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"Rebellieren führt doch nirgendwohin" Jugendliche zwischen sozialem Zwang, Familiensinn und persönlichen Träumen

Renée Zucker

/ 9 Minuten zu lesen

Jugendliche in Indien sind oftmals gefangen zwischen sozialem Zwang, Familiensinn und persönlichen Träumen. Bis heute finden es die wenigsten schlecht, dass die Eltern ihre Ehepartner für sie aussuchen. Doch es gibt auch junge Leute, die gegen die Regeln der Gesellschaft rebellieren.

Junges Paar im verregneten Neu Delhi. (© AP)

Im Winter sind Javed* und Iqbal Freunde. Im Winter haben beide Arbeit und sehen sich täglich. Von November bis März ist Hauptsaison in dem kleinen Touristenort an der Küste des südindischen Unionsstaates Kerala. Da arbeitet der 26-jährige Javed von neun Uhr morgens bis spät in die Nacht in einem Internet-Café und der 24-jährige Iqbal muss nebenan in einem der Läden seiner Familie Souvenirs aus seiner Heimat, dem 4000 Kilometer entfernten Interner Link: Kaschmir verkaufen. Beide haben ein paar Jahre die Schule besucht und leben wie die meisten jungen Leute in Indien bei ihren Eltern.

Javed ist das dritte von vier Kindern und der einzige Sohn seiner Familie. Bevor er daran denken kann, eine eigene Familie zu gründen, müssen erst die Mädchen aus dem Haus, damit sie den Eltern nicht weiter finanziell zur Last fallen. Weil es außerhalb der Touristensaison keine Arbeit gibt, gehen viele Keraliten in die Staaten am Persischen Golf. Mehr als eine Million Männer und Frauen verdingen sich dort als Arbeitsmigranten. Das hat zur Folge, dass es in Kerala zwar einen gewissen Wohlstand gibt, aber kaum Arbeitsplätze dort geschaffen werden.

Auch Javeds Vater hat lange in Dubai gearbeitet. Nun ist er krank. Javed kann nicht an den Golf, er hat kein Geld für die Reise und die Arbeitserlaubnis. Als einziger Sohn führt er die Gespräche mit den Ehe-Anwärtern für seine Schwestern und trifft eine Vorauswahl. Der Vater entscheidet dann, wen die Tochter heiratet. Die Tochter kann auch mal einen Kandidaten ablehnen, aber sie sollte davon nicht all zu oft Gebrauch machen.

Wenn Javed mit seinem Vater in einem Raum ist, setzt er sich erst hin, wenn der ihm die Erlaubnis dazu gibt. Er darf nicht auf gleicher Höhe mit dem Vater sitzen, sondern muss immer etwas tiefer hocken.

Die zwei älteren Schwestern konnten schon verheiratet werden, nun hofft Javed, in diesem Winter so viel Geld zu verdienen, dass auch die Jüngste unter die Haube kommt. Dann muss er nur noch seine Eltern und nicht mehr die ganze Familie unterstützen. "Schwestern sind teuer", sagt er achselzuckend, "man muss ihnen nicht nur Geld, sondern auch ein Stück Land mitgeben. Bevor sie das Mädchen überhaupt kennen gelernt haben, fragen sie zuerst, was man bezahlen will."

Obwohl Kerala einer der reichsten und fortschrittlichsten Staaten der Indischen Unions ist, und man hier selbst unter den Mädchen kaum noch Analphabeten findet, sind die strengen Regeln der Dowry, der Mitgift, nach wie vor gang und gäbe – bei Hindus, Christen und Muslimen gleichermaßen. Am besten wäre es, sagt Javed, wenn eine Familie gleich viel Söhne und Töchter habe. Dann könne sie das, was sie bei den Mädchen bezahlen muss, durch die Söhne wieder reinholen.

Zum Geld verdienen in die Fremde

Iqbal kennt diese Sorgen nicht. Er ist das jüngste von fünf Geschwistern einer recht wohlhabenden Händlerfamilie aus Interner Link: Kaschmir , und er muss für niemanden sorgen. Seine beiden Brüder und die zwei Schwestern sind schon verheiratet. Die Brüder leben mit ihren Frauen und Kindern in dem Haus, das Iqbals Eltern gebaut haben. Die wiederum wohnen bei den Großeltern. Iqbals Schwestern zogen zu den Familien ihrer Ehemänner. Im Sommer leben alle im nordindischen Kaschmir auf einer Insel im Dal Lake, der an die Hauptstadt Srinagar grenzt. Im Winter zieht ein großer Teil der Familie nach Kerala. Hier bleiben die Frauen und Mädchen traditionell im Haus. Sie putzen, waschen, kochen und hüten die Kinder; die Männer halten die Läden in Schwung. Viele Kaschmiren verdienen ihr Geld als Händler in den Tourismushochburgen des Subkontinents.

Iqbal hängt sehr an seiner Familie. In dem Haus in Südindien schläft er mit seiner Großmutter in einem Zimmer. Wenn er mal alleine schlafen muss, hat er Angst. Wenn er mit seiner Mutter oder einer Tante in Kaschmir telefoniert hat, ist er noch lange danach aufgewühlt und unruhig. Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien besteht zwischen Indien und Pakistan ein Konflikt um diese Region, der bislang zu drei zwischenstaatlichen Kriegen und einem bis heute andauernden bürgerkriegartigem Zustand im indischen Teil Kaschmirs geführt hat. Zwar nähern sich die verfeindeten Nachbarn zunehmend an, doch weiterhin gibt es fast täglich Bombenanschläge, Razzien und Verhaftungen.

Iqbal ist von klein auf an den Umgang mit Touristen gewöhnt. Früher, als noch Europäer und US-Amerikaner in Kaschmir Urlaub machten, als man es noch "das Paradies auf Erden" nannte, wohnten die Fremden auf Hausbooten, die seiner Familie gehörten. Sein Englisch hat er nicht in der Schule sondern von den Gästen gelernt.

In Kaschmir haben die wenigsten Jugendlichen eine auch nur passabel zu nennende Schulausbildung. Nur wenige können lesen und schreiben, es gibt zu wenig Arbeit für sie und viele sind durch den anhaltenden Konflikt traumatisiert. Fast jede Familie hat wenigstens ein Mitglied, das entweder vermisst wird, bei einem Bombenattentat verletzt wurde oder starb; bei den "Militanten" war oder von der indischen Armee misshandelt wurde. Für junge Leute ist es in Kaschmir zugleich anstrengend und langweilig. Es gibt kaum Orte, an denen sie sich treffen oder etwas unternehmen können, alles spielt sich entweder unter den ängstlich besorgten Augen der Familien oder unter den aufmerksamen Blicken von Polizei und Armee ab. Wer nur irgendeine Möglichkeit sieht, kehrt dem gefährlichen und deprimierenden Unionsstaat den Rücken.

Gerade die jungen Männer ohne eine gute Ausbildung müssen ihr Geld woanders verdienen. Sie sind in allen Landesteilen Indiens anzutreffen, wo sie entweder in Souvenirläden oder als Schlepper arbeiten.

So wie der 30-jährige Majid, der täglich auf dem riesigen Connaught Place im Herzen Delhis herumstromert, Touristen anspricht und sie in verschiedene Läden bringt. Wenn sie dort etwas kaufen, bekommt er Prozente. Manchmal verdient er dabei nur 200 Rupien am Tag, etwa vier Euro. Hundert davon kostet ihn allein die Rikscha, die ihn an seinen Arbeitsplatz und wieder zurück bringt. Zusammen mit seinem Freund Ashraf bewohnt er ein fensterloses, feuchtes, kleines Zimmer, das 3000 Rupien kostet.

Ashraf ist 27 Jahre alt, auch aus Kaschmir und seit ein paar Monaten verheiratet. Seine Frau lebt bei seiner Familie in dem Himalaja-Staat. Die besitzt dort ein Hausboot und Ashraf sucht am Bahnhof oder am Flughafen nach Touristen – am liebsten nach jungen, abenteuerlustigen Rucksacktouristen – denen er eine Reise mit Hausbootübernachtung schmackhaft zu machen versucht.

Manchmal haben die beiden Glück, dann findet Majid US-Amerikaner, die einen Teppich kaufen, was ihm 2000 Rupien einbringt. Oder Ashraf kann junge Europäer überreden, für eine Woche auf sein Hausboot zu gehen. Aber meistens lungern sie nur mit anderen Jungen am Connaught Place herum, trinken süßen Tee und reden über Politik.

Arbeiten für die ganze Familie

Abid hat keine Zeit, über Politik zu reden. Der 18-Jährige lebt im südindischen Mysore und hat einen Job bei Pizza Hut gefunden. Dort muss er sich täglich bewähren, darf keine Minute müßig unter den wachsamen Augen des Managers herumstehen und mit den Kollegen schwatzen, denn unzählige andere Jungen warten genau auf so einen Job. Abid reißt Kunden die Tür auf, rückt Stühle zurecht, wischt Tische sauber, bringt die Karte und serviert Speisen und Getränke, fragt, ob alles zur Zufriedenheit ist, räumt leere Teller ab. Er lächelt, ist bemüht, es allen recht zu machen, und wenn sich jemand für den guten Service bedankt, dann winkt er bescheiden ab und sagt: "Es ist nur meine Pflicht."

Niemand sieht ihm an, dass er hundemüde und kränkelnd ist; dass er nachts nicht richtig schlafen kann, weil seine Eltern streiten, wenn der Vater von Drogen oder Alkohol benebelt nach Hause kommt. Abid wohnt mit seiner ein Jahr älteren Schwester und den Eltern in einem Zimmer im Stadtzentrum von Mysore. Ein anderer Raum der zur Wohnung gehört, ist als Lager für Milchkannen vermietet. Für jede Kanne gibt es eine Rupie pro Tag. In dem kleinen Raum stehen manchmal fünf, manchmal zehn Kannen. Die Gesamtmiete der Wohnung beträgt 1500 Rupien.

Abid und seine Schwester Ameena sind die Hauptverdiener in der Familie. Bis vor einem halben Jahr gingen beide noch in die 11. und 12. Klasse. Aber dann mussten sie die Oberschule verlassen. Der Vater, ein gelernter Elektriker, arbeitet nicht mehr regelmäßig. Was er hier und dort verdient, geht für Drogen drauf. Er lebt jetzt vom Geld seiner Kinder. "Er ist mein Vater. Er ist Familie, wo soll er sonst leben?", sagt Abid.

Das Geld von den Milchkannen reicht nicht aus. Ameena arbeitet nun in einem Geschäft für Autozubehör. Abid, der gerne Softwareingenieur geworden wäre, rennt sich bei Pizza Hut die Hacken ab. Pizza ist zu teuer für ihn. Auch Obst kann er sich nicht leisten. Zuhause gibt es morgens Fladenbrot und Tee, abends Reis. Die schlechte Ernährung sieht man ihm an. Einmal bezahlte ihm ein Tourist einen Ausbildungskurs in einer privaten Computerschule. Abid musste nach einem Monat abbrechen – er schaffte es einfach nicht, neben seinem Job auch noch den Unterricht zu besuchen. Er ließ sich den Rest des Geldes auszahlen und die Familie konnte ihre Mietschulden begleichen.

Heiraten nach Wunsch der Eltern

Preetie müsste nichts verdienen, sie kommt aus einem wohlhabenden Elternhaus. Preetie möchte sich aber nicht langweilen. Daher hat sie einen Tutorenjob an der Universität von Kolkata (Kalkutta) angenommen. Jeden Morgen kommt ein Fahrer, um sie abzuholen. Zweimal in der Woche gibt sie auch Deutschunterricht. Preetie spricht nahezu akzentfrei Deutsch und ihr Physik-Studium hat sie mit Auszeichnung abgeschlossen. "Wie eure Bundeskanzlerin", sagt sie und fügt hinzu: "Ich liebe die deutsche Sprache und die deutsche Kultur." Zum Beweis zitiert sie den Anfang von Johann-Wolfgang Goethes "Erlkönig".

Die 26-Jährige wäre eine ideale Kandidatin für ein Auslandspraktikum; in einem englischsprachigen Land sowieso – aber auch in Deutschland. Das würden ihre Eltern nie erlauben, sagt sie kopfschüttelnd. Undenkbar, alleine ins Ausland zu reisen. Sie müsse erst heiraten. Vielleicht erlauben ihr dann die Eltern ihres Mannes, in Deutschland ein Arbeitspraktikum zu absolvieren. Doch das es ist eher unwahrscheinlich – auch wenn Preetie noch gar nicht weiß, wer ihre künftigen Schwiegereltern sein werden. Fest steht nur, dass sie aus der gleichen Kaste wie Preeties Familie und aus dem gleichen Ort wie Preeties Vorfahren stammen. Die kamen vor drei eine Generationen aus dem westindischen Rajasthan ins heutige Westbengalen.

Auf die Frage, ob sie denn gerne heiraten würde, lacht sie und sagt: "Nein. Männer sind doch schrecklich dumm, nicht wahr?" Sie fragt, ob es stimmt, dass in Deutschland mehr Jungen als Mädchen Naturwissenschaften studieren. In Indien sei es genau umgekehrt. Preetie wird vielleicht nie richtig als Physikerin arbeiten, aber ihre gute Ausbildung verbessert ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt. Ob sie nicht lieber erst einmal arbeiten würde anstatt gleich zu heiraten? Darüber könne sie selbst nicht befinden, sagt sie. "In Indien heißt es, die erste Entscheidung, die man als Erwachsener wirklich alleine trifft, ist die Wahl der Schule, auf die du dein erstes Kind schickst." Natürlich gebe es Jugendliche, die gegen ihre Eltern und die Regeln der Gesellschaft rebellieren – sie gehöre allerdings nicht dazu. "Widerstand führt doch nirgendwohin", sagt Preetie und lächelt.

Die wenigsten Jugendlichen finden es schlecht, dass ihre Eltern ihre Ehepartner für sie aussuchen. "Wer kennt dich besser als deine Eltern und weiß besser, was gut für dich ist?", sagt Gireesh, ein junger Software-Ingenieur und Manager eines Internetcafés in Bangalore. "Die Liebe kommt mit den Jahren", zitiert er seine Mutter. Heiraten ist nicht wie bei uns ein Bund zwischen zwei Menschen sondern ein Bündnis zweier Familienklans. Wichtig ist: passen diese Klans zusammen und können sie einander nützlich sein.

Gireeshs 28-jährige Schwester Rajika sitzt neben ihm und schreibt eine E-Mail. In der Online-Redaktion eines Magazins, in der sie arbeitet, hat sie keine Zeit für private Kommunikation. Zusammen mit einer Freundin teilt sie sich ein Appartement. Rajika möchte sich gern selbst einen Mann aussuchen, aber sie findet keinen, der ihr gefällt. Allmählich wird sie auch "zu alt". Spätestens im nächsten Jahr wird sie heiraten müssen. Und sie wird es wohl oder übel dem Druck beugen. Die Verwandten bedrängen ihre Eltern, die Eltern bedrängen den Bruder, er bedrängt sie.

"Es ist zum Kotzen, ein Mädchen zu sein", steht auf ihrem Monitor geschrieben.

*alle Namen geändert

Fussnoten

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Renée Zucker, Jahrgang 1954, lebt als Publizistin in Berlin und reist gern nach Indien.