Kurzfristige Handlungsoptionen: Reaktion zeigen
Reagieren Sie – schweigen Sie nicht: Ignorieren Sie niemals Beleidigungen, Provokationen oder Diskriminierungen. Schule ist ein Ort, an dem die Würde aller Menschen gleich zählt.
Verschaffen Sie sich Zeit, um sensibel zu reagieren: Wenn Sie aus Zeitgründen, aus – pädagogischer oder thematischer – Unsicherheit oder aufgrund einer allgemeinen Unruhe in der Klasse die Sachlage spontan nicht thematisieren können: Machen Sie zumindest immer deutlich, dass Sie das Thema wieder aufgreifen werden. In einem solchen Fall kann es hilfreich sein, Notizen oder Fotos zu machen. Sie machen damit die Relevanz der Situation deutlich und behalten die Handlungsmacht.
Suchen Sie sich Unterstützung: Suchen Sie das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen (z. B. durch kollegiale Fallberatung). Besprechen Sie mögliche Interventionen in kurz-, mittel- oder auch langfristiger Perspektive. Ziehen Sie auch externe Beratung in Betracht. Projekte mit den Schülerinnen und Schülern vertiefen die Beschäftigung mit dem Thema. Wenn Sie externe Gäste (Zeitzeuginnen und -zeugen, "Role Models") einladen, machen Sie die Thematik auf eine empathische Weise nachvollziehbar.
Suchen Sie nicht die "Täterin" bzw. den "Täter", sondern suchen Sie das Gespräch über die Wirkung von Beleidigungen und Diskriminierungen jeglicher Art. Vermeiden Sie eine entlarvende und voreilig verdächtigende Pädagogik.
Nicht sanktionieren – sondern schaffen Sie Gesprächsanlässe: Sanktionen beenden jegliche Kommunikation und schaffen Hierarchien. Im Gespräch können Sie die Gründe für Beleidigungen identifizieren und möglicherweise pädagogisch auffangen.
Setzen Sie folgende kommunikative Elemente ein:
Sprechen Sie die Grenzüberschreitung an.
Unterstreichen Sie, dass alle Gruppen und Einzelpersonen in der Klasse zur Gemeinschaft gehören und anerkannt sind.
Deuten Sie den inhaltlichen Kontext und ordnen Sie das Geschehen ein:
Ist den Lernenden bewusst, was sie gesagt haben? Denken Sie an die pädagogische Unschuldsvermutung.Fragen Sie: "Hast du das wirklich so gemeint?" Geben Sie den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zur Erläuterung und zum Rückzug. Ermutigen Sie die Jugendlichen, den diskriminierenden Gehalt der Aussage zu erkennen. Bitten Sie andere, der Äußerung in einem konstruktiven Sinne zu widersprechen.
Fragen Sie nach: "Was sind die Gründe dafür, dass du das in dieser Weise gesagt hast?" So können Lebenserfahrungen im Gruppenkontext ernst genommen und die notwendigen Themen behandelt werden. Und Sie können damit Handlungsmotivationen ergründen.
Haken Sie nach: "Was genau meinst du damit? Woher weißt du das über People of Colour, über Jüdinnen und Juden?" etc. Forschen Sie mit Ihren Fragen nach den "Quellen", den Zielsetzungen und Motiven der Äußerungen. So können Sie zum Nachdenken und Überdenken der Haltung anregen oder Widersprüche offenlegen.
Geben Sie Raum zum Sprechen, vermeiden Sie aber "Gegenrede": Tragen Sie in dieser Situation dafür Sorge, nicht selbst in diskriminierende Diskurse zu geraten, etwa durch tendenziell pauschalisierende Aussagen wie: "Nicht alle Juden sind reich". So würden Sie einen vermeintlichen Realitätsbezug herstellen – der jedoch der Diskriminierung gerade nicht zugrunde liegt.
Sprechen Sie Ihre eigenen Gefühle an und fragen Sie nach den Emotionen der Schülerinnen und Schüler.
Machen Sie die weiteren Schritte transparent – unterstreichen Sie die (anhaltende) Bedeutung des Themas:
Auf persönlicher Ebene: Fordern Sie ggf. Entschuldigungen ein; setzen Sie das Gespräch fort; formulieren Sie Regeln des Miteinanders
Auf Klassenebene: Fördern Sie die weitere inhaltliche Auseinandersetzung; formulieren Sie Regeln des Miteinanders
Auf kollegialer Ebene: Kümmern Sie sich um einen kollegialen Austausch, eine Fallberatung und ggf. weitere Schritte
Auf Schulebene: Verfolgen Sie das Thema im Rahmen demokratischer Schulentwicklung und/oder der Leitbildentwicklung
Mittelfristige Handlungsoptionen:
Am Ball bleiben, Hintergründe aufklären und intervenieren
Die Äußerung / den Vorfall deuten und einordnen
Um herauszufinden, welche Intervention für welche Situation angemessen oder geeignet ist, muss der jeweilige Vorfall vorher differenziert reflektiert werden. Hier ist es vor allem wichtig, die verschiedenen Äußerungsebenen von Diskriminierungen in den Blick zu nehmen. Folgende Fragen dienen einer ersten Orientierung, um die unterschiedlichen Ebenen genauer zu bestimmen:
Handelt es sich um unreflektiert verwendete Stereotype oder Erzählungen – aus bloßem Unwissen um deren diskriminierenden Gehalt?
Geht es darum, anwesende Personen direkt zu diskreditieren? Dann kann es hilfreich sein, die Form der diskriminierenden Äußerungen einzuordnen bzw. die dahinterstehende Motivation oder das dahinterstehende Bedürfnis zu deuten.
Werden Verschwörungsideologien vertreten?
Werden menschenfeindliche Deutungen dazu instrumentalisiert, eigene Ungleichheits- und Diskriminierungserfahrungen zu erklären?
Geht es darum, programmatisch eine extrem rechte Ideologie zu vertreten?
Geht es darum, programmatisch eine islamistische Ideologie zu vertreten?
Im Blick auf Antisemitismus gilt es insbesondere diese Dinge zu berücksichtigen
Wird sekundärer Antisemitismus geäußert, etwa indem die Shoah relativiert oder geleugnet wird?
Wird israelbezogener Antisemitismus geäußert, indem der Nahostkonflikt über vereinfachte Täter-Opfer-Bilder dargestellt, der Staat Israel mit anti-jüdischen Stereotypen in Verbindung gebracht oder dessen Existenzrecht negiert wird?
Handelt es sich um antisemitische Deutungen in Form einer vermeintlichen Kapitalismuskritik, in der ausschließlich bestimmte Personen für soziale Ungleichheit verantwortlich gemacht werden (z. B. "böse Kapitalisten vs. arme Arbeiter"), also der Kapitalismus personifiziert und nicht als gesellschaftliches Verhältnis verstanden wird?
Multiperspektivität offenlegen und Stereotypen reflektieren
Legen Sie die Multiperspektivität der Sache offen: Die geäußerten Positionen der Schülerinnen oder Schüler sorgen dafür, dass die Lehrkraft in ihrer Rolle ihnen nicht allein gegenübersteht. Sie können die Auseinandersetzung an die Klasse weitergeben und damit eine mögliche Konfrontation zwischen Lernenden und Lehrenden minimieren.
Greifen Sie diskriminierende Äußerungen auf, um Stereotype zu reflektieren: In der Regel hat jeder Mensch schon einmal Erfahrungen mit Stereotypen gemacht: aufgrund des Geschlechts, der Körpergröße, der sexuellen Orientierung, Wohngegend etc.
Wie kommen Stereotype zustande?
Welche Funktion erfüllen sie?
Welche Konsequenzen haben sie?
Setzen Sie insbesondere antisemitische Äußerungen allgemein in Bezug zu Diskriminierungen:
Antisemitismus kann nicht getrennt von anderen Formen der Diskriminierung betrachtet werden. Alle im Klassenraum können gemeinsam eine diskriminierungskritische Perspektive einnehmen.Nutzen Sie die Argumentationsbasis Menschenrechte: Gegen Diskriminierung lässt sich nicht nur damit argumentieren, dass jemand im Raum betroffen ist oder sein könnte, sondern dass die problematischen Äußerungen oder Handlungen Menschenrechtsverletzungen darstellen.
Laden Sie Bildungsträger ein: Es gibt etliche außerschulische Bildungsangebote, die professionell auf verschiedene Dimensionen und Motive im Kontext von Diskriminierungen reagieren können. Da sie keine Noten geben müssen und nicht an den 45-Minuten-Takt gebunden sind, ergeben sich damit für viele Lernende neue, "unvorbelastete" Lernräume.
Ziehen Sie Begegnungsprojekte für Ihre Arbeit in Betracht: Durch externe Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen, durch Exkursionen u. a. m. lassen sich Mehrdeutigkeit und Multiperspektivität trainieren und fördern. Lernende können hier "Role Models" als Vorbilder kennenlernen, die sich gegen ideologische Vereinnahmungen der Ungleichwertigkeit engagieren.
Langfristige Handlungsoptionen: Die Schule demokratisch gestalten
Bauen Sie ein positives Verhältnis zu den Lernenden auf: Stärken Sie Vertrauen und Anerkennung, etwa durch Formate wie Morgenkreise, aktuelle Stunden oder Projekte mit außerschulischen Trägern etc.
Fördern Sie ein demokratisches Schul- und Unterrichtsklima: Schaffen Sie viele Möglichkeiten, bei denen die Schülerinnen und Schüler Unterricht und Schule mitbestimmen und mitgestalten können – ggf. auch in Kooperation mit dem schulischen Nahraum.
Bieten Sie lebensweltliche Bezüge an und reflektieren Sie diese: Bei der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust sind die Geburtenjahrgänge der Schülerinnen und Schüler eine Herausforderung. Deren Eltern- und Großelterngeneration hat keine direkte Verbindung mehr zum Zweiten Weltkrieg. Das Thema lässt sich aufgreifen, indem ein konstruktiver Transfer zur aktuellen Lebenssituation der Jugendlichen geschaffen wird.
Trainieren Sie das politische Urteilsvermögen: Das eigene Urteil ist immer eine Position von einem eigenen Standort aus; damit verbunden sind Grenzen und Auslassungen des eigenen Welt- und Problemverstehens. Es sollte aber im Idealfall unterschiedliche, widersprüchliche, kontroverse Perspektiven und Positionen berücksichtigen. Auch Machtverhältnisse und Narrative – die immer wieder kritisch reflektiert werden sollten – spielen für das Urteilen der oder des Einzelnen eine Rolle. Politische Urteile existieren nur im Plural und keines davon kann für sich in Anspruch nehmen, die einzige und ewig gültige Wahrheit auszudrücken.
Stärken Sie die Widerspruchs- und Ambiguitätstoleranz: Trainieren Sie mit den Jugendlichen immer wieder einen anerkennenden und produktiven Umgang mit Standpunkten und Haltungen, damit die Lernenden Widersprüche und Komplexität besser aushalten. Hierbei spielen die Wahrnehmung der Widersprüche wie auch der Umgang damit eine zentrale Rolle. Ungewissheit, Ambivalenz und Ambiguität lassen sich nicht mit Konzepten der Eindeutigkeit lösen – oder gar emotional durch Aggression, Wut, Hass oder Abwehr.
Trainieren Sie die Perspektivenübernahme: Insbesondere Rollen- und Planspiele ermöglichen, sich mit anderen Urteilen, Positionen und Widersprüchlichkeiten auseinanderzusetzen und möglicherweise die eigene Perspektive mit einer gewissen (weniger emotionsgeladenen) Distanz zu betrachten.
Nutzen Sie ganz bewusst die Diversität Ihrer Schülerinnen und Schüler: Schaffen Sie eine Lernatmosphäre, in der unterschiedliche Erfahrungen, Identitäten, Emotionen und Geschichten der Lernenden zur Geltung kommen und diese konstruktiv einbezogen werden für das gemeinsame Lernen und die Gestaltung von Schule und Unterricht.
Dekonstruieren Sie Verschwörungsnarrative: Entlarven Sie die Funktionen von Verschwörungserzählungen, wie sie Simplifizierungen oder die explizite Dämonisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen darstellen.
Ziehen Sie andere Sozialräume in Betracht, wenn es um Diskriminierung geht: Langfristige Handlungsstrategien gegen antidemokratische Tendenzen sollten auch berücksichtigen, dass Diskriminierung anderer Gruppen und menschenfeindliche Positionierungen nicht nur in der Institution Schule für Lernende relevant sind, sondern ebenso im Internet oder in bestimmten Musikstilen (Rap, Rock, Heavy Metal etc.) eine Rolle spielen und auf Jugendliche wirken.
Leitbildentwicklung: Die genannten Punkte können Sie proaktiv in konkrete Prozesse und Strukturen im Rahmen eines Leitbildprozesses überführen. Oft treten Diskriminierungsformen wie Antisemitismus (Rassismus, Sexismus etc.) gemeinsam auf. Ihre Schule ist aufgerufen, gegen jede Form von Diskriminierung vorzugehen.
Begreifen Sie Ihre Schule als lernende Institution. Nutzen Sie Kritik als Lernanlass. Organisieren Sie Wissensmanagement der Schule zu Diskriminierungen, nutzen Sie auch Fortbildungen zu diesem Thema und führen Sie pädagogische Tage mit dem Kollegium und Projekttage mit Klassen durch.
Erfinden Sie das Rad nicht neu – reflektieren Sie gemeinsam, woran sich anknüpfen lässt. Liegen bereits Konzepte zum Umgang mit Mobbing oder zur Prävention von Extremismus an der Schule vor? Welche Lehrkraft hat ausgewiesene Expertise im Bereich Prävention von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung? Welche externen Akteure im Sozialraum können Sie dabei unterstützen?