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Indiens politisches System | Indien | bpb.de

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Indiens politisches System Bevölkerungsreichste Demokratie der Welt mit gefestigten Strukturen

Dr. Christian Wagner

/ 9 Minuten zu lesen

Seit der Unabhängigkeit hat sich in Indien ein gefestigtes demokratisches System entwickelt, in dem die Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative sowie der Föderalismus die wichtigsten Stützen bilden. Trotz zahlloser Probleme zeigen Umfragen eine hohe Zustimmung der indischen Bevölkerung zur Demokratie und ihren Institutionen. Notwendige Reformen kommen aufgrund der Größe und Vielfalt des Landes allerdings nur langsam voran.

Präsidentenpalast in Neu Delhi, 2011. (© AP)

Die Indische Union ist mit mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Es gibt regelmäßige Wahlen, einen Wettbewerb politischer Parteien und verfassungsrechtlich verankerte Grundrechte. Trotz weit verbreiteter Armut, ethnischer, religiöser und linguistischer Heterogenität sowie tief verwurzelter Vorbehalte zwischen den Kastengruppen ist es in Indien seit der Unabhängigkeit am 15. August 1947 gelungen, ein gefestigtes demokratisches System aufzubauen.

Am 26. Januar 1950 trat nach über dreijähriger Beratungszeit die neue Verfassung in Kraft, mit der Indien als parlamentarische Demokratie und Unionsstaat gegründet wurde. Die ersten Wahlen folgten im Dezember/Januar 1950/51. Sie brachten einen klaren Sieg der Kongresspartei unter der Führung von Interner Link: Jawaharlal Nehru, der zum ersten Premierminister der Indischen Union gewählt wurde.

Die Exekutive

An der Spitze des Landes steht der Präsident, der als Staatsoberhaupt die Einheit und Vielfalt der indischen Nation symbolisieren soll. Von den bislang dreizehn Präsidenten seit 1950 waren neun Hindus, drei Muslime und einer Angehöriger der Sikhs. Mit Präsident K.R. Narayanan nahm 1997 erstmals ein "Unberührbarer" das höchste Staatsamt ein. Von 2007 bis 2012 stand mit Interner Link: Pratibha Patil erstmals eine Frau an der Spitze des Staates. Seit 2012 hat Interner Link: Pranab Mukherjee das Amt inne. Der Präsident wird von einem Wahlkollegium gewählt, dass sich aus Abgeordneten der beiden Kammern des Parlaments sowie der Länderparlamente zusammensetzt. Seine Amtsdauer beträgt fünf Jahre, eine Wiederwahl ist möglich.

Der Präsident ist mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Er ernennt unter anderem den Premierminister, entscheidet über die Verhängung des Ausnahmezustands und kann Landesregierungen entlassen. In Anlehnung an die britische Demokratie ist jedoch nicht der Präsident, sondern der Premierminister und der Ministerrat das eigentliche Machtzentrum des Landes. Die Kompetenzverteilung mit dem Präsidenten wurde durch Verfassungszusätze eindeutig zugunsten des Premierministers geregelt.

Als Premierminister wird normalerweise der Spitzenkandidat der stärksten Parteien bzw. der Mehrheitsfraktion in der Lok Sabha, dem indischen Unterhaus, berufen, wie es bei Nehru, Indira Gandhi oder Atal Behari Vajpayee der Fall war. 2004 gab es heftige Proteste gegen die designierte Premierministerin Interner Link: Sonia Gandhi aufgrund ihrer italienischen Herkunft. Sie verzichtete nach dem Wahlsieg der von der Kongresspartei geführten United Progressive Alliance (UPA) schließlich auf das Amt zugunsten von Manmohan Singh.

Der Premierminister wird formal von der Lok Sabha für fünf Jahre gewählt und kann ebenfalls wieder gewählt werden. Die längste Amtsperiode hatte Jawaharlal Nehru, der fast 17 Jahre lang Premierminister war. Seine Tochter Indira Gandhi übte das Amt fast vierzehn Jahre lang aus. Manmohan Singh war von 2004 bis 2014 zehn Jahre Premierminister der UPA-Koalition, A.B. Vajpayee von der Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) bekleidete das Amt sechs Jahre lang.

Der Premierminister und der Ministerrat führen die Regierungsgeschäfte. Aufgrund der dynastischen Traditionen werden wichtige Entscheidungen oft vom Premierminister und seinen Beraterstäben ohne Abstimmung und Rücksprache mit den jeweiligen Ministerien getroffen, wie z.B. der Indisch-sowjetische Freundschaftsvertrag 1971 oder die Atomtests 1998. Durch die Zunahme der Koalitionsregierungen in den 90er Jahren müssen auch die kleineren Parteien bei der Vergabe von Ministerämtern berücksichtigt werden. Verliert die Regierung durch eine Abstimmungsniederlage ihre Mehrheit in der Lok Sabha, kann der Premierminister die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen beim Präsident beantragen.

Armee und Polizei als wichtigste Organe des Staates für die Sicherheit nach außen und die Durchsetzung des Gewaltmonopols nach innen haben ein sehr unterschiedliches Ansehen. Die Armee gilt als unpolitisch und hat, im Unterschied zu Ländern wie Pakistan, nie eine politische Rolle angestrebt, obwohl sie zunehmend für die Bekämpfung innerer Aufstandsbewegungen eingesetzt wird. Demgegenüber gilt die Polizei, die in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstaaten fällt, als politisiert, korrupt und wenig effizient. So gibt es immer wieder Vorwürfe, dass die Polizei etwa bei Ausschreitungen zwischen Religions- oder Kastengruppen nicht interveniert oder sogar Partei ergreift.

Die Legislative

Laut Verfassung besteht das indische Parlament aus dem Abgeordnetenhaus (Lok Sabha, Unterhaus), der Länderkammer (Rajya Sabha, Oberhaus) und dem Präsidenten. Die Lok Sabha entspricht dem deutschen Bundestag und besteht gegenwärtig aus 545 Abgeordneten. Die Legislaturperiode beträgt fünf Jahre. Die 28 Bundesstaaten entsenden 530 Abgeordnete, 13 Abgeordnete kommen aus den insgesamt sieben Unionsterritorien, die direkt von Neu Delhi aus verwaltet werden. Der Präsident kann zudem zwei Vertreter der anglo-indischen Gemeinschaft für die Lok Sabha ernennen. Die Zahl der Abgeordneten aus den Bundesstaaten richtet sich nach deren Bevölkerungsgröße. Die benachteiligten Stammesgruppen (Scheduled Tribes, ST) und die unteren Kastengruppen (Scheduled Castes, SC) erhalten eine Anzahl reservierter Sitze gemäß ihres Bevölkerungsanteils in den Bundesstaaten.

Das Gebäude des indischen Parlaments in Neu Delhi
Foto: Rainer Hörig

Die wichtigste Funktion der Lok Sabha liegt in der Bewilligung des Haushalts. Sie kontrolliert durch Anfragen die Regierung und kann auch einen Misstrauensantrag stellen, doch gilt ihre Kontrollfunktion allgemein als gering. Eine Ursache hierfür ist die jahrzehntelange Dominanz der Kongresspartei, die 1971 zwei Drittel, 1984 sogar vier Fünftel der Sitze inne hatte und von der Interner Link: Nehru-Gandhi-Dynastie geführt wurde. Weiterhin verfügen vor allem die kleineren Parteien kaum über die personellen Kapazitäten, um die Exekutive ausreichend zu kontrollieren.

Die Rajya Sabha besteht gegenwärtig aus 245 Mitgliedern, von denen 233 von den Bundesstaaten und 12 vom Präsidenten ernannt werden. Die Zahl der Abgeordneten richtet sich ebenfalls nach der Größe der Bundesstaaten. Von den Unionsterritorien entsenden hingegen nur Pondicherry und Delhi eigene Abgeordnete in das Oberhaus. Im Unterschied zur Lok Sabha kann die Rajya Sabha nicht aufgelöst werden. Die Amtsdauer der Abgeordneten beträgt sechs Jahre. Alle zwei Jahre muss sich jeweils ein Drittel zur Wahl stellen. Die Rajya Sabha ist am Gesetzgebungsprozess beteiligt, hat jedoch geringere Kompetenzen als die Lok Sabha und kann z.B. keinen Misstrauensantrag gegen die Regierung stellen.

Die Abgeordneten spielen in den Wahlkreisen eine zentrale Rolle, da sie als Ansprechpartner für die Probleme der Bürgerinnen und Bürger gesehen werden und nicht die oft ineffiziente Verwaltung. Zudem verfügen sie über umfangreiche eigene finanzielle Mittel zur Entwicklung ihrer Wahlkreise, die aber auch für politische Patronage zweckentfremdet wurden. Der soziale Wandel der indischen Gesellschaft schlägt sich in der veränderten sozialen Zusammensetzung des Parlaments nieder. Im ersten Parlament stellte die oberste Kaste der Brahmanen die größte Gruppe, heute sind es die mittleren Kasten der Other Backward Classes (OBC). Die zunehmende Bedeutung von Regionalparteien seit den 90er Jahren ist ebenfalls Ausdruck des sozialen Wandels in der indischen Gesellschaft.

Die Judikative

Die Gerichtsbarkeit bildet die dritte Säule im System der Gewaltenteilung in der indischen Demokratie. Das angelsächsische Rechtsverständnis ist nach fast zweihundert Jahren britischen Einflusses zu einem Bestandteil der indischen Kultur geworden. Teile der Familiengesetzgebung (Personal Laws) orientieren sich aber z.B. bei Heirats-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen an den Traditionen der jeweiligen Religionsgemeinschaft.

An der Spitze der Gerichtsbarkeit steht der Oberste Gerichtshof (Supreme Court), der Hüter der Verfassung ist. Dem nachgeordnet sind die High Courts als höchste Instanzen in den Bundesstaaten. Der Streit über die Befugnisse der Exekutive und Judikative hat vor allem in der ersten Amtsperiode von Indira Gandhi Anfang der 70er Jahre das politische System nachhaltig geprägt. So setzte sich schließlich die Auffassung des Obersten Gerichts durch, dass die Struktur der Verfassung auch von parlamentarischen Mehrheiten nicht verändert werden kann.

Die Judikative hat durch das Instrument der Public Interest Litigation (PIL) in den letzten Jahren politisch an Bedeutung gewonnen. Der oberste Gerichtshof kann damit öffentliche Anliegen aufgreifen und entscheiden. So musste aufgrund eines solchen Urteils der öffentliche Nahverkehr in der Hauptstadt Neu Delhi aus Gründen des Umweltschutzes auf Gasbetrieb umgerüstet werden. Mittlerweile gibt es auch Kritik an diesem "juristischen Aktivismus", da die Gerichte keine ausreichende demokratische Legitimation haben und chronisch überlastet sind. Viele Verfahren erstrecken sich über mehr als zehn Jahre, so dass Rechtsstaatlichkeit vor allem für die ärmeren Bevölkerungsgruppen kaum gewährleistet ist.

Wahlen

Die Indische Union verfügt über ein vergleichsweise einfaches Wahlsystem. In insgesamt 543 Einerwahlkreisen werden die Abgeordneten mit einfacher Mehrheit der Stimmen für das Parlament gewählt (First past the post system). Das Wahlalter liegt seit 1988 bei 18 Jahren, die durchschnittliche Wahlbeteiligung beträgt seit den ersten Wahlen 1951/52 ca. 60 Prozent. Damit liegt sie trotz einer Analphabetenrate von immer noch rund 30 Prozent in Indien höher als in den USA.

Wahlkampf der Kongresspartei in Pune (Maharashtra)
Foto: Rainer Hörig

Die mit dem Mehrheitswahlrecht einhergehenden Verzerrungen finden sich auch in Indien. Bei einer hohen Kandidatenkonkurrenz konnten Abgeordnete bereits mit 23 Prozent der abgegebenen Stimmen einen Sitz im Parlament erringen. Die Kongresspartei erreichte zwar nie mehr als 48 Prozent der Stimmen, doch konnte sie damit 1984 über 76 Prozent der Sitze im Parlament erringen. Wahlabsprachen sind deshalb für alle Parteien von Bedeutung, um die Chancen für ihre Kandidaten zu verbessern.

Wahlen in Indien stellen ein beträchtliches organisatorisches Unterfangen dar. Bei der Parlamentswahl 2009 registrierte die Wahlkommission insgesamt über 714 Millionen Wählerinnen und Wähler, die mit elektronischen Wahlmaschinen in über 828.000 Wahlstationen ihre Stimme abgeben konnten. Aufgrund der prekären Sicherheitslage in einigen Regionen werden die Wahlen in verschiedenen Phasen durchgeführt und erstrecken sich über mehrere Wochen.

Trotz verschiedener Reformen bleibt die Wahlkampffinanzierung auch in Indien ein schwieriges Gebiet. Der oberste Gerichtshof hat zwar die Wahlkampfausgaben für die Kandidaten begrenzt, doch gibt es keine entsprechenden Regelungen für die Parteien und die Anhänger von Kandidaten. Angesichts der weit verbreiteten Korruption und politischen Patronage spielt Schwarzgeld eine wichtige Rolle in den Wahlkämpfen.

Zukunft der indischen Demokratie

Nach über 65 Jahren Unabhängigkeit hat sich in Indien ein gefestigtes demokratisches System entwickelt, in dem die Gewaltenteilung und der Föderalismus die wichtigsten Stützen bilden. Trotz zahlloser Probleme z.B. bei der Bereitstellung öffentlicher Güter wie Bildung, Gesundheit und Sicherheit zeigen Umfragen eine hohe Zustimmung der Bevölkerung zur Demokratie und ihren Institutionen, wohingegen Politiker und Polizei aufgrund von Korruption und Patronage ein schlechtes Ansehen genießen. Trotzdem gibt es keine maßgeblichen Vetoakteure, die das System grundsätzlich in Frage stellen.

Die Erfolge der indischen Demokratie liegen in der Einbeziehung der Minderheiten und benachteiligten Gruppen, z.B. durch die Schaffung neuer Bundesstaaten für Sprachgruppen, die Personal Laws für die religiösen Gemeinschaften, die reservierten Sitze für die unteren Stammes- und Kastengruppen oder die 33-Prozent Quote für Interner Link: Frauen in der lokalen Selbstverwaltung.

Die Probleme liegen hingegen in der Bewältigung der sozialen Frage, die durch die wirtschaftliche Liberalisierung nach 1991 erneut an Bedeutung gewonnen hat. Die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Bekämpfung der Korruption sowie der Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens in den ländlichen Regionen sind dabei die Prioritäten. Die sozialen Probleme im ländlichen Raum gelten als Nährboden Interner Link: militanter kommunistischer Gruppen (Naxaliten), die von der Regierung als größte innenpolitische Bedrohung eingestuft werden. Die UPA Regierung hat versucht, diesen Problemen durch eine Reihe von Gesetzen wie der Right to Information Act (2005), das Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act (MGNREGA) (2005), der Food Security Act (2013) und die umfassende Anti-Korruptionsgesetzgebung 2013 (Lokpal) zu begegnen.

Dorfversammlung in Rajasthan
Foto: Stefan Mentschel

Das politische System wird von der Exekutive dominiert, wohingegen die Kontrolle durch das Parlament vergleichsweise gering ist. Dies erklärt sich unter anderem durch die zunehmende Regionalisierung der Parteienlandschaft und die unzureichenden Ressourcen des Parlaments. So erfolgt die Kontrolle der Regierung mittlerweile stärker durch die Judikative und die kritische Berichterstattung der Medien. Ebenfalls an Bedeutung gewonnen haben Nichtregierungsorganisationen, welche die Missstände und das Versagen staatlicher Stellen kritisieren. Die unabhängige Wahlkommission hat eine Reihe von Regelungen erlassen, um der wachsenden Kriminalisierung der Politik Einhalt zu gebieten.

Die indische Demokratie steht verschiedenen Herausforderungen gegenüber. Erstens ist die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Bildung, Gesundheit und die Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung trotz aller Erfolge bei der Reduzierung der Armut für große Teile der Bevölkerung immer noch unzureichend. 2012 hatten 68 Prozent der Bevölkerung weniger als 2 US-Dollar am Tag zur Verfügung.

Zweitens hat die soziokulturelle Fragmentierung der indischen Gesellschaft die sogenannte Identitätspolitik forciert, in der immer mehr Gruppen ihr Recht an politischer und wirtschaftlicher Teilhabe einfordern. Die Veröffentlichung der Zahlen über die Größe der Kastengruppen, die bei Zensus 2011 erstmals seit 1931 wieder erhoben wurden, könnte dieser Entwicklung weiteren Vorschub leisten.

Drittens haben die Korruptionsskandale der letzten Jahren Themen wie gute Regierungsführung in den Vordergrund geschoben. Damit sind neue Parteien wie die Aam Admi Party (AAP) entstanden, die vielleicht in der Lage sein werden, mittelfristig eine stärker themenbezogene Wählermobilisierung jenseits der Kastengrenzen zu erreichen.

Die "funktionierende Anarchie" der Indischen Union zeichnet sich somit durch eine große institutionelle Stabilität aus, auch wenn es gleichzeitig durch die Koalitionsregierungen ein hohes Maß an (alltags-)politischer Instabilität gibt. Die größte Errungenschaft des politischen Systems ist seine Fähigkeit, immer wieder Reformen hervor zu bringen. Allerdings werden diese in Indien bedingt durch die Größe und Heterogenität des Landes immer nur langsam vorankommen.

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Dr. Christan Wagner ist Leiter der Forschungsgruppe Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.