Als die Außenminister Indiens und Pakistans im Januar 2006 die dritte Rundes ihres so genannten Composite Dialogue, der gemeinsamen Gespräche, begannen, bekräftigten beide Seiten ihren Willen zur friedlichen Beilegung des Kaschmir-Konflikts. Inzwischen steht man wieder ganz am Anfang. Während eines Treffens hochrangiger Beamter und Diplomaten nur wenige Monate später hatte Indien das Thema Kaschmir erneut auf Eis gelegt und von Pakistan gefordert, konkrete Schritte gegen terroristische Aktivitäten zu unternehmen. Gemeint waren damit vor allem die gewaltsamen Zwischenfälle außerhalb des Unionsstaates Jammu und Kaschmir, wie die Anschläge in der Pilgerstadt Varanasi, bei denen im März 20 Menschen starben, oder die verheerenden Bombenattentate auf Vorortzüge in Mumbai (früher Bombay), die im Juli 2006 fast 200 Menschenleben forderten. Erst danach könne man erneut über bilaterale Fragen einschließlich des Kaschmir-Problems sprechen, hieß es.
Gleichwohl bekräftige Delhi zum wiederholten Male, dass man an einer "dauerhaften Beziehung" zu Pakistan interessiert sei. Während sich Indien in früheren Gesprächen jeglicher Diskussion über Jammu und Kaschmir verweigerte, bat der indischen Verhandlungsführer im Januar sein pakistanisches Gegenüber Ideen und Vorschläge zu unterbreiten, die zu einer Lösung des Konflikts beitragen können. "Wir sind bereit, uns alles anzusehen, was uns präsentiert wird", sagte Staatssekretär Shyam Saran und löste damit eine mehr als 30 Jahre anhaltende Blockade.
Bis 1975 waren Indien und Pakistan aktiv darum bemüht, eine Lösung für das Kaschmir-Problem zu finden – obwohl man zuvor dreimal Krieg gegeneinander geführt hatte (1947, 1965 und 1971). (siehe Infokasten) Doch nach einer Übereinkunft mit dem legendären Sheikh Abdullah – über Jahrzehnte einer der einflussreichsten Politiker Kaschmirs und glühender Verfechter des Rechts auf Selbstbestimmung – glaubte Indien, den Konflikt beigelegt zu haben und weigerte sich, mit dem Nachbarn über das Thema Jammu und Kaschmir zu verhandeln. Gemäß dem Abkommen mit der damaligen Premierministerin Indira
historischer HintergrundGeschichte des Kaschmir-Konflikts
Stefan Mentschel
Nach der
Fast folgerichtig brach nur zwei Monaten nach der Unabhängigkeit, im Oktober 1947, der Konflikt um Kaschmir aus. Das mehrheitlich von Muslimen bewohnte Fürstentum war zunächst unabhängig geblieben und strebte freundschaftliche Beziehungen zu Indien und Pakistan an. Nachdem jedoch von der pakistanischen Armee ausgerüstete Kämpfer in Kaschmir einrückten, bat der hinduistische Maharaja Neu Delhi um militärische Hilfe. Indien gewährte die angeforderte Unterstützung jedoch erst, nachdem Kaschmir seinen Beitritt zur Union erklärt hatte.
Der erste indisch-pakistanische Krieg von 1947 bis 1949 endete mit einem Waffenstillstand unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Anschließend wurde Kaschmir entlang der so genannten Line of Control geteilt – in das pakistanische Azad Kashmir ("Freies Kaschmir") und die Northern Areas sowie den indischen Unionsstaat Jammu und Kaschmir. Ein zweiter Krieg um Kaschmir wurde 1965 geführt, wobei der mit sowjetischer Vermittlung im Jahre 1966 zu Stande gekommene Vertrag von Taschkent den Status quo wieder herstellte.
Damit waren aber weder die territoriale Streitfrage um die Zugehörigkeit Kaschmirs noch der indisch-pakistanische Konflikt gelöst, der sich nach den militärischen Auseinandersetzungen beider Staaten zu einem latent kriegerischen Verhältnis ausgeweitet hat. Obwohl sich das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan in jüngster Zeit spürbar entspannt hat, ist Kaschmir nach wie vor Hauptstreitpunkt und dauerhafter Belastungsfaktor der bilateralen Beziehungen.
Dabei war das Problem keineswegs gelöst. Die Manipulation mehrerer aufeinander folgender Wahlen nach dem Tod Sheikh Abdullahs im Jahr 1983 riss alte Wunden wieder auf. Viele Kaschmiren, die sich mit der Zugehörigkeit ihrer Heimat zur Indischen Union abgefunden hatten, beklagten, dass die in der Verfassung garantierten demokratischen Grundrechte hinter den hoch aufragenden Bergketten, von denen Kaschmir umgeben ist, offenbar nicht gelten. Die Landtagswahlen von 1987, an denen besonders viele junge Leute teilgenommen hatten, brachten das Fass schließlich zum Überlaufen. Für alle offensichtlich wurde das Ergebnis zu Gunsten der gewünschten Sieger verschoben, wobei vor allem die Partei von Sheikh Abdullahs Sohn, Farooq Abdullah, davon profitierte. Beobachter glauben, dass dieses Wahlen Rechtfertigung und Auslöser für die bewaffneten Auseinandersetzungen waren, denen bis heute über 50.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. (siehe Tabellen) Trotzdem ging Indien allen Gesprächen über den Kaschmir-Konflikt aus dem Weg und beschuldigte Pakistan, den Konflikt anzuheizen.
Opfer terroristischer Gewalt in Jammu und Kaschmir – 2006
Zivilisten | Sicherheitskräfte | Terroristen | Gesamt | |
Januar | 11 | 9 | 49 | 69 |
Februar | 11 | 7 | 43 | 61 |
März | 14 | 13 | 43 | 70 |
April | 37 | 16 | 38 | 91 |
Mai | 75 | 13 | 52 | 140 |
Juni | 49 | 11 | 54 | 114 |
Juli | 36 | 10 | 63 | 109 |
August | 23 | 24 | 59 | 106 |
September | 28 | 22 | 61 | 111 |
Oktober | 21 | 23 | 64 | 108 |
November | 24 | 17 | 43 | 84 |
Dezember* | 11 | 1 | 23 | 35 |
Gesamt | 340 | 166 | 592 | 1098 |
*bis 18. Dezember 2006
Quelle: Institute of Conflict Management, Neu Delhi (Externer Link: http://www.satp.org)
Opfer terroristischer Gewalt in Jammu und Kaschmir – 2005
Zivilisten | Sicherheitskräfte | Terroristen | Gesamt | |
Januar | 41 | 16 | 61 | 118 |
Februar | 13 | 7 | 46 | 66 |
März | 45 | 8 | 64 | 117 |
April | 34 | 13 | 110 | 157 |
Mai | 60 | 28 | 110 | 198 |
Juni | 56 | 33 | 99 | 188 |
Juli | 64 | 24 | 155 | 243 |
August | 47 | 11 | 75 | 133 |
September | 55 | 22 | 90 | 167 |
Oktober | 44 | 25 | 84 | 153 |
November | 42 | 16 | 43 | 101 |
Dezember | 20 | 15 | 63 | 98 |
Gesamt | 521 | 218 | 1000 | 1739 |
Quelle: Institute of Conflict Management, Neu Delhi (Externer Link: http://www.satp.org)
Streben nach würdevollem Frieden
Erst im Januar 2006 keimte erneut Hoffnung, als Delhi die pakistanische Seite um Vorschläge für eine endgültige Lösung des Problems bat. Seitdem tauschen sich beide Seiten regelmäßig aus – zumeist mit Hilfe so genannter non-papers. Obgleich der Inhalt dieser Papiere offiziell nicht bekannt ist, wollen gut unterrichtete Quellen in Erfahrung gebracht haben, dass es inzwischen eine größere Übereinstimmung als jemals zuvor gebe. So fordert Pakistans Präsident Pervez Musharraf ein joint management (sinngemäß: gemeinsame Führung) und die Aufteilung hoheitlicher Aufgaben, während Indiens Premier Manmohan Singh für ein cooperative management (sinngemäß: kooperative Führung) wirbt.
Mancher politische Beobachter glaubt, dass sich Musharraf und Singh nur gemeinsam an den Tisch setzen und einen Begriff zwischen joint management und cooperative management finden müssten, um das Problem zu lösen. Daher mutet es ironisch an, wenn beide Regierungen trotz dieser Annäherung noch immer weit von einer Lösung entfernt sind. Der ehemaligen indische Geheimdienstchef und Kaschmir-Kenner Amarjit Singh Dulat ist davon überzeugt, dass die Zeit reif für eine Lösung ist. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hätten die Wahrnehmung zahlreicher kaschmirischer Führer verändert, so Dulat. Sie strebten nicht mehr nach Unabhängigkeit sondern nach einem "würdevollen Frieden".
Auch indische Offizielle sind demnach aufrichtig daran interessiert, auf Pakistan zuzugehen. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass die gewaltsamen Zwischenfälle des Jahres 2006 – für die der Nachbar zumindest mitverantwortlich gemacht wird – den Annäherungsprozess erschweren. "Wir sind ein demokratisches Land, und es ist nicht möglich, gegen die öffentliche Meinung zu handeln, die dem Friedensprozess nach diesen Vorfällen weitgehend ablehnend gegenüber steht", heißt es aus Regierungskreisen. Ob sich etwas bewege, hänge vom Erfolg an der "Terrorismusfront" ab.
Noch mehr als die oppositionelle
Gespräche mit jungen Leuten machen Angst
Indes haben Stillstand und ausbleibende Erfolge die politische Situation erneut verschärft. Noch vor einem Jahr sprühte Kaschmir vor Optimismus, heute beherrschen Resignation und Pessimismus die öffentliche Meinung. Jugendliche in Städten wie Kupwara, Bandipora oder Srinagar klagen in Gesprächen bitterlich über Bedrohung und Schikane, denen sie in Kaschmir oder bei Reisen nach Delhi und andere Städte ausgesetzt sind. "Die ganze Wut, der ganze Hass kann bei der kleinsten Provokation ausbrechen", schrieb kürzlich Barkha Dutt, eine der bekanntesten indischen Fernsehjournalistinnen. "Der Radikalismus gewinnt in Kaschmir mehr und mehr an Boden und Gespräche mit jungen Leuten machen Angst."
Im Kaschmir-Tal kommt es im häufiger zu öffentlichen Protesten. Seien es Probleme mit der Wasser- und Stromversorgung, ein Sexskandal, in den im Frühjahr 2006 ranghohe Offizielle verwickelt waren, oder das Todesurteil gegen Afzal Guru, der vom Obersten Gericht für den
Auch die sich häufenden Menschenrechtsverletzungen schüren den Unmut. Es heißt, General S.S. Dhillon, Oberbefehlshaber des in der Sommerhauptstadt Srinagar stationierten 15. Armee-Korps, habe nach der Amtsübernahme im Juni 2005 Resultate von seinen Offizieren gefordert. Gleichzeitig soll er ihnen zugesichert haben, sich um diejenigen zu "kümmern", die ihre Stimme gegen Menschenrechtsverletzungen erheben. Seitdem hat sich die Zahl von Personenkontrollen, Durchsuchungen und anderen Maßnahmen rapide erhöht.
Doch trotz ausgedehnter Militäroperationen und des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte haben bewaffnete Gruppen im Jahr 2006 an Boden gewonnen. So wurden zahlreiche Polizisten getötet, die anders als Soldaten bislang nicht Ziel von Angriffen waren. Zudem gelang es den Militanten, ihren Einfluss in einigen Regionen des Kaschmir-Tals auszuweiten – unter anderem im Gebiet um Srinagar. Die Führungen von Armee und paramilitärischen Einheiten wie der Central Reserve Police Force (CRPF) beschuldigen sich inzwischen gegenseitig, für deren Erstarken verantwortlich zu sein.
Grenzen irrelevant werden lassen
Trotz des festgefahrenen Friedensprozesses nach den Anschlägen von Mumbai sind derzeit zahlreiche Experten im Auftrag vom Premier und Außenministerium damit beschäftigt, neue Lösungsansätze zu entwerfen, die sowohl für die kaschmirische Führung als auch für Pakistan akzeptabel sind. Zudem reiste eine hochrangig besetzte Delegation nach Irland und Großbritannien, um sich über das 1998 zwischen Dublin und London geschlossenen Karfreitagsabkommens und dessen Umsetzung in Nordirland zu informieren. Anschließend verkündeten selbst Hardliner wie der frühere indische Botschafter in Pakistan, G. Parthasarthy, dass beide Länder nach gemeinsamen Lösungen suchen sollten. Die indische Seite ist davon überzeugt, dass Grenzen zwar nicht verändert, jedoch "irrelevant" gemacht werden können. Insider wollen sogar in Erfahrung gebracht haben, dass Premier Singh und Präsident Musharraf in dieser Frage einer Meinung sind.
Um einen Mechanismus für die Zusammenarbeit über die Waffenstillstandslinie (Line of Control, LOC) (Verweis auf Kasten "Geschichte Kaschmir-Konflikt") hinweg aufbauen zu können, müsse nach Ansicht Parthasarthys zunächst eine gemeinsame Expertenkommission daran arbeiten, die auf beiden Seiten unterschiedlichen Vorstellungen von Selbstverwaltung zu harmonisieren. Gleichzeitig müsse versucht werden, auch unter den Kaschmiren einen Konsens in dieser Frage zu erzielen.
Ein weiterer Experten-Vorschlag zielt darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen Institutionen in Indien und Pakistan zu verstärken. So könnten Gremien eingerichtet werden, die lokale Behörden entlang der LOC bei Fragen von beidseitigem Interesse wie Gesundheit, Bildung und Unweltschutz beraten. Auch ein Studentenaustausch ist im Gespräch. Junge Leute aus dem pakistanischen Teil Kaschmirs könnten an den Universitäten in Jammu oder Srinagar Ingenieurwesen und Medizin studieren, während sich "indische" Kaschmiren in Muzaffarabad oder Mirpur einschreiben. Alles in allem liegen zahlreiche konkrete Pläne in den Schubladen. Vorher allerdings, so heißt es, müsse Pakistan das Terrorismusproblem ernst nehmen und dafür sorgen, dass keine weiteren Anschläge in Indien verübt werden.
Gelingt das, wird selbst über die Einrichtung eines gemeinsamen "Rates für Jammu und Kaschmir" nachgedacht, in dem neben den Regierungschefs der beiden Staaten ranghohe Politiker aus Indien und Pakistan sowie aus dem indischen Teil Kaschmirs mitarbeiten. Allerdings würde Delhi wohl darauf verzichten, dieses Gremium als "gemeinsame Führung" oder "geteilte Herrschaft" zu bezeichnen.
Der Publizist A.G. Noorani, seit vielen Jahren anerkannter Experte in Sachen Kaschmir, glaubt, dass die indische Verfassung eine solche Lösung ermögliche. Allerdings sei in erster Linie politischer Wille gefragt, um zu einer endgültigen Lösung zu gelangen: "Die indisch-pakistanischen Beziehungen sind an einem Wendepunkt angelangt, daher ist es wichtig, das eine Seite der anderen vertraut."