Jedes Jahr im Sommer richten sich die Blicke der indischen Bauern sorgenvoll gen Himmel. Im Juni beginnt die Zeit der Monsun-Regen. Es ist die wichtigste Zeit für die indische Landwirtschaft. Setzen die Sommerregen rechtzeitig ein? Und bringen sie die erwünschte Menge an Niederschlägen? Von diesen Fragen hängt nicht nur ab, ob die Bauern ein erfolgreiches Jahr haben – die gesamte Volkswirtschaft hängt davon ab. Denn trotz des viel beschriebenen IT-Booms ist Indien ein Agrarland geblieben.
33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) werden von den Bauern erwirtschaftet. Damit ist die Landwirtschaft noch immer der größte Wirtschaftszweig des Landes. Ein ausbleibender Monsun kann das Wirtschaftswachstum, das in im Jahr 2006 auf mehr als acht Prozent geschätzt wird, erheblich drücken. Für die Menschen hat das katastrophale Auswirkungen: 60 Prozent der Ernten bestehen aus Getreide und Hülsenfrüchten zur Versorgung der eigenen Bevölkerung. Zwei Drittel verdienen ihr Brot in der Landwirtschaft, das sind mehr als 600 Millionen Menschen. Jeder vierte Bauer weltweit ist Inder.
Vom Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre haben die indischen Landwirte nicht profitieren können. Im Gegenteil: Fast täglich ist in den Zeitungen von Suiziden unter Bauern zu lesen. Die Umweltaktivistin Vandana Shiva geht davon aus, dass sich landesweit in den vergangenen fünf Jahren rund 40.000 Bauern das Leben genommen haben. Für die Trägerin des Alternativen Nobelpreises kommt das einem "Genozid" gleich. "Die Selbstmorde sind ein Ergebnis von Schulden, und Schulden sind ein Ergebnis von steigenden Produktionskosten und fallenden Preisen, die mit der Handelsliberalisierung in Verbindung stehen", sagt sie.
Landflucht als Ausweg aus der Misere?
Wegen des starken Bevölkerungswachstums – derzeit 1,4 Prozent im Jahr – ist die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten seit der indischen Unabhängigkeit 1947 um etwa ein Drittel gewachsen. Zugleich ging die Größe der bewirtschafteten Flächen wegen der Aufsplitterung durch das Erbrecht von durchschnittlich vier auf 1,5 Hektar zurück. "1,5 Hektar wären noch immer ausreichend, um die Menschen zu ernähren, wenn wir eine andere Politik hätten. Aber das ist leider nicht der Fall", sagt der Agrarwissenschaftler Devinder Sharma. Er ist Gründer der Chakriya Vikas Foundation, die sich für nachhaltige Anbaumethoden in der Landwirtschaft einsetzt, und einer der schärfsten Kritiker der indischen Agrarpolitik.
Bei kleineren Anbauflächen sind die Bauern zum Teil gezwungen, sich als Tagelöhner zu verdingen, oder sie werden in die Schuldknechtschaft gezwungen, die eigentlich gesetzlich verboten ist. Zugleich besteht in einigen Unionsstaaten noch immer ausgedehnter Großgrundbesitz bei einer großen Anzahl landloser Bauern. Wer jung ist und Kraft hat, verlässt die heimatliche Scholle, um Arbeit in der Stadt zu suchen. Einer von ihnen ist Manoj, 23 Jahre alt, aus Jhansi im Unionsstaat Madhya Pradesh. Er ist mit dem Zug in Delhi angekommen – wie so viele in der Hoffnung auf ein besseres Leben. "Meine Familie ist noch zu Hause. Wir bauen auf unserem Hof Weizen, Rohrzucker und Linsen an. Aber Wasser ist das Hauptproblem", sagt er. "Ich hoffe, dass ich hier für zwei, drei Jahre Arbeit finde – warum sollte ich sonst von zu Hause weggehen?"
Die meisten der Landflüchtlinge landen in den Slums der großen Städte. "Delhi besteht heute schon zu 40 Prozent aus Slums, und es gibt Schätzungen, wonach diese Zahl bis 2010 auf 80 Prozent steigen könnte", so Devinder Sharma.
Spätfolgen der "Grünen Revolution"
Grund für die Misere sind vor allem die Spätfolgen der so genannten Grünen Revolution, die von der Regierung nach wie vor als einer der größten Erfolge in der indischen Geschichte nach der Unabhängigkeit gefeiert wird. Durch neue Hochertragssorten und den Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln wurde Indien in den 60er Jahren von Nahrungsmittelimporten unabhängig. So konnten etwa beim Weizenanbau Ertragssteigerungen bis zu 100 Prozent erzielt werden. Katastrophale Hungersnöte wie 1943 unter britischer Herrschaft im Unionsstaat Bengalen, bei der drei Millionen Menschen starben, gibt es in Indien seitdem nicht mehr.
Dennoch ist der Hunger nicht besiegt. Nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) leben 50 Prozent der weltweit Hungernden in Indien. 35 Prozent der indischen Bevölkerung, also 350 Millionen Menschen, nehmen weniger als 80 Prozent der täglich erforderlichen Energiemenge zu sich. Neun von zehn schwangeren Frauen leiden unter Mangelernährung. Mehr als die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ist unterernährt.
Zugleich hatte die Grüne Revolution verheerende Folgen für die Umwelt. Denn mit dem Einsatz von Düngemitteln und neuen Sorten ging eine Industrialisierung der Landwirtschaft einher, die traditionelle Anbaumethoden verdrängte und das Land teilweise chemisch verseuchte. "Vor zehn Jahren wurden die negativen Folgen der Grünen Revolution sichtbar: zuviel Dünger, zu viele Pestizide, zu hoher Wasserverbrauch", sagt Devinder Sharma. "Aber statt umzusteuern, wurden nur noch mehr Düngemittel und Pestizide eingesetzt. Viele Anbauflächen sind inzwischen unbrauchbar."
Auch das Wasser begann knapp zu werden. "Die industrielle Landwirtschaft ist ein Wasser-Vernichter, sie braucht fünf Mal mehr Wasser als die traditionelle Landwirtschaft", sagt Vandana Shiva. "Zudem ist der Output pro Hektar bei gemischten Anbauflächen größer. Aber inzwischen findet man überall fast nur noch Monokulturen." Beim Bau großer Staudämme, gegen die Vandana Shiva mit ihrer Organisation Research Foundation for Science, Technology and Ecology (RFSTE) mobil macht, wurden in den vergangenen 50 Jahren 14 Millionen Menschen von ihrem Land vertrieben. Die meisten landen im Slum einer Großstadt.
Marktöffnung verschärft Bauern-Krise
Mit dem Beitritt Indiens zur Welthandelsorganisation (WTO) 1995 haben sich die Wirtschaftsbedingungen für die Bauern erneut verschlechtert. Denn durch die von den WTO-Regeln erzwungene Öffnung der Märkte 2001 strömen billige Agrarprodukte aus dem Ausland nach Indien. "Seit dem WTO-Beitritt sind die Agrarimporte um 400 Prozent gestiegen", sagt Devinder Sharma. "So importieren wir etwa inzwischen 50 Prozent unseres Speiseöls. Nicht etwa, weil wir es nicht selbst herstellen könnten, sondern weil es im Ausland billiger ist."
Gleichzeitig drängt die WTO die neuen Mitgliedsländer dazu, ihre Subventionen für die Landwirtschaft herunterzufahren, ohne dass dies im selben Maße in der EU und in den USA passieren würde. "Wir subventionieren unsere 600 Millionen Landwirte mit etwa einer Milliarde US-Dollar im Jahr", so Devinder Sharma. "Das wird als Handelshemmnis betrachtet, während die OECD-Staaten jährlich 360 Milliarden Dollar in ihre Landwirtschaft pumpen. Die Armen sollen nicht subventioniert werden, aber die Reichen. Das nenne ich Doppelmoral."
Mit dem WTO-Beitritt stellte sich zudem für Indien das Problem der Patentrechte, die vor allem von US-Unternehmen zum Teil aggressiv verfochten werden. Anfang der 90er Jahre erregten zwei Fälle die indische Öffentlichkeit: In einem beantragte der Biotechnologie-Gigant Monsanto ein Patent auf ein Extrakt des in Indien beheimateten Niembaumes, das hier seit Jahrhunderten als Hausmittel verwendet wird. Im anderen Fall wollte sich ein Unternehmen den aus Indien stammenden Basmati-Reis patentieren lassen. Erst nach massiven Protesten wurden die Vorhaben aufgegeben.
Druck der Gentechnik-Lobby wächst
Doch damit ist das Problem für die indischen Bauern nicht vom Tisch. Wegen der fallenden Erträge in der industrialisierten Landwirtschaft drängt seit einigen Jahren die mächtige Gentechnik-Lobby auf den Markt. Das Versprechen, mit gentechnisch modifizierten Arten höhere Erträge zu erzielen, hat sich jedoch für viele Bauern als Bumerang erwiesen. Zwar preisen die Konzerne den höheren Output sowie den geringeren Pestizideinsatz beim Anbau gentechnisch modifizierter Sorten. Doch die Nebenfolgen sind enorm. In einer im Mai 2006 veröffentlichten Studie weist die von Vandana Shiva gegründete Organisation Navdanya nach, dass die Selbstmordraten unter Bauern dort besonders hoch sind, wo die von Monsanto patentierte, gentechnisch modifizierte BT-Baumwolle angebaut wird. "Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Anbau von BT-Baumwolle einerseits sowie steigenden Produktionskosten, ausfallenden Erträgen und Selbstmorden unter Bauern", sagt Shiva.
Die neuen Saaten sind nicht nur teurer als die traditionellen. Die Industrie zwingt die Bauern auch dazu, jedes Jahr neues Saatgut zu kaufen, da diese Arten steril sind und die Bauern nicht wie früher einen Teil ihrer Erträge für die neue Aussaat zurücklegen können. Um sich das leisten zu können, müssen sie oft Kredite aufnehmen, die sie dann häufig nicht mehr zurückzahlen können.
"Die Saatgut- und Patentgesetze versuchen aus dem Zurücklegen und Teilen von Saaten ein Verbrechen zu konstruieren, indem sie Saaten als Besitz von Monsanto deklarieren. Damit werden wir gezwungen, Gebühren auf unser kulturelles Erbe zu bezahlen", so Navdanya. Die Organisation fordert deshalb ein Moratorium auf den Anbau von Baumwolle, bis eine unabhängige Studie über die sozioökonomischen Folgen des Anbaus von BT-Baumwolle und seine Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit erstellt ist.
Vandana Shiva und der Geschäftsführer der größten indischen Bauernorganisation Bharat Krishak Samaj, Krishan Bir Chowdhary, haben deshalb im Frühjahr 2006 eine so genannte Yatra, eine spirituelle Reise, durch den so genannten "Selbstmordgürtel" des Landes gestartet. Die Reise, die bis 2007 dauern und durch die Unionsstaaten Maharasthra, Andhra Pradesh und Karnataka führt, soll das Bewusstsein der Bauern wecken und ruft zum Boykott der BT-Baumwolle auf.
Der Text erschien im August 2006 in Ausgabe 32/33 der Zeitschrift "Das Parlament".