Werd’ ich gehört? Werd’ ich gebraucht? Wie Teilhabe soziales Vertrauen stärkt
Ich saß acht Jahre lang im Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes, und insofern habe ich Bildungsfragen in den letzten zehn Jahren aus einer weltumspannenden Perspektive wahrgenommen.
Dieser Ausschuss ist ein Gremium von 18 Personen aus allen Weltregionen. Die Europäer sind in der Minderheit. Ich glaube, das sollte man wirklich ausdrücklich sagen. 193 Staaten haben die Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert, und der Ausschuss hat die Aufgabe zu überprüfen, ob die Staaten sich an die Konvention halten. Tun sie, soll ich sagen, natürlich, tun sie nicht. Und insofern hat der Ausschuss sehr viel Arbeit, die Artikel der Konvention durchzugehen, zu denen die Regierungen, die eingeladen werden, in ihrem Bericht Rede und Antwort stehen und mit ihnen über die Verletzung der Kinderrechte unter den Artikeln der Konvention zu sprechen. Viele NGOs hören manchmal mit Erstaunen, was ihre Regierungen sagen, merken sich das sehr gut und führen die Diskussion, die wir in Genf führen, zu Hause weiter. Alles ist öffentlich, ich denke, das ist der Druck, der dann auch aus diesen Sitzungen heraus entsteht.
Wenn man aus einem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in so ein Gremium kommt, sagen die anderen: Du kümmerst dich um Schule und Bildung. Und das habe ich auch gerne angenommen, Schule, vorschulische, frühkindliche Bildung, Bildung und Berufsausbildung, Schulbildung und Mädchen, Schulbildung, Kinderarbeit, Ernährung, Gesundheit, Gewalt in der Schule und nicht zuletzt und ganz zentral Beteiligung der Kinder in der Schule. Ich konnte einiges an Erfahrung einbringen. Ich habe Schulforschung mit Kindern gemacht, unter Kindern sitzend, es war wahnsinnig interessant, und mir sind die Augen übergegangen bei dieser Arbeit. Es gibt viel Begrüßenswertes, das muss man auch sagen, aber es gibt auch sehr viel ungeheuer Deprimierendes, Schockierendes, aussichtslos Erscheinendes.
Es gibt einen großen Bildungshunger in der Welt. Ich wurde einmal vom Ausschuss nach Somalia in ein Camp mit landesintern geflüchteten Menschen, displaced persons, natürlich auch Kinder, geschickt. Die Eltern haben für ihre Kinder, weil es niemand anders getan hat, eine Schule gegründet. Da gab es keine staatliche Verwaltung, die das tun konnte. Ich war in China für einen Ausschuss, wo Wanderarbeiter, die aus dem desolaten Westen des Landes in den prosperierenden Osten kommen, Schulen für ihre Kinder verlangten, die ihnen aber die Kommunen nicht einrichteten, weil die sagten, wir sind nicht für die Wanderarbeiter und ihre Kinder zuständig. Die Eltern haben diese Schulen selbst aufgebaut, bis der Staat eingegriffen hat, klar, in China, weil er sagte, so geht es nicht, wir müssen die Schulen machen und kontrollieren.
Ein großer Anteil der 67 Millionen Kinder, die nach UNESCO-Daten nicht die Schule besuchen, gehen deswegen nicht in die Schule, weil sie in einem Land mit Kampfhandlungen oder Gewaltdrohung leben – Afghanistan ist ein Beispiel dafür –, vielleicht auch in einem von Naturkatastrophen verwüsteten Land. Der UN-Ausschuss drängt inzwischen darauf und hat mit dafür gesorgt, dass die Öffnung oder Wiedereröffnung von Schulen zu den Notfallmaßnahmen gehören, die zur Ersten Hilfe zählen, wenn Organisationen in ein Land kommen, um dort zu helfen; nicht nur ein Dach über dem Kopf, nicht nur Ernährung, sofort auch Schulen. Schule hat sich als der Ort für Kinder erwiesen, der ein Stück Normalität wiederherstellt und an dem Kinder, die aus ihrer Sicht und ihrer Betroffenheit wichtigen Hilfen bekommen, falls Schule sich auf die spezifische Situation der Kinder einlässt. Grundlegende praktische Fähigkeiten, Ernährung, Nahrungsmittel, Gesundheit, Gefahrenwahrnehmung – Minen –, Risikobewusstsein generell, Hilfe für traumatisierte Kinder, Einbeziehung der Eltern, Unterstützung beim Sich-Gehör-verschaffen, damit benötigte Hilfe mobilisiert wird und ankommt und trifft.
Hier in einem Camp, in einem Lager zeigt sich, was Schule, was Bildung wirklich sein kann, nämlich ein Überlebensinstrument. Schule im Camp, Überleben und Beteiligung sind mir daher zu Schlüsselbegriffen, zu Begriffen mit symbolischem Gehalt für Bildung geworden. Und ich werde gleich erläutern, mit welchen Aufgaben sich auch unsere Schulen, unser Bildungssystem hier in Deutschland konfrontieren sollte. Aber zunächst noch mal zurück zu den Ländern, die mit Schwierigkeiten kämpfen, die allgemeine Schulpflicht wenigstens für eine sechsjährige Grundschule voll durchzusetzen. Warum ist das denn so schwer? Da gibt es zum einen die politisch, systemisch, institutionellen Probleme, ein Bildungswesen zu etablieren, von Schulbauten mit Wasser und Strom über Lehrerbildung bis hin zu einer Schulverwaltung.
Das sind die Probleme, mit denen sich Katharina Tomasevski, frühere UN Bildungsberichterstatterin, in einem Vier-Punkte-Programm beschäftigt hat. Sie nannte das, wir müssen Availability und Accessibility, Vorhandensein und Zugangsmöglichkeiten zu Schulen prüfen. Und auch da gibt es übrigens Fortschritte. Da gibt es aber zum anderen, das sind ihre nächsten beiden Punkte, die Fragen der Akzeptanz der Schule und der Lebens-, Überlebensdienlichkeit der Schulen, Exceptibility, Adaptability. Sind Schulen annehmbar, passen sie sich überhaupt den Erfordernissen, in denen Kinder leben, an? Oder eben auch: Helfen sie den Kindern zu überleben? Oft ist die Situation übrigens in den Camps kaum besser, als die bei den Menschen außen herum.
Entwicklungshelfer haben mir gesagt, wenn wir irgendetwas im Camp tun, müssen wir es gleich auch nebenan tun, sonst entstehen Spannungen zwischen der Bevölkerung außerhalb und innerhalb. Helfen die Schulen zu überleben? Es ist ein großes Problem, dass angemeldete Kinder die Schule nicht regelmäßig besuchen, sie nach wenigen Jahren wieder verlassen, keine Abschlüsse machen, nicht auf die weiterbildenden Schulen überwechseln, weil, wie sie sagen, Schule nichts bringt. Ich habe einige Male Regierungsvertreter, die bei unserem Ausschuss waren, gefragt: Ist es für die Kinder Ihres Landes wirklich hilfreich, wirklich sinnvoll, zur Schule zu gehen? Was bieten denn Ihre Schulen überhaupt den Kindern?
Ich erinnere mich an ein Klassenzimmer in Hargeysa in Somalia, das beherrscht war vom riesigen Bild eines Elefanten. Ein eindrucksvolles Bild, von einem mächtigen Tier, das in dem Land überhaupt nicht vorkommt. Lernt man nichts Brauchbareres, wenn man Vater und Mutter im Haus oder auf dem Feld hilft oder als Handlanger auf einem Bau mitarbeitet oder in einer Werkstatt nebenan herumschraubt, anstatt in eine Schule zu gehen, oft ohne Bücher, ganz zu schweigen von fehlender Elektronik und Computern, mit einem Lehrer, der die Kinder prügelt und die Mädchen bedrängt?
UNICEF hat ein Programm entwickelt, das demonstriert, dass man auch unter erbärmlichen Umständen attraktiv Schule machen kann. Das Erfolgsrezept lässt sich mit einem Wort darstellen: Schule mit den Kindern, auch mit den Eltern, das ist natürlich wichtig, aber ich will von der Schule mit Kindern sprechen. Sie gehen in eine Schule, die mit den Kindern klärt, was von Nutzen ist zu lernen. Beteiligung, Demokratie im Anfang vor Ort. Da muss man sich keine Sorgen machen, dass Kinder etwa nicht Lesen, Schreiben, Rechnen lernen wollen, das wollen sie, aber sie wollen noch viel mehr, sie wollen etwas, was ihnen hilft, mit ihrem Leben in diesen Ländern zurechtzukommen. Sie wollen wissen und wollen Lösungen finden für Ernährung, für Wasser, für Sauberkeit, für Toiletten, für Krankheit, für Behinderung durch Explosionen, Minen, für AIDS, Gewalt, für das Zusammenleben unter diesen erbärmlichen Umständen. Beteiligung ist nicht ein Programmpunkt, Beteiligung ist in diesen Schulen alles.
Und Demokratiepädagogik muss man nicht in diese Schulen bringen, sie ist längst am Werk, obwohl niemand das Wort schon einmal gehört hat. Was wir etwas hilflos Demokratiepädagogik nennen und einführen wollen, ist die Grundlage, ohne die diese Schulen gar nicht an ihrem Überlebens-Curriculum arbeiten können. Es geht um das Überleben der Kinder. UNICEF nennt diese Schulen die childfriendly schools und hat ein umfassendes Programm entwickelt, um Schulen in den Ländern, in denen UNICEF tätig ist, zu beeinflussen. Es sollte eigentlich child rights schools heißen, aber diejenigen, die das Programm entwickelt haben, wollten die Schulverantwortlichen nicht verschrecken. Es gibt viel Unaufgeklärtheit und Angst vor Kinderrechten. In Klammern: (Auch die Schulen, die ich gesehen habe von UNICEF, haben Probleme.) Bitte nehmen Sie das Bild erst einmal so hin, und lassen Sie uns hierher in unser Land zurück springen.
Ich behaupte, dass man dieselbe Geschichte von der Überlebensschule an einigen Stellen mit ein paar anderen Worten für unser Land einfach wiederholen kann. Zunächst scheinen Überleben, Camp, Lager Begriffe zu sein, die verführen, das alles für so weit weg zu halten. Das aber entspricht weder intellektuellen Analysen noch dem Gefühl, das in vielen Menschen steckt. Wir leben im Wandel, in Transition, im Übergang, in der Krise, unter dem Druck von Migration, sozialer Ungleichheit, Knappheit und all den Nebenwirkungen, die dazu kommen. Wir wissen, dass es so nicht weitergeht wie bisher, haben einige der Bedrohungen erkannt und ahnen, dass wir sie nicht mit einem technischen Supertrick, sondern nur durch neue Lebensformen bewältigen können. Ist das nicht Überlebenssituation in einem Camp?
Auch unsere Kinder wissen, dass nicht der curriculare Elefant an der Wand das Überleben sichern wird. Natürlich wollen sie lesen, schreiben und rechnen lernen und in allen PISA- und sonstigen Tests genug Punkte sammeln, aber wenn man mit ihnen redet – und ich habe es wirklich oft genug in meinen Kinderforschungen getan –, dann erfährt man, wie genau sie wissen, dass das Leben ganz andere Themen und Probleme für sie bereithält: Klimawandel, Ernährung, Wasser, Energie, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Gewalt, Zusammenleben in einer heterogenen Welt, in einer friedlosen Welt. Sie haben Sorgen, sie haben Ängste, sie haben Hoffnungen, sie wollen ein gutes Leben, aber wer nimmt sich dieser Kinder an? Wo ist die Schule, die das Recht der Kinder darauf erfüllt, die Fähigkeiten zu entwickeln, die man für gemeinsames Überleben in diesen Zeiten des Wandels, der Veränderung, des heraufziehenden Neuen braucht.
Mit der Ratifikation der Kinderrechtskonvention hat auch unser Staat den Kindern die Schule zugesichert, die sie auf die reale Welt vorbereitet. Es ist eine Schule, die auf das Kindeswohl ausgerichtet ist (Artikel 3), ein Wohl, das unter Beteiligung der Kinder zu bestimmen ist (Artikel 12), und die inhaltlich von den Zusicherungen der Konvention bestimmt ist. Beteiligung ist das Entwicklungsmedium der Kinder. Durch Beteiligung können sie ihre Sicht, ihre Ängste, ihre Erfahrungen einbringen, können sie die Schwierigkeiten entdecken, können sie ihre Fähigkeiten entwickeln, ihren Blick für gute Lösungen, für Fairness, für Gerechtigkeit schärfen. Beteiligung, aber nicht nur an von anderen, von Experten gesetzten Themen, sondern Beteiligung impliziert auch das Recht der Kinder, die Themen mitzubestimmen und auf die Tagesordnung der Schule zu setzen, das, was sie bedrängt: Gewalt, Drogen, Zukunftssorgen, Umwelt.
Dies zeigt, dass Beteiligung nicht eine Formalie ist, Beteiligung ist auch unter unseren in die Krise geratenen Lebensverhältnissen eine Überlebensnotwendigkeit, denn die neue Lebensformen, die wir brauchen, können nicht der heranwachsenden Generation auferlegt werden, wenn sie 18 geworden ist, sondern diese Lebensform müssen mit den Kindern gemeinsam entstehen. Und wir überleben nur, wenn Menschen sich nicht mit Hauen und Stechen von knappen Ressourcen den größten Anteil zu sichern versuchen, sondern wenn sie gelernt haben, miteinander auszuhandeln, durchaus auch miteinander auszustreiten, wie die knappen Ressourcen zum besten Vorteil für alle genutzt werden können.
Beteiligung, Demokratiekompetenz sind zukunftssichernd. Wir sind ein Entwicklungsland, das seine Kinder braucht. Was tun? Wir haben die Kinderrechtskonvention, die Kindeswohl, Entwicklung und Beteiligung ins Zentrum stellt. Und doch glaube ich nicht, dass man irgendetwas vorschlagen kann, was sie gleichsam über Nacht zur Realität macht. Ich habe drei Punkte. Es besorgt mich, dass die Konvention nicht genug bekannt ist, und zwar bei Erwachsenen und Kindern. Man sagt oft, die Kinder kennen sie nicht. Stimmt, aber der Anteil nimmt übrigens zu. Aber auch die Erwachsenen müssen sie kennen und vor allem begreifen. Und daher schlage ich vor, eine Einheit Kinderrechte, insbesondere Beteiligung von Kindern in alle Ausbildungen für Berufe, die mit Kindern kooperieren, zu integrieren. Zum Zweiten, die neue Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung hat eine unabhängige Monitoringstelle, die beobachtet, wie die Konvention umgesetzt wird und die Empfehlungen ausspricht. Eine solche unabhängige Einrichtung ist auch für die Überwachung der Kinderrechte und ihrer Umsetzung dringend erforderlich und sollte unter die Fittiche des Deutschen Menschenrechtsinstituts, das sichert ihre Unabhängigkeit.
Drittens, ich möchte, dass alle Schulen sich die Kinderrechtskonvention vornehmen und bestimmen, welche Artikel der Konvention für sie eine besondere Bedeutung haben und woran diese Schule konkret arbeiten sollte. Sich vornehmen verlangt, dass Lehrer, Eltern und Kinder, Schüler gemeinsam Themen festlegen. Solche Themen könnten Gewalt in der Schule, Integration randständiger Kinder, ungesunde Arbeitsweisen in der Schule, Beschämung von Kindern mit Lernschwächen, aber auch curriculare Erweiterungen, Energie und Schule, Plastik, Inklusion sein. Nicht als curriculare Themen der Schule, sondern als Lebensthema der Kinder und nicht für die Freizeitbeschäftigung am Nachmittag der Ganztagsschule, sondern als Kernthemen des Unterrichts mit dem Ziel, etwas gemeinsam zu erarbeiten, was das Zusammenleben verändert, was Überleben sichert und was Demokratie entstehen lässt, immer wieder neu entstehen lässt mit den Kindern.
Stuttgart, 27. April 2012