In den öffentlichen Debatten erscheint das deutsche Bildungssystem oft als schwerfälliger Tanker mit Entwicklungsrückstand und mangelhafter Leistungsbilanz. Sieht man genauer hin, kam aber gerade in der letzten Dekade viel Bewegung ins System. Als Motor dieser Entwicklungen wirkte zu Beginn des neuen Jahrtausends das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in internationalen Vergleichsstudien wie PISA. Außerdem erhöhten auch der demografische Wandel und die steigenden Qualifikationsanforderungen am Arbeitsmarkt den Handlungsdruck auf Bildungspolitik und -verwaltung. Was sich verändert, können Wissenschaftler seit 2006 über alle Bildungsbereiche hinweg mithilfe einer fortlaufenden Bildungsberichterstattung beobachten: Wie hat sich zum Beispiel das Angebot an Bildungseinrichtungen in Deutschland gewandelt? Von wem werden welche Einrichtungen wie lange besucht? Verzeichnen wir heute zunehmend bessere Bildungsergebnisse, also höhere Kompetenzen und Abschlüsse? Wo bleiben Herausforderungen im Bildungssystem bestehen?
Anhand der Daten zu den Einrichtungen, Teilnehmern und Ergebnissen der institutionalisierten Bildung gibt dieser Beitrag einen Überblick über die wesentlichen Veränderungen im deutschen Bildungssystem im letzten Jahrzehnt.
Die Bildungslandschaft wird vielfältiger
Zunächst: Das Bildungswesen vereint fünf sehr verschiedene, historisch gewachsene Bildungsbereiche unter einem Dach. Deren Verwaltung, Organisation und Funktionsweise war in Deutschland traditionell weitgehend voneinander abgeschottet – nicht zuletzt weil Zuständigkeiten unterschiedlich auf Bund, Länder und Kommunen verteilt sind. Umso erstaunlicher ist, welche weitreichenden Veränderungen sich nun innerhalb und zwischen diesen Bildungsbereichen abzeichnen:
(Abbildung 1) Zum einen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass frühkindliche Entwicklungsprozesse ganz entscheidend für die weitere Lernentwicklung von Kindern sind. Zum anderen kommt die Politik damit auch den gewandelten gesellschaftlichen Ansprüchen an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach. Ab August 2013 gilt nun sogar ein Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung für Ein- und Zweijährige. Um bis dahin genügend Betreuungsplätze für voraussichtlich 37 Prozent der unter dreijährigen Kinder anbieten zu können, muss der Staat vor allem in Westdeutschland verstärkt Angebote zur Kinderbetreuung schaffen.Im Schulwesen hingegen konnten viele öffentliche Schulstandorte nicht aufrechterhalten werden.
Angesichts der demografisch rückläufigen Schülerzahl und der angespannten Haushaltslage in den zuständigen Bundesländern und Kommunen wurden zahlreiche Schulen geschlossen – in den ostdeutschen Flächenländern seit 1998 immerhin mehr als ein Drittel. Inzwischen haben daher fast alle Bundesländer ihre Schulstrukturen angepasst: Die traditionell getrennten Bildungsgänge Hauptschule, Realschule und Gymnasium findet man heute vielerorts unter einem Dach. Damit reagierte man auch auf die schwindende Akzeptanz der Hauptschule in der Bevölkerung sowie auf neue Zielstellungen der Bildungspolitik. Nach Jahrzehnten ideologischer Grabenkämpfe um das dreigliedrige Schulsystem zeichnet sich nun in der Mehrzahl der Länder der pragmatische Trend ab, neben dem Gymnasium künftig (nur) noch Schularten mit zwei oder allen drei Bildungsgängen anzubieten. Somit kann ein und derselbe Schulabschluss in verschiedenen Einrichtungen erreicht werden: Schularten und Schulabschlüsse entkoppeln sich zunehmend voneinander.Entwicklung öffentlicher und privater Bildungsangebote zwischen 1998 und 2010 (bpb) Abbildung 2: Entwicklung öffentlicher und privater Bildungsangebote zwischen 1998 und 2010 (
Interner Link: Mehr dazu... ) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/Abbildung 2: Entwicklung öffentlicher und privater Bildungsangebote zwischen 1998 und 2010 (
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(Abbildung 2). Besonders in Ostdeutschland, wo vor der Wiedervereinigung nur wenige Schulen in freier Trägerschaft bestanden, stieg die Zahl der Privatschulen zwischen 1998 und 2010, nämlich von 285 auf 837 Einrichtungen. In Deutschland werden Privatschulen überwiegend von gemeinnützigen Trägern ohne kommerzielle Interessen geführt. Dennoch kann es insbesondere für Großstädte nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Eltern entlang ihres sozialen Hintergrunds für bestimmte Schulen entscheiden und damit eine zunehmende Entmischung der Schülerschaft einhergeht.Mit dem allmählichen Übergang von der Halbtags- zur Ganztagsschule durchläuft das Schulwesen einen tief greifenden Wandel. Im Zusammenspiel von Unterricht, extracurricularen Angeboten und außerschulischen Aktivitäten folgt der Alltag der Schüler heute vielerorts einem ganz anderen Rhythmus als noch vor zehn Jahren. Während noch 2002 bundesweit gerade einmal 16 Prozent aller Schulen Ganztagsbetrieb anboten, trifft dies inzwischen auf mehr als die Hälfte der Schulen zu. Allerdings wurden in erster Linie offene Ganztagsschulen ausgebaut, in denen die Teilnahme am Ganztagsangebot nicht für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend, sondern freiwillig ist.
Neuzugänge im Berufsbildungssystem 2000 und 2010 nach Schulabschlüssen (Anzahl). (bpb) Abbildung 3: Neuzugänge im Berufsbildungssystem 2000 und 2010 nach Schulabschlüssen (Anzahl) (
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Es fängt Jugendliche ohne Chance am Ausbildungsmarkt in vielfältigen Maßnahmen der Berufsorientierung und -vorbereitung auf. Jedoch führen diese Maßnahmen zu keinem Berufsabschluss und laufen weitgehend unkoordiniert nebeneinander. Für die Jugendlichen handelt es sich daher meist um Warteschleifen. Diese nutzen sie teilweise dazu, einen Schulabschluss nachzuholen. Durch den demografischen Wandel ging die hohe Nachfrage nach Ausbildungsplätzen inzwischen zurück. Dennoch hat sich speziell für diese Jugendlichen die Übergangssituation in den Ausbildungsstellenmarkt kaum verbessert (Abbildung 3).Zugleich ist die Nachfrage nach Hochschulbildung bei jungen Menschen sprunghaft angestiegen.
Haben im Jahr 1995 noch 260.000 junge Menschen ein Studium begonnen, so hat sich die Studienanfängerzahl in 2011 mit mehr als einer halben Million fast verdoppelt. Im Zuge des Hochschulpakts von Bund und Ländern wurde daher seit 2005 das Studienangebot – vor allem an den Fachhochschulen – deutlich ausgebaut. Parallel führten hochschulpolitische Reformen und Initiativen wie der internationale Bologna-Prozess zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Hochschulwesens, die weit über neue Studienordnungen und -abschlüsse hinausgeht.
Bildungsangebote werden individueller genutzt
Da sich die deutsche Bildungslandschaft gerade in den letzten zehn Jahren weit aufgefächert hat, können die Menschen ihre individuellen Bildungsziele heute auch auf unterschiedlichen Wegen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebenslauf verfolgen. War der Durchgang durch die Bildungsinstitutionen selbst vor 20 Jahren noch relativ starr vorgezeichnet, werden die Bildungsverläufe heute zunehmend flexibel und individuell gestaltbar. Doch nicht alle Menschen profitieren in gleicher Weise von der Vielfalt der Möglichkeiten: Während einige ihre Bildungserfolge vom frühkindlichen Alter an Schritt für Schritt steigern, tragen andere lebenslang an den Folgen ungünstiger Startchancen.
Kindertagesbetreuung wird zunehmend zu einem selbstverständlichen Teil der Bildungsbiografie, doch nicht alle Sozialgruppen nehmen diese Angebote gleichermaßen wahr.
Mit nur 16 Prozent Beteiligung nehmen unter dreijährige Kinder aus Einwandererfamilien nur halb so häufig an frühkindlicher Bildung teil wie unter Dreijährige ohne Migrationshintergrund (Abbildung 1). Doch gerade die Vorschulkinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, bräuchten vermehrt Sprachförderung – das zeigen die bereits in 14 Bundesländern eingeführten Sprachtests. Wenn Kinder die deutsche Sprache frühzeitig im Kita-Alltag lernen, kann das dazu beitragen, dass sie nicht bereits mit Kompetenzrückstand eingeschult werden. Damit zugleich der Übergang in die Schule je nach Ausgangslage des Kindes zeitlich flexibler gestaltet werden kann, hat die Mehrzahl der Bundesländer inzwischen eine variable Verweildauer der Kinder in den ersten beiden Jahrgangsstufen der Grundschule eingeführt.Immer mehr junge Menschen besuchen höher qualifizierende Schulen – dieser langfristige Trend ist ungebrochen.
Hauptschul- und Gymnasialbesuch von 15-Jährigen in den Jahren 2000 und 2009 nach sozialer Herkunft (bpb) Abbildung 4: Hauptschul- und Gymnasialbesuch von 15-Jährigen in den Jahren 2000 und 2009 nach sozialer Herkunft (in Prozent) (
Interner Link: Mehr dazu... ) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/Abbildung 4: Hauptschul- und Gymnasialbesuch von 15-Jährigen in den Jahren 2000 und 2009 nach sozialer Herkunft (in Prozent) (
Interner Link: Mehr dazu... ) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/Da heute mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse anstreben, verbringen sie insgesamt eine längere Zeit im Schulwesen als frühere Generationen.
Gingen die 1950 Geborenen noch durchschnittlich neun Jahre lang zur Schule, so waren es bei den 1985 Geborenen bereits elf Jahre. Weil dieser Zeitverbrauch heute stärker hinterfragt wird, zielen einige jüngere Bildungsreformen auf einen effizienteren und zugleich auf einen flexibler gestaltbaren Umgang mit Zeit im Schulwesen. So können etwa in der flexiblen Schuleingangsphase leistungsstarke Schülerinnen und Schüler bereits nach einem Jahr in die dritte Jahrgangsstufe aufrücken, leistungsschwachen Kindern werden drei Jahre dafür eingeräumt. Ebenso kann das Abitur inzwischen in fast allen Ländern in einem auf acht Jahre verkürzten Gymnasialbildungsgang (G8) erworben werden, an Schulen mit mehreren Bildungsgängen stehen dafür neun Jahre zur Verfügung.Bereits jede zweite Schule hält Ganztagsangebote bereit, doch nur jeder vierte Schüler nimmt daran teil.
Die meisten Schulen bieten inzwischen Ganztagsbetrieb an, allerdings mit freiwilliger Schülerbeteiligung und an einigen Schulen auch nur als einzelne Ganztagsklassen. Insofern wird das Potenzial der Ganztagsschule, einen flexibleren Umgang mit Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungszeiten zu ermöglichen, noch zu wenig ausgeschöpft.Obwohl immer mehr junge Menschen das Abitur erreichen, schlägt sich dies nicht in gleichem Maße bei den Studienanfängerzahlen nieder.
Noch in den 1990er Jahren nahm nur einer von acht Jugendlichen mit Abitur nach der Schulzeit kein Studium auf, heute sind es doppelt so viele. Stattdessen entscheiden sich mehr Abiturienten für eine berufliche Ausbildung. So stellen Studienberechtigte inzwischen in Ausbildungsberufen wie Bankkaufmann/-frau, Steuerfachangestellte/r oder Mediengestalter/-in sogar die Mehrheit der Auszubildenden.Gering qualifizierte Jugendliche bleiben auf der Strecke, je mehr die Ausbildungseinrichtungen und Hochschulen um hoch qualifizierte Schulabsolventen konkurrieren
(Abbildung 3). In vielen Ausbildungsberufen gibt es trotz der rechtlich verbrieften Zugangsfreiheit in der Praxis erhebliche Zugangsbarrieren für gering qualifizierte Jugendliche. Tendenziell hat das duale System somit eine traditionelle Stärke eingebüßt, nämlich Menschen mit niedrigem Bildungsniveau durch eine Ausbildung beruflich zu integrieren. Ihre Zeit für eine berufliche Erstausbildung verlängert sich damit insgesamt, weil sie zunächst im Übergangssystem Schulabschlüsse nachholen oder aber von einer Maßnahme in die nächste wechseln, ohne sich dabei formal weiter zu qualifizieren.
Ungleichheiten in den Bildungserfolgen: Wer schafft es, wer nicht?
Seitdem der sprichwörtlich gewordene "PISA-Schock" das Bildungswesen aufrüttelte, verbesserten sich die Kompetenzen der Schüler sowohl in den Grundschulen als auch den Sekundarschulen messbar. Auch die Zahl der Jugendlichen ohne Abschluss geht zurück. Trotzdem bleibt eine große Zahl an Menschen mit allenfalls geringen Bildungserfolgen.
Nur langsam schrumpft die Risikogruppe von Menschen, die nur über mangelnde Kompetenzen verfügen und keinen Abschluss haben.
Davon sind vergleichsweise viele Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien und mit Migrationshintergrund betroffen. Zwar ist der Anteil der Jugendlichen, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen, zwischen 2006 und 2010 von 8,0 auf 6,5 Prozent gesunken. Aber der Anteil an leseschwachen Jugendlichen ist dreimal so hoch. Dies lässt auf eine nicht unbedeutende Zahl an Personen schließen, die trotz Schulabschluss kaum lesen können. Nach wie vor kann jeder fünfte Schüler im Alter von 15 Jahren nur einfachste Leseaufgaben bewältigen. Diese Jugendlichen können einem Text zwar einzelne Informationen wörtlich entnehmen, scheitern aber beim Lesen an einfachen logischen Verknüpfungen.Galten früher Mädchen und junge Frauen als bildungsbenachteiligt, so erzielen sie inzwischen größere Bildungserfolge als Jungen und junge Männer
Geschlechtsspezifische Unterschiede in ausgewählten Bildungsaspekten im Jahr 2010 (bpb) Abbildung 5: Geschlechtsspezifische Unterschiede in ausgewählten Bildungsaspekten im Jahr 2010 (in Prozent) (
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Abbildung 5: Geschlechtsspezifische Unterschiede in ausgewählten Bildungsaspekten im Jahr 2010 (in Prozent) (
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Wie die Bildungsbereiche jetzt zusammenarbeiten müssen
Die Bildungslandschaft ist bunter geworden. Es gibt vielfältigere Möglichkeiten, Bildungsverläufe zu gestalten: von kurzen Bildungswegen für Leistungsstarke bis hin zu verzögerten Karrieren der zweiten Chancen. Im Verhältnis zwischen den Bildungsinstitutionen sowie zwischen den Einrichtungen und ihren Nutzern ergeben sich daraus weitreichende Veränderungen:
Obwohl insgesamt die Bildungsbeteiligung und der Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland von der Kinderkrippe bis zur Hochschule stark zunahmen, ist es bisher nicht gelungen, die Bildungsungleichheiten zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen entscheidend zu verringern. Insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund, die weit häufiger in sozial schwachen Familien aufwachsen, stellen sich trotz einiger Verbesserungen noch zu selten Bildungserfolge ein. Dabei steigt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung weiter an und beträgt für Kinder im Vorschulalter bundesweit bereits 35 Prozent. Frühzeitige individuelle Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen wird damit immer bedeutsamer. Um die erweiterten Bildungsmöglichkeiten tatsächlich wahrnehmen zu können, muss jeder Einzelne stärker darin unterstützt und befähigt werden, seinen eigenen Bildungsweg in die Hand nehmen zu können.
Die Beseitigung der Bildungsungleichheiten geht auch deshalb so langsam voran, weil es sich hier um eine gesamtstaatliche Querschnittsaufgabe handelt. Trotz einer Fülle an bildungspolitischen Reformprojekten in der letzten Dekade bleibt der Eindruck bestehen: Auf gesellschaftliche Entwicklungen wie den demografischen Wandel, die veränderte Arbeitsmarktsituation oder neue Elternerwartungen wird jeweils nur in einzelnen Bereichen reagiert. Die historisch gewachsene organisatorische Trennung der Bildungsbereiche mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund, Ländern oder Kommunen erschwert ein abgestimmtes Vorgehen aller Akteure in Bildungspolitik, -verwaltung und -praxis. Was ist zu tun? Künftig wird es darauf ankommen, eine intensivere Zusammenarbeit über alle Bildungsbereiche aufzubauen und außerhalb der traditionellen Ressortpolitik das Verhältnis zwischen den Bildungseinrichtungen zielgerichtet aufeinander abzustimmen.