Unser pädagogisches Anliegen
Die dem Projekt DEKOS zugrunde liegende Didaktik beschreibt einen Ansatz, der die Schülerinnen und Schüler nicht "entlarven" will und sie nicht voreilig mit ihren Äußerungen identifiziert. Wir plädieren also für eine nicht verdächtigende Pädagogik gegen Antisemitismus, Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit u. a. m.
Um die Anliegen von Schülerinnen und Schülern ernst zu nehmen, ist ein Blick auf die Hintergründe ihrer Behauptungen notwendig. Es geht nicht um personelle Zuschreibungen, sondern darum, dass sie sich ihrer Äußerungen bewusst werden.
Ursachen identifizieren
Wenn Sie als Lehrkraft einzuordnen versuchen, auf welcher Ebene die Handlungsmotivation für eine Äußerung oder einen Vorfall liegt, tragen Sie dazu bei, die Situation zu deeskalieren. Und Sie ermöglichen, die Ursachen zu identifizieren, die auf einer anderen bzw. zusätzlichen zwischenmenschlichen Ebene liegen und pädagogisches Handeln erforderlich machen. Für alle Ebenen gilt: Suchen Sie das persönliche und - wenn möglich - vertrauensvolle Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern!
Ebenso gilt – unabhängig von mutmaßlichen Absichten, vermeintlichen Identitäten oder Weltbildern –, den konkreten Inhalt der diskriminierenden Aussage oder Handlung klar zu kennzeichnen. Zugleich sollten Sie deutlich machen, dass mit Ihrem Anliegen ein universelles Prinzip verbunden ist: Keine Menschengruppe darf durch Äußerungen oder Taten beleidigt oder diskriminiert werden.
Antidemokratische Äußerungen und ihre zugrunde liegenden Muster
Antidemokratische Äußerungen …
… als Ideologie
Antisemitismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit können aufgrund einer gefestigten Ideologie und einer geschlossenen Weltanschauung auftreten. Die Ideologie dient in diesem Fall dazu, die Welt zu verstehen und zu erklären. Hierbei werden in der Regel eindeutig Schuldige festgelegt. Lehrkräfte müssen sich dann darauf konzentrieren zu erkennen, was hinter dem jeweiligen menschenfeindlichen Verhalten und einer entsprechenden Äußerung oder Handlung steckt. Solchen starren, stabilen oder ideologischen Bekundungen erfordern konsequentes Entgegentreten.
… als Fragment
In dieser Erscheinungsform nutzen Schülerinnen und Schüler einzelne Elemente gruppenbezogener Deutungen für inkonsistente Stellungnahmen, ohne dass hierbei eine geschlossene Weltanschauung zugrunde liegt. Solche menschenfeindlichen Fragmente erscheinen plausibel, einfach und sind scheinbar rational. Sie wirken attraktiv, weil sie leicht eingängig sind. Dies erklärt ihre weite Verbreitung.
… als Stereotype
Stereotypen beschreiben die Aneignung von Alltagsäußerungen, beispielsweise "Juden sind reich" oder "Schwarze sind faul". Häufig sollen sie Meinungen begründen und werden für Tatsachen gehalten. Dabei ist ihr ausgrenzender Gehalt denjenigen, die sich so äußern, möglicherweise unbewusst. Solche Stereotype sind langlebig und werden oft immer weiter reproduziert.
… als jugendkulturelle Rhetorik
Von jugendkultureller Rhetorik bei rassistischen, antisemitischen und anderen Äußerungen sprechen wir, wenn beispielsweise "Du Jude" als weit verbreitete Äußerung und Schimpfwort aufgegriffen wird, um sich bzw. die eigene Gruppe von anderen abzugrenzen. Diese Rhetorik nutzt ein bestimmtes Vokabular, um Beleidigungen zu äußern oder eine Differenzmarkierung bzw. Markierungen von (Nicht )Zugehörigkeit vorzunehmen.
… als Provokation
Bei einer Provokation wird das Wissen über tradierte Stereotype und über deren Anstößigkeit eingesetzt, um beispielsweise die Lehrkraft im Unterricht herauszufordern. Häufig dienen Provokationen dazu, von eigenem Fehlverhalten abzulenken. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit kann auch dadurch motiviert sein, die Welt verstehen zu wollen. Auf der Suche nach schwer zu verstehenden Ereignissen, wie etwa der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus, geben z. B. antisemitische Konstruktionen vermeintlich plausible Erklärungen, ohne dass deren Problematik sofort bewusst wird.
Zur Einordnung der konkreten Sachlage
Persönlicher Konflikt: Handelt es sich bei der Auseinandersetzung um einen persönlichen Konflikt auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler? Ist der verursachenden Person die dahinter liegende diskriminierende Bedeutung bewusst? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen betroffener und verursachender Person?
Suchen Sie das persönliche Gespräch und machen Sie – wenn nötig – Angebote zur Konfliktlösung. Die Äußerung oder Handlung muss als Grenzüberschreitung gekennzeichnet werden, aber es ist wichtig, zugewandt zu bleiben. Je stärker die ausübende Person sich weiterhin respektiert fühlt und keine Sanktionen fürchtet, desto offener wird sie sich im Gespräch und dem Sachverhalt gegenüber zeigen. Für den weiteren gemeinsamen Weg können Sie dann mit den Handelnden zusammen Regeln formulieren.Provokation: Die Äußerung oder Handlung richtet sich möglicherweise nicht gezielt gegen Mitschülerinnen oder Mitschüler, sondern ist eine (beabsichtigte) Provokation der Lehrkraft. Auch hier gilt es, das Gespräch zu suchen, die Gründe zu erfahren und dann Schritte für die weitere gemeinsame Interaktion abzusprechen. Zudem sollten Sie erläutern, dass diese Grenzüberschreitung keine legitime Handlungsoption ist.
Marginalisierungsgefühle, Emotionen und Deutungskonkurrenzen
Ernst nehmen: Diskriminierungen, die in einer Auseinandersetzung geäußert werden, hängen möglicherweise mit individuellen wie auch kollektiven Marginalisierungserfahrungen zusammen. Das heißt, eigene Erfahrungen mit Ausgrenzungen können in Auseinandersetzungen dann eine Rolle spielen, wenn diese auf andere Gruppen übertragen werden. Eventuell kann dies zu sogenannten "Opferkonkurrenzen" führen: Angehörige einer Gruppe haben das Gefühl, ihre erfahrenen Diskriminierungen, ihre verwehrte Teilhabe etc. werden in der Gesellschaft nicht vergleichbar mit denen einer anderen Gruppe gewertet.
Zum Beispiel können solche Marginalisierungsgefühle, emotionalen Deutungen oder "Opferkonkurrenzen" im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt auftreten. Verschiedene Gruppen, d. h. nicht nur sich als muslimisch verstehende, identifizieren sich mit der palästinensischen Seite. Dies kann sich in kritischen Positionen gegenüber Israels Sicherheits- und Siedlungspolitik ausdrücken, manchmal aber auch gegen den Staat Israel insgesamt (s. a. LINK Externer Link: Sharansky 3D-Test: Wann wird "Israel-Kritik" zu Antisemitismus?).
Ist ein Konflikt emotional aufgeladen, kann das mit familiären, nationalen oder auch religiösen Zugehörigkeiten zusammenhängen. (Vermeintliche) Marginalisierungsgefühle werden unabhängig vom Nahostkonflikt auch durch (z. B. antisemitische) Verschwörungsnarrative versucht zu kompensieren. Menschen jüdischen Glaubens werden dann als Verursacher von Bedrohungs- und Ohnmachtsgefühlen, für soziale Ungerechtigkeiten oder gesellschaftliche Abhängigkeiten verantwortlich gemacht. Dies nimmt häufig zu in Zeiten rasanter Veränderungen, von Umbrüchen und Krisen, etwa im Zuge der Industrialisierung, der Globalisierung oder im Kontext von Corona.
Keine Angst vor heißen Eisen: Beispiel Nahostkonflikt & Antisemitismus
Oft scheuen sich Lehrkräfte, das Thema Nahostkonflikt zu behandeln. Das Nichtthematisieren ändert allerdings nichts an den bestehenden Emotionen. Und gerade die hohe Emotionalität und damit verbundene Konflikthaftigkeit, die bis in die Schule wirken können, sprechen dafür, den Nahostkonflikt sowie den israelbezogenen Antisemitismus lebensweltorientiert aufzugreifen. Häufig sind hier starke Gefühle von Ungerechtigkeit gepaart mit wenig Wissen zur Geschichte, zur Komplexität und Multiperspektivität. Dies ist eine Gelegenheit, das Thema konstruktiv im Klassenraum aufzugreifen – vor allem, weil es andernorts selten Möglichkeiten gibt, kontrovers und gemeinschaftlich darüber zu sprechen.
Werden konfliktäre politische Themen in der Schule zu dominanten Themenbietet es sich an, auf Angebote externer Träger zurückzugreifen. Diese schaffen für die oft emotional aufgeladene Themen Freiräume für die Bearbeitung. Die Fachkräfte sind meistens dafür ausgebildet, mit herausfordernden Positionen und Äußerungen professionell umzugehen. Auch können externe Gäste ("Role Models") glaubwürdig über ihr Engagement gegen Diskriminierung, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus erzählen.
Pädagogische Unschuldsvermutung: Kein Generalverdacht!
Die pädagogische Unschuldsvermutung ist die Basis professionellen Handelns. So dürfen Schülerinnen und Schüler, die Religionsgemeinschaften angehören, welche zu Beginn der Bundesrepublik in Deutschland wenig verbreitet waren, nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Antisemitismus beispielsweise ist keine Gruppeneinstellung, sondern existiert unabhängig von Herkunft, Religion, Alter oder Geschlecht – und er ist kein "importiertes Phänomen". Dies anzunehmen, würde insbesondere davon ablenken, wie weit der Antisemitismus in allen Milieus der deutschen Gesellschaft verbreitet ist, und ihn verharmlosen.
Die jungen Menschen in einem Klassenraum haben meistens noch kein geschlossenes, antisemitisches Weltbild. Vielmehr reproduzieren sie zu politischen Themen Fragmente aus Narrativen, die sie durch Peers oder in Milieus mitbekommen. Das heißt in aller Regel auch, dass sie offen sind für Irritationen und Dekonstruktionen – die wiederum durch multiperspektivische Angebote ermöglicht werden.
Weitere Ansätze für den Umgang mit migrationsbedingter Diversität in der Schule
Thematisierung und Anerkennung von Benachteiligung, von (Un- )Gerechtigkeitsempfinden, Diskriminierungserfahrungen, Ungleichheitsstrukturen, Benachteiligungen: Auf der Basis von Menschrechts- und Demokratiebildung können Sie im Unterricht die Rechte auf Teilhabe und Umsetzungsmöglichkeiten thematisieren sowie Gesellschaftsstrukturen untersuchen. Ebenso können Sie hier Verschwörungsnarrative bzw. irrationale, simplifizierende, realitätsreduzierende Deutungen konterkarieren, indem Sie politische, ökonomische oder ökologische Veränderungen rational erklären.
Verschiedene Erinnerungskollektive: In der Migrationsgesellschaft treffen diverse Erinnerungskollektive aufeinander, die im öffentlichen Diskurs nicht unbedingt gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Migrierte oder geflüchtete Lernende werden in Schule und Gesellschaft mit Narrativen konfrontiert, die sich vorrangig auf Deutschland oder Europa beziehen. Viele von ihnen haben persönlich traumatische Erlebnisse von Krieg, Flucht und Ankommen in einer neuen Gesellschaft – und zugleich erfahren sie möglicherweise den Bedeutungsverlust ihrer Erinnerungskultur.
Schule als soziale Kontaktzone: Schule kann einen Raum eröffnen, in dem Erinnerungskollektive ausgetauscht und kennengelernt werden. Dies ist sicherlich konfliktreich, emotional und es muss um Deutungen gerungen werden, kann aber konstruktiv in Bildungsangebote überführt werden, um gemeinsame Lernprozesse zu ermöglichen.
Bedeutung von Multiperspektivität: Ein einseitiger Blick (Monoperspektivität) auf geschichtliche Ereignisse kann Marginalisierungsempfindungen verstärken. Deutschland- oder europazentrierte Darstellungen erfassen weder die Lebensrealität in deutschen, von Vielfalt geprägten Schulklassen noch die historische Komplexität.
Grenzen von Kontroversität: Trotz einer Öffnung gegenüber vielen kontroversen Perspektiven gibt es Grenzen der Kontroversität. Sie verlaufen dort, wo "Rechtfertigungen von Gewalt, Leugnung, Stigmatisierung, rassistischen und antisemitischen Denk- und Deutungsmustern sowie jeder Form von menschenverachtender Ideologie nicht gekennzeichnet werden. Gleichwohl sollte es möglich sein, sich mit divergierenden Ansichten und Deutungen angstfrei, offen und kritisch auseinanderzusetzen. Inklusion bedeutet, verschiedene Betrachtungsweisen ernst zu nehmen und allen Beteiligten zu ermöglichen, emanzipativ zu einem selbstbestimmten Urteil zu gelangen."
"Gemeinsame Erfahrungen" mit Vorurteilen und Ausgrenzung: Sowohl Schülerinnen und Schüler jüdischen als auch muslimischen Glaubens erfahren möglicherweise ähnliche Formen von Stigmatisierung und Fremdzuschreibung. Ein Austausch hierzu kann Empathie fördern. Dennoch ist zu beachten, dass Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus unterschiedliche Phänomene sind. Gemeinsam sind diesen Gruppen gegebenenfalls die Erfahrungen,
pauschal als "nicht deutsch" oder als "fremd" etikettiert zu werden;
als Repräsentantin oder Repräsentant einer Religion (Islam) oder eines Landes (Israel) wahrgenommen zu werden und sich dafür rechtfertigen oder als Experten für entsprechende politische Angelegenheiten herhalten zu müssen;
dass Israel oder muslimisch geprägte Länder pauschal dämonisiert werden und erwartet wird, dass man sich dazu in irgendeiner Weise positioniert, es kommentiert oder sich distanziert etc.;
dass die eigene Religion mit extremistischen Strömungen innerhalb dieser Religion gleichgesetzt wird.