Politische Parteien in Indien unterscheiden sich erheblich von jenen in Europa. Sie verfügen praktisch über keine innerparteiliche Demokratie, dynastische Prinzipien dominieren. Landesweit gibt es etwa 120 solcher politischen Dynastien. Auch Wahlen sind eine teure Angelegenheit. Nach Schätzung von Ökonomen und politischen Beobachtern wurden bei den Unterhauswahlen im Jahr 2009 umgerechnet mehr als zwei Milliarden Euro eingesetzt – das ist mehr als im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft. Ein großer Teil stammt dabei aus illegalem Hawala-Geld der politischen Klasse, das unter anderem aus (Auslands-) Geschäften mit so genannten Kickbacks (Schmiergeldern) stammt.
Die Mantras, mit denen Indien immer wieder als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet wird, verhindern oftmals einen realistischen Blick auf diese Tatsachen – dabei offenbaren die Realitäten des politischen Betriebs die offenkundige plutokratische und teilweise auch kriminelle Komponente der indischen Demokratie. Der frühere Kabinettssekretär T. S. R. Subramanian nannte Indiens Politik einmal "das größte private Geschäft". Vor allem deshalb hätten die Politiker kein Interesse an Wandel.
Eine Folge davon ist zunehmender Unmut in Teilen der Bevölkerung, was im Jahr 2012 zur Gründung der Aam Admi Party (sinngemäß: Partei der einfachen Leute, AAP) geführt hat. Sie ist aus einer Anti-Korruptions-Bewegung hervorgegangen und hat sich unter anderem die Reform des politischen Betriebs auf die Fahnen geschrieben.
Politische Instabilität und Fragmentierung
Nach der Unabhängigkeit Indiens am 15. August 1947 dominierte jahrzehntelang die Kongresspartei das politische Geschehen. Diese Dominanz wurde erst Ende der 80er Jahre nachhaltig gebrochen. Die Folge war politische Instabilität, was sich in insgesamt sechs Unterhauswahlen zwischen 1989 und 2004 manifestiert – normalerweise reicht das für eine Periode von 30 Jahren. Fünf Minderheitsregierungen, der politische Niedergang der Kongresspartei und der Aufstieg der hindunationalistischen Indischen Volkspartei BJP sowie die Etablierung von Regionalparteien und eine offenkundige Fragmentierung des Parlaments mit über 40 Parteien führten schließlich zu den zwischen 1998 bis 2004 von der BJP geführten Koalitionsregierungen der National-Demokratischen Allianz (National Democratic Alliance, NDA). Ab 2004 übernahm die Kongresspartei wieder das Ruder mit Koalitionsregierungen der sogenannten Vereinten Progressiven Allianz (United Progressive Alliance, UPA). (Siehe dazu Geschichte Indiens nach 1947)
Kurzporträts der wichtigsten politischen Parteien
Die Kongresspartei
Rückblick: Die Kongresspartei, im Jahr 1885 unter dem Namen Indischer Nationalkongress (Indian National Congress, INC) gegründet, ist die älteste indische Partei und blickt auf vielfältige Transformationen in ihrer Geschichte zurück. Sie war die Speerspitze der indischen Unabhängigkeitsbewegung mit herausragenden Persönlichkeiten in ihren Reihen, darunter Mahatma Gandhi,
Im Jahr 1977 geriet das bis dahin als selbstverständlich angesehene Herrschaftsmonopol der Kongresspartei erstmals ins Wanken. Morarji Desai übernahm als Führer einer Kongresspartei-Abspaltung sowie eines Bündnisses aus Sozialisten, Bauernführern und Hindunationalisten nach dem Ende des von Nehrus Tochter
Die gebürtige Italienerin Sonia Gandhi, Witwe von Rajiv Gandhi, setzt mittlerweile das Erbe der
Ideologie: Die ursprünglich vom Fabian Socialism inspirierten und überwiegend von Jawaharlal Nehru formulierten gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen (Demokratie, Sozialismus, Säkularismus) verdeckten zunehmend die wahren Interessen einer demokratisch legitimierten post-kolonialen Staatsklasse. Diese Interessen lehnten grundlegende Sozial- und Land-Reformen ab. Der Staat förderte über Subventionen die seit den 90er Jahren verstärkt in den Parlamenten vertretenen Groß- und Mittelbauern. Über den öffentlichen Sektor konnten sich Teile der politischen Klasse, Spitzenbeamte und Funktionäre der parteipolitisch ausgerichteten Gewerkschaften bestimmte Privilegien aufgrund einer unübersehbaren
"Säkularismus", das heißt die Gleichstellung der Religionen, wird von der Kongresspartei als ein Markenzeichen ihrer Herrschaftsform und gesellschaftspolitischen Überzeugungen immer wieder in den Auseinandersetzungen mit der BJP ins Spiel gebracht. Die BJP ihrerseits wirft dem politischen Gegner vor, dadurch eine Spaltung der Bevölkerung entlang religiöser Trennlinien zu bewirken.
Die Wirtschaftspolitik der Kongresspartei, die jahrzehntelang auf eine Abschottung des öffentlichen Sektors und der Privatunternehmen gegen internationale Konkurrenz gesetzt hatte, endete 1991 im finanziellen Offenbarungseid. Durch die danach beschlossene Liberalisierungspolitik unter Premierminister P. V. Narasimha Rao (1991-96) und seinem Finanzminister Manmohan Singh wandte sich die Partei auch verbal vom "Sozialismus" ab und anerkannte das Primat des privaten Sektors der Volkswirtschaft. (siehe dazu Indiens Wirtschaft)
Wählerschichten: Die Kongresspartei verfügt traditionell über eine breite Wählerschaft. Dazu gehören Oberkasten aber auch die unteren Kastengruppen der "Unberührbaren" (Scheduled Castes, SC) und Angehörige der indischen Ursprungsbevölkerung (Scheduled Tribes, ST). Hinzu kommen religiöse Minderheiten wie Muslime und
Die Parteiführung bemüht sich deshalb, die Interessen der sozial und wirtschaftlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen stärker zu vertreten. Sie versucht das etwa durch zahlreiche ambitionierte Sozial- und Beschäftigungsprogramme, die während der Regierungszeit von 2004 bis 2014 verstärkt auf den Weg gebracht wurden.
Bei den Unterhauswahlen 2004 und 2009 konnte die Kongresspartei zudem sehr viel Unterstützung aus dem Lager der städtischen Mittelschichten gewinnen. Dies könnte sich durch das Auftreten der Aam Admi Party, die sowohl der Kongresspartei als auch der BJP Wähler streitig macht, in Zukunft grundlegend zu ändern.
Gegenwart und Ausblick: Der sogenannte High Command, das heißt de facto Sonia Gandhi und ihr Sohn Rahul sowie ein sehr kleiner interner Zirkel, haben zu einer Überzentralisierung innerhalb der Kongresspartei und zu einem weitgehenden Ausbleiben starker politischer Persönlichkeiten in den Einzelstaaten geführt. Der "Familien-Betrieb" der
Rahul Gandhi hat inzwischen die Demokratisierung der Partei sowie mehr Mitsprache ihrer Basis zu seinem Anliegen erklärt und diesen Prozess in den vergangenen Jahren bereits in den Jugend- und Studenten-Organisationen der Partei begleitet. Zudem hat er der Korruption den Kampf angesagt – kein leichtes Unterfangen angesichts massiver Korruptionsfälle innerhalb der Kongresspartei und der von ihr geführten Koalitionsregierung in den vergangenen Jahren.
Die hindunationalistische BJP
(© picture-alliance/dpa)
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Die Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP), die während ihrer Regierungszeit zwischen 1998 bis 2004 die Koalition der National Democratic Alliance (National-demokratische Allianz, NDA) anführte, wurde nach ihrer Wahlniederlage 2004 durch heftige innerparteiliche Machtkämpfe gelähmt. Vor den Wahlen 2014 sind diese weitgehend in den Hintergrund gerückt – nicht zuletzt aufgrund der Siegeszuversicht der BJP.
Ideologie:
Die BJP wird von Spitzenkadern des 1925 gegründeten Nationalen Freiwilligenkorps (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS) – das ideologische und organisatorische Rückgrat des Hindunationalismus – dominiert. Die Partei betont eine Wiederbelebung hinduistischer Identität, Tradition und Philosophie. Entschieden anti-marxistisch verwirft sie die angeblich westlichen Konzepte von Sozialismus und Nehru-Säkularismus und strebt ein "Reich der Hindus" (Hindu Rashtra) mit dem Ziel eines vom (Oberkasten-)Hinduismus dominierten Indien und einer "geo-kulturellen" Einheit des Subkontinents (Hindutva) an. Unter dem Deckmantel eines "positiven Säkularismus" verbirgt sich eine negative Haltung gegenüber religiösen Minoritäten wie Muslimen und Christen. (siehe dazu Hindunationalismus und Hindu-Muslim-Konflikt)
Die BJP propagiert eine insbesondere die Interessen des nationalen Kapitals betonende Wirtschaftsliberalisierung zusammen mit einem offen propagierten Groß- bzw. sogar Weltmacht-Anspruch. Ihr "liberaler Flügel" favorisierte während ihrer Regierungszeit zudem eine beschleunigte Öffnung zum Weltmarkt.
Wählerschichten: Urbane Ober- und Mittelschichten favorisieren die BJP. Durch Basis- und Sozialarbeit des RSS gelang es der Partei aber auch, Zugang zu Angehörigen der SC und ST sowie den mittleren Kasten der Other Backward Classes (OBC) zu finden. Über ihren Gewerkschaftsdachverband Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der an Mitgliedern stärksten unter den parteipolitischen Richtungsgewerkschaften, hat die BJP Zugang zu Teilen der häufig aus den Mittel-Kasten kommenden Facharbeiterschaft. Die Partei spricht zudem gezielt Jungwähler und insbesondere Young Professionals an. Auch die Mobilisierung von Frauen trug in der Vergangenheit maßgeblich zu den Erfolgen bei. Muslime und Christen unterstützen die BJP traditionell nicht.
Ausblick: Bei den Parlamentswahlen 2014 schickt die BJP den Ministerpräsidenten des wirtschaftlich erfolgreichen Bundesstaates Gujarat, Narendra Modi, als Spitzenkandidaten ins Rennen. Modi propagiert Gujarat als ein auf ganz Indien übertragbares Erfolgsmodell. Er wirbt für Good Governance und wirtschaftliches Wachstum. Wegen seiner angeblichen Entscheidungsfreudigkeit genießt er bei Unternehmern ein hohes Ansehen.
Kritiker werfen Modi allerdings vor, dass die Sozialindikatoren in Gujarat keineswegs so positiv wie dargestellt sind und der Staat zudem hoch verschuldet ist. Der ihn umgebende Personen-Kult und sein autoritäres Auftreten werden Modi ebenfalls negativ ausgelegt. Zudem hängen dem Politiker die anti-muslimischen Pogrome in Gujarat von 2002 immer noch an. Modi selbst nutzt erfolgreich die Karte seiner Herkunft aus einfachen sozialen Verhältnissen, um Sympathie-Punkte bei großen Teilen der Wählerschaft zu erwerben.
Für die BJP wird 2014 entscheidend sein, ob sie ihre ehemalige Machtbasis im etwa 200 Millionen Einwohner zählenden Bundesstaat Uttar Pradesh zurück erobern kann. Wahlprognosen gehen dabei von einem guten Abschneiden der BJP – sowohl in ihren traditionellen Hochburgen als auch in anderen Staaten wie Bihar und Maharashtra.
AAP – ein neues Phänomen der indischen Politik
(© picture alliance/ landov)
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Die Aam Aadmi Party (sinngemäß: Partei der einfachen Leute, AAP) wurde 2012 gegründet und ist aus einer landesweiten
Es ist noch weitgehend unklar, wie diese neue politische Kraft einzustufen und kategorial zu erfassen ist. Die Einordnungen der AAP reichen von "linksextrem und sozialistisch" bis hin zu einer "linken Kopie" der US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung. Parteichef Kejriwal lehnt die Kategorisierungen anhand bestehenden Ideologien jedoch ab.
Gleichwohl könnte das Auftreten der AAP die Parameter und Gepflogenheiten bisheriger indischer Politik maßgeblich verändern. Die Partei möchte das bestehende System nachhaltig verändern und richtet sich explizit gegen das politische Establishment. So setzt sie sich für die Verabschiedung eines Anti-Korruptions-Gesetzes ein. Einer rein repräsentativen Demokratie steht sie eher skeptisch gegenüber, sie spricht sich vielmehr für eine aktive Beteiligung der Menschen zwischen den Wahlen durch Bürger- und Nachbarschaftsversammlungen sowie durch Volksentscheide aus. Zudem nutzt sie die sozialen Medien gezielt und mit großem Erfolg.
Bei den Unterhauswahlen 2014 wird die AAP erstmals landesweit antreten. Chancen werde ihr dabei vor allem in den mehr als 200 städtischen und halb-städtischen Wahlkreisen (von insgesamt 543) eingeräumt, wo die AAP die Mittelschichten anspricht, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt aufgrund weit verbreiteter Korruption desillusioniert von der Politik abgewendet haben. Sollte sich die AAP etablieren, könnte sie nicht nur als Katalysator für politischen Wandel und einen veränderten politischen Stil wirken, sondern auch die anderen Parteien zwingen, sich zu verändern.
Linke Parteien
Plakat der Kommunistischen Partei Indiens in Kerala
Foto: Stefan Mentschel
Plakat der Kommunistischen Partei Indiens in Kerala
Foto: Stefan Mentschel
Die bedeutendste Linkspartei in Indien ist die Kommunistische Partei Indiens/Marxistisch (Communist Party of India/Marxist, CPI/M). Ihre traditionellen Hochburgen sind die Bundesstaaten Westbengalen, Tripura und Kerala. Allerdings regiert sie nur noch im Kleinstaat Tripura im Nordosten des Landes. In Westbengalen, wo sie jahrzehntelang die Regierung stellte, und in Kerala im Süden ist sie inzwischen führende Oppositionskraft. Ansonsten verfügt sie landesweit nur sehr punktuell über Einfluss.
Ideologisch bekennt sich die CPI/M zum Marxismus. In der Regierungspraxis zeichnete sie sich jedoch eher durch eine pragmatische und – wie in der Spätphase ihrer Herrschaft in Westbengalen – sogar durch eine außerordentlich unternehmerfreundliche Politik aus. Gleichzeitig ist die CPI/M durch das Zentrum der Indischen Gewerkschaften (Center of Indian Trade Unions, CITU) vor allem unter den privilegierten Arbeitern des öffentlichen Sektors und teilweise – etwa durch Frauenorganisationen – im großen informellen Sektor der Volkswirtschaft vertreten.
Andere zur Linksfront gehörende Parteien wie die Kommunistische Partei Indiens (Communist Party of India, CPI), der Vorwärts-Block (Forward Bloc, FB) und die Revolutionäre Sozialistische Partei (Revolutionary Socialist Party, RSP) sind nur von marginaler Bedeutung.
Regionalparteien
Regionale Parteien scheinen sich fest etabliert zu haben, wobei ihre direkten Einflussbereiche überwiegend auf einen einzelnen Bundesstaat beschränkt sind. Sie vertreten die Interessen von einflussreichen Kasten-Allianzen, Bauern, sozialen und religiösen Gruppen. Andererseits sind sie auch Ausdruck regionaler und subnationalistischer Identitäten im Vielvölkerstaat Indien. Ihr Erstarken ist aber auch Ausdruck einer "lautlosen Revolution" sowie eines "demokratischen Aufbruchs" der benachteiligten Schichten der indischen Gesellschaft während der letzten 25 Jahre. Beispielhaft steht dafür die 1984 gegründete Bahujan Samaj Party (BSP), die vor allem einen großen Teil der untersten Kasten sowie der religiösen Minderheit der Muslime vertritt. Diese Partei konnte sich als feste Kraft im bevölkerungsreichen Bundesstaat Uttar Pradesh etablieren. Bei den Landtagswahlen 2007 gewann die BSP dort sogar die absolute Mehrheit. Ministerpräsidentin Mayawati regierte die volle Legislaturperiode, wurde 2012 jedoch abgewählt. Der BSP – landesweit mit fast 5 Prozent der Stimmen als nationale Partei anerkannt – gelang es bislang allerdings nicht, in anderen Teilen Indiens ebenso stark zu werden wie in ihrem Stammland Uttar Pradesh.
Aus dem politischen und ideologischen Erbe der indischen Sozialisten bildeten sich in Nordindien weitere wichtige Regionalparteien. Dazu gehören die in Uttar Pradesh seit 2012 regierende Samajwadi Party (SP) und die in Bihar regierende Janata Dal United (JDU). Hinzu kommt mit dem Rashtriya Janata Dal (RJD) eine Partei, die lange die Geschicke in Bihar bestimmte. Ihre Führer vertreten vor allem die Interessen wirtschaftlich aufstrebender (Mittel-) Bauernkasten, aber auch von Muslimen. Allerdings weisen sie, ebenso wie die in diesen Staaten agierenden nationalen und anderen regionalen Parteien, einen sehr ausgeprägten kriminellen Nexus auf.
Im südindischen Tamil Nadu wechseln sich die dravidischen Parteien Dravida Munnetra Kazhagam (DMK), die ausgezeichnet organisiert schon lange Phasen der Opposition überdauerte, und die eher populistische All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK) in der Regierung ab. Auch in anderen Landesteilen gibt es starke regionale Kräfte. Im östlichen Bundesstaat Orissa etwa regiert die Biju Janata Dal erfolgreich und geht mit guten Aussichten in die nächsten Wahlen. In Nagaland im Nordosten des Landes lenkt die Regionalpartei Naga Peoples Front (NPF) seit 2003 die Geschicke.