Indien und die Europäische Union (EU) nehmen im sich nach Ende des Kalten Krieges entwickelnden globalen Staatensystem des 21. Jahrhunderts eine bedeutete Rolle ein. Die tektonischen Platten der internationalen Beziehungen und die damit verbundenen strategischen Sicherheitsinteressen haben sich vor allem aufgrund zwei historischer Ereignisse dramatisch verschoben – der Vereinigung der beiden Deutschlands und des sich anschließenden Zerfalls der früheren Sowjetunion. Die Ost-West-Polarität der Welt gibt es nicht mehr, denn in Europa hatte eine Ideologie den Kürzeren gezogen.
Doch während man zu Beginn der 90er Jahre glaubte, in eine Ära erweiterter "Uni-Polarität" mit den USA als einzig verbliebener Supermacht einzutreten, haben die Ereignisse in den folgenden Jahren – wie die Terroranschläge des 11. September oder der Irak-Krieg – zu einer objektiveren Bewertung des internationalen Systems und der Herausforderungen für die Weltgemeinschaft geführt.
Indien und EU hatten zu Beginn des 21. Jahrhunderts jeweils eigene Wünsche und Sorgen und haben sich der veränderten Dynamik in unterschiedlicher Weise angepasst. Heute pflegt Neu Delhi mit den einzelnen Staaten der EU jeweils unabhängige bilaterale Beziehungen, wobei dem Verhältnis zu Deutschland nicht nur aufgrund historischer Verbindungen eine besondere Rolle zukommt – dass allerdings noch nicht zu beidseitigem maximalen Nutzen entwickelt wurde. Gleichwohl gibt es auf beiden Seiten den Willen, dieses geerbte Ungleichgewicht zu beseitigen.
Im Bereich der internationalen Politik haben Indien und die Bundesrepublik Deutschland auf den ersten Blick durchaus ähnliche Interessen. So streben beide Staaten eine Neuordnung des internationalen Systems im Rahmen der Vereinten Nationen an, was zuletzt im Herbst 2004 mit der gemeinsamen Initiative der "Gruppe der 4", zu der auch Japan und Brasilien gehörten deutlich wurde. Die G4-Initiative zielte auf eine zügige und ausgewogene Reform der UN-Institutionen, vor allem aber des Sicherheitsrates ab, in dem die vier Länder einen ständigen Sitz anstrebten. Angesichts der Widersprüche und Komplikationen, die die Reform in den letzten Jahren begleitet haben, scheint es allerdings wenig wahrscheinlich, dass die Länder mit ihrem Ansinnen in naher Zukunft Erfolg haben werden. Fakt ist jedoch, dass sich Neu Delhi und Berlin als legitime Anwärter auf einen Platz im Sicherheitsrat sehen und eine multipolare Weltordnung anstreben.
Während des Deutschlandbesuchs von Premierminister Manmohan Singh im April 2006 verständigten sich beide Seite darauf ihre strategische Partnerschaft auf Grundlage gemeinsamer demokratischer Werte und Interessen zu vertiefen und auf bisher Erreichtem aufzubauen. Bereits im Jahr 2000 hatten Indien und Deutschland eine "Agenda für die deutsch-indische Partnerschaft im 21. Jahrhundert" aufgestellt. Zudem kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die deutsche EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 zu nutzen, um auch den europäisch-indischen Dialog weiterzuentwickeln.
Strategisches Sechseck
Im Folgenden soll es um die Möglichkeiten einer strategischen und sicherheitspolitischen Annäherung gehen, wobei zwischen den Interessen der EU als Gemeinschaft und den staatlichen Interessen Deutschlands unterschieden wird.
Auf strategischer Ebene agieren die EU und Indien, wie eingangs erwähnt, als aufstrebende Akteure im internationalen System. Dass sich entwickelnden Gleichgewicht der Kräfte entspricht derzeit ein Sechseck, zu dem die USA, die EU und Russland auf der einen sowie China, Japan und Indien auf der anderen Seite gehören. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass es mittelfristig weitere Bewerber geben wird. Da die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Differenzen zwischen den Akteuren zum Teil sehr groß sind, ist es notwendig, hier eine Angleichung vorzunehmen. Die EU und Indien könnten innerhalb des Sechsecks als Achse wirken, auf der demokratische Werte und Normen sowie die damit verbunden politischen und ökonomischen Ziele in den Mittelpunkt gestellt werden – auch im Zusammenspiel mit den anderen Akteuren.
Gegenwärtig herrscht Konsens darin, dass sich das globale Gravitationszentrum nach Asien verschiebt, wo China, Japan und Indien die drei wichtigsten Wirtschaftsmächte sein werden. Die Vereinigten Staaten betrachten sich angesichts ihrer militärischen Präsenz in der Region selbst als "asiatische" Macht. Große Gebiete Russland wiederum sind Teil Asiens. Die EU ist in dieser geopolitischen Konstellation gezwungenermaßen der "Außenseiter". Und daher ist eine eingehende Analyse notwendig, um die Konturen einer zukünftigen europäischen Asien-Politik festzulegen. Da es jedoch bis heute keine einheitliche Strategie innerhalb der EU gibt (und in naher Zukunft wohl auch nicht geben wird), gehen alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Initiativen von den Einzelstaaten aus.
Für Deutschland als das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste EU-Land stellt sich in diesem Zusammenhang nicht nur die Frage, in welcher Form es sein politisches Engagement in Asien insgesamt, besonders aber gegenüber China und Indien entwickelt, sondern auch, wie es sich das strategische Umfeld vorstellt. Wie bewertet Berlin unter Berücksichtigung seiner Beziehungen zu den USA, seiner Verpflichtungen innerhalb der NATO sowie seiner innenpolitischen und ökonomischen Interessen sein Engagement in China und Indien? Mit was für einem Drachen und was für einem Elefanten möchte Deutschland kooperieren?
Dass diese wichtigen makro-strategischen Aspekte nicht von der Europäischen Unions als Ganzes angepackt werden können, bedeutet nicht, dass es für die EU und Indien keinen gemeinsamen Themenkatalog abzuarbeiten gibt. Im Gegenteil: Vor allem in den Bereichen Energie und Umwelt, etwa in Fragen der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, gibt es Ansatzpunkte. Es ist zu erwähnen, dass sich die EU und Indien während ihres inzwischen 7. Gipfeltreffens im Oktober 2006 darauf verständigt haben, ihre Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu verstärken. Ein entsprechender Aktionsplan wurde bereits auf dem 6. Gipfel im September 2005 verabschiedet, in dem die Grundlagen für die Erlangung einer sicheren, kostengünstigen und nachhaltigen Energieversorgung gelegt wurden. Indiens Teilnahme am gemeinsamen Forschungsprojekt zum Bau eines "Internationalen Thermonuklearen Experimentalreaktors" (ITER) ist dabei nur ein Beispiel für die laufende Zusammenarbeit.
Potenzial noch nicht ausgeschöpft
Im sicherheitspolitischen Bereich hat die EU bereits im Dezember 2003 ein entsprechendes Papier verabschiedet, in dem die Gefahren und Herausforderungen für die europäische Sicherheit identifiziert werden. Studien in Indien und den USA sind zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. So wurden von allen drei Akteuren der internationale Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, Schurkenstaaten sowie das organisierte Verbrechen benannt.
Deutschlandspezifische Punkte sind in der gemeinsamen deutsch-indischen Erklärung vom April 2006 zusammengefasst: "Beide Seiten kommen überein, die enge Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus sowohl durch regelmäßige bilaterale Konsultationen als auch durch Zusammenarbeit im multilateralen Rahmen fortzusetzen. Insbesondere werden sie sich weiterhin gemeinsam für eine Einigung innerhalb der Vereinten Nationen über ein umfassendes Übereinkommen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus einsetzen. Beide Seiten sind außerdem übereingekommen, Verhandlungen über ein Rechtshilfeabkommen in Strafsachen aufzunehmen, und streben einen raschen Abschluss dieser Verhandlungen an."
Eine deutsch-indische Arbeitgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus wurde bereits im März 1998 ins Leben gerufen und ist zuletzt im März 2006 zusammengekommen. Darüber hinaus wird für die beiden Staaten und die EU insgesamt eine Kooperation bei der Bekämpfung von Terrorismus, Drogenhandel und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen immer wichtiger. Die Präsenz von NATO-Einheiten in Afghanistan – zu denen deutsche Truppen gehören – und die sich immer weiter verschärfende Situation in Irak sind nur zwei Beispiele dafür, wie sicherheitspolitische Aspekte eine Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg notwendig machen. Und im Bereich der Massenvernichtungswaffen ist der Fall Abdul Kadir Khan – der "Vater des pakistanischen Atomprogramms" soll Kernwaffentechnik an Libyen, Iran und Nordkorea weitergegeben haben – nur die Spitze des Eisbergs, mit dem es sich auseinander zu setzen gilt.
An Themen für Austausch und Kooperation mangelt es Indien, Deutschland und der EU nicht. Gleichwohl haben die drei Parteien ihr Potenzial bei der Umsetzung gemeinsamer Interessen noch längst nicht ausgeschöpft. Doch es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Zustand in naher Zukunft ändern wird.