zurückführen, dass hierzulande die pädagogische Annahme verbreitet ist, leistungshomogene Lerngruppen würden ein besonders förderliches Entwicklungsmilieu für das Lernen von Schülerinnen und Schülern bieten. In der Konsequenz hat sich ein hoch ausdifferenziertes Instrumentarium herausgebildet, das diese Leistungshomogenität herstellen und sichern soll. Insbesondere sind hier zu nennen:
die stichtagbezogene Einschulung, die eine Zurückstellung oder eine vorzeitige Einschulung ermöglicht,
die Bildung von Jahrgangsklassen,
die Klassenwiederholung,
die nach der Grundschule erfolgende Aufteilung auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungswege,
die Überweisung von einem Bildungsgang in einen anspruchsvolleren oder weniger anspruchsvollen Bildungsgang.
Die PISA-Studien haben eindrucksvoll belegt, dass dieses Bündel an Maßnahmen tatsächlich im besonderen Maße zu leistungshomogenen Lerngruppen in Deutschlands Schulen führt.
Mit dem Instrument der Klassenwiederholung sind zwei Erwartungen verbunden: Zum einen wird unterstellt, dass in einer Lerngruppe leistungsschwache Schüler das Lernen leistungsstärkerer Schüler und Schülerinnen behindern würden. Werden nun die Schwächeren aus einer Lerngruppe verwiesen, befördere dies die Entwicklung der Stärkeren. Zum anderen wird auch davon ausgegangen, dass die Schwächeren in ihrer ursprünglichen Lerngruppe überfordert seien. In der in ihrer Lernzeit um ein Jahr zurückliegenden Gruppe würden sie dann ein Milieu antreffen, das ihnen günstigere Entwicklungschancen bietet. Ganz offensichtlich werden diese Erwartungen von einer breiten Öffentlichkeit geteilt und getragen. Erst in jüngster Zeit (im Februar 2013) ergab eine repräsentativ angelegte Forsa-Befragung, dass sich 73 Prozent aller Befragten dagegen aussprechen, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Die Quote der Ablehnung bei Schülern und Schülerinnen sowie bei Studierenden lag sogar bei 85 Prozent.
Empirische Befunde zur Wirkung der Klassenwiederholung
Anders als die hier angeführte Befragung kommt die empirische Schulforschung bezüglich der Wirkung von Klassenwiederholungen zu einem überwiegend kritischen Urteil. Tillmann/Meyer resümieren ihre Durchsicht von Studien zum Sitzenbleiben mit dem Satz: "Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage werden die pädagogischen Wirkungen der Klassenwiederholungen in der Erziehungswissenschaft ganz überwiegend negativ eingeschätzt" (2001, S. 470). Dieser Forschungsbefund wird auch durch internationale Studien gestützt. Tietze/Rossbach sichteten mehr als 60 Untersuchungen und stellten fest: "Über alle Studien hinweg zeigen sich im Durchschnitt Vorteile der versetzten Schüler im Vergleich zu den nicht versetzten […]. Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede bei den Schulleistungen. Der Vergleich sitzengebliebener Kinder mit gleich leistungsschwachen, aber versetzten Schülern zum gleichen Alterszeitpunkt ergibt deutliche Leistungsunterschiede zuungunsten der Sitzenbleiber, [...] wobei der Leistungsabstand im Verlaufe der folgenden Schuljahre noch zunimmt" (1998, S. 467).
Untermauert werden diese Befunde durch innerdeutsche wie auch durch internationale Vergleichsstudien. Blickt man auf die sechzehn Bundesländer, so nehmen Bayern und Baden-Württemberg bei innerdeutschen Leistungsstudien regelmäßig gleichermaßen Spitzenplätze ein, während sie beim Wiederholen von Klassen weit auseinanderliegen: Bayern weist bei der Quote der Sitzenbleiber mit 3,0 Prozent den höchsten und Baden-Württemberg – nur noch durch Brandenburg leicht unterboten – mit 1,2 Prozent den zweitniedrigsten Wert auf. Dies darf als deutlicher Hinweis darauf verstanden werden, dass das Leistungsniveau von Schulen nicht vom Ausmaß des Sitzenbleibens abhängt.
Auch der Blick auf international vergleichende Studien widerlegt die These von der leistungssteigernden Wirkung des Sitzenbleibens. Gestützt auf eine Analyse der Ergebnisse der PISA-Studie von 2009 kommen die Autoren der OECD zu dem Schluss: "PISA 2009 zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler in Ländern mit einer hohen Klassenwiederholungsquote schlechtere Ergebnisse erzielen" (OECD 2011, S. 2).
Klassenwiederholer im internationalen Vergleich (
Klassenwiederholer im internationalen Vergleich (
So weisen Teilnehmerstaaten wie Finnland, wo lediglich 2,8 Prozent aller Fünfzehnjährigen mindestens einmal eine Klasse wiederholt haben, oder Singapur, wo dies auch für nur 5,4 Prozent zutrifft, in allen getesteten Gebieten Spitzenleistungen auf. Deutschland mit seiner bereits berichteten Quote von 21,4 Prozent zeigt Schülerleistungen seiner Fünfzehnjährigen, die leicht oberhalb des Durchschnitts aller Teilnehmerländer liegen, während die Schülerinnen und Schüler Frankreichs, wo 36,9 Prozent aller Fünfzehnjährigen bereits mindestens einmal eine Klasse wiederholen mussten, so gut wie Deutschland (Leseverständnis) beziehungsweise deutlich schwächer (Mathematik und Naturwissenschaften) abgeschnitten haben (OECD 2010, S. 201).
Ausgaben für Klassenwiederholungen
Wenn Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholen müssen, verlängert dies ihre Schulzeit um dieses Wiederholungsjahr. Individuell bezahlen sie ihr Sitzenbleiben mit einem um ein Jahr verschobenen Eintritt in die anschließende Bildungs- oder Ausbildungsstufe und letztlich mit einer um ein Jahr verkürzten Lebensarbeitszeit. Aber nicht nur die Einzelnen "zahlen" für ihre Klassenwiederholung, sondern auch die Gesellschaft insgesamt muss zusätzliche Bildungsausgaben aufbringen. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin beispielsweise bis zum mittleren Bildungsabschluss nicht zehn, sondern elf Schuljahre benötigt, erfordert dies zusätzliche öffentliche Mittel: In den Bundesländern, in denen die Lehrerstellen abhängig von der Schülerzahl den einzelnen Schulen zugewiesen werden, liegen Mehrausgaben durch Klassenwiederholungen auf der Hand. In den Ländern, in denen die Schulen ihre Lehrerstellenzuweisung aufgrund der Zahl der jeweils gebildeten Klassen erhalten, leuchtet es nicht unmittelbar ein, dass Klassenwiederholungen zu einem zusätzlichen Ressourcenverbrauch führen. Tatsächlich erhöhen sich durch das Sitzenbleiben auch in diesen Ländern die Kosten: Immer dann nämlich, wenn durch zusätzlich aufgenommene Wiederholer in der betreffenden Klasse die zulässige Höchstzahl überschritten und eine Klassenteilung erforderlich wird.
In einer Studie, die die beiden hier angesprochenen Konstellationen berücksichtigt, wurden jährliche, durch das Sitzenbleiben verursachte Mehrausgaben in Höhe von etwa 930 Millionen Euro ermittelt (Klemm 2009). Dieses Ausgabenvolumen wurde für das Schuljahr 2007/08 berechnet, in dem in Deutschland insgesamt 224.000 Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholen mussten. Da sich seither die Zahl der Sitzenbleiber deutlich, nämlich um 30 Prozent, verringert hat, können die jährlichen Mehrausgaben derzeit auf etwa 650 Millionen Euro geschätzt werden. Also wurden in 2011/12 für jeden und jede der 156.000 Klassenwiederholer und -wiederholerinnen 4.200 Euro aufgewendet.
Prävention statt Reparatur
Angesichts dieses hohen Aufwandes für die Klassenwiederholung, deren Wirksamkeit stark bezweifelt werden muss, stellt sich die Frage nach zielführenderen pädagogischen Maßnahmen. Dazu finden sich überall in Deutschland Anregungen und Beispiele: So trifft man auf Schulen, die bei regelmäßigen Klassenkonferenzen Schülerinnen und Schüler identifizieren, die von der Nichtversetzung bedroht sind. Diese Schulen begnügen sich nicht mit einer warnenden Mitteilung (etwa in Gestalt des blauen Briefs) an die betroffenen Schüler und an ihre Erziehungsberechtigten. Stattdessen bieten sie diesen Schülerinnen und Schülern ein individuelles Förderprogramm an. Solche Schulen leisten dies zumeist mit "Bordmitteln"; sie erhalten die bei erfolgter Versetzung eingesparten öffentlichen Ressourcen nicht als Fördermittel zugewiesen, sondern erbringen eher einen Sparbeitrag für die öffentlichen Haushalte.
In Nordrhein-Westfalen geht ein vielversprechendes Projekt einen deutlichen Schritt weiter: Das Projekt "Komm Mit! – Fördern statt Sitzenbleiben" basiert auf einer 2008 getroffenen Vereinbarung zwischen dem Schulministerium, der GEW und den Lehrerverbänden mit 385 Schulen (Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen) und hat sich zum Ziel gesetzt, die Quote der Sitzenbleiber zu verringern. Dafür erhalten die beteiligten Schulen jeweils eine Drittel-Lehrerstelle. Mit der so bereitgestellten personellen Ressource sollen die Schulen dabei unterstützt werden, anhand einer Analyse der Klassenwiederholungen an der jeweiligen Schule individuelle Förderprogramme zu entwickeln und durchzuführen. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von der Universität Koblenz-Landau (Standort Landau).
Wege wie dieser haben das Potenzial, Ressourcen präventiv einzusetzen, Vergeudung von Lebenszeit zu vermeiden und Schülerinnen und Schülern die mit Klassenwiederholungen häufig verbundenen Kränkungen zu ersparen – ohne Abstriche bei Leistungsanforderungen in Kauf zu nehmen.