Kaum ein anderes Thema wird in Indien so emotional diskutiert wie Kaste. Der konfliktträchtige und oft kreative Umgang damit, die Komplexität und politische Dimension zeigt sich etwa anhand des umstrittenen Rashtriya Dalit Prerna Sthal – des Nationalen Dalit Inspirationsmonuments – im Delhier Vorort Noida. Die gewaltige Anlage am Ostufer des Yamuna wurde am 2. Oktober 2013, dem Geburtstag Mahatma Gandhis, ohne größeres Medienecho für die Allgemeinheit geöffnet und gilt als Prestigeprojekt der ehemaligen Ministerpräsidentin des bis an die Hauptstadt reichenden Bundesstaates Uttar Pradesh. Die Politikerin Mayawati, selbst Angehörige der untersten Kasten bzw. der Dalits, hatte das aus Steuergeldern finanzierte Monument gegen alle Widerstände durchgesetzt und bereits am 14. Oktober 2011 feierlich eingeweiht.
An diesem Tag im Jahr 1956 war die Dalit-Ikone Bhimrao Ramji Ambedkar gemeinsam mit Hunderttausenden weiteren Dalits zum Buddhismus über- und damit aus der hinduistischen Kastenordnung ausgetreten. Entsprechend reich ist das Dalit-Monument an buddhistischer Symbolik. Aus Sicht Mayawatis soll es zur Ermächtigung – Empowerment – der sozial, ökonomisch und politisch weitgehend marginalisierten Dalits beitragen, wofür einst bereits Ambedkar als Gegenspieler Gandhis gekämpft hatte.
Es gilt aber auch als Hinweis auf Mayawatis politischen Ambitionen auf nationaler Ebene. So ließ sie in dem Park steinerne Elefanten aufstellen, das Symbol ihrer Bahujan Samaj Party (BSP). Zudem gibt es Dutzende überlebensgroße Statuen von Dalit-Persönlichkeiten – darunter ihre eigene. Vor den Landtagswahlen in Uttar Pradesh Anfang 2012 ließ die Wahlkommission Mayawati und ihre Elefanten verhüllen, um mögliche Wahlvorteile zu verhindern. Die BSP verlor die Macht an die Samajwadi Party (SP), wobei die neue Regierung zunächst wenig Interesse an Monument und Figurenpark zeigte. Schließlich übergab sie die Anlage doch der Öffentlichkeit und verteilte bei der Eröffnung Fahrräder – das Parteisymbol der SP – an Dalits.
Der Begriff Kaste: Entstehung und Ideologie
Der Begriff Kaste stammt vom portugiesischen Wort casto (rein, keusch). Die Portugiesen als frühe Kolonialherren in Indien versuchten damit ein Phänomen der Abgrenzung und hierarchische Anordnung gesellschaftlicher Gruppen vor allem in Bezug zur Heirat zu benennen, das sie aus ihrer eigenen Kultur nicht kannten. Kaste ist somit kein indischer Begriff, sondern eine Fremdzuschreibung, die zumeist auf zwei unterschiedliche, aber ähnliche indische Kategorien angewandt wird – jati und varna.
Jati (Gattung oder Wurzel) bezeichnet die für die alltäglichen Interaktionen relevanten Bevölkerungsgruppen, die heute in Indien anzutreffen sind. In der Volkszählung von 1881, als die britischen Kolonialherren begannen, Indien systematisch zu erfassen, zählte man fast 2000 dieser Kasten. Dagegen bezeichnet varna (Farbe) mythologisch begründete Kasten. Demnach entsprangen aus dem Ur-Menschen Purusha vier varna: aus dem Mund die Brahmanen (Priester), aus der Schulter die Kshatriya (Krieger), aus einem Schenkel die Vaishya (Händler) und aus der Fußsohle die Shudra (Bediensteten). Die Brahmanen stehen dementsprechend an der Spitze der Hierarchie. Die Shudra bilden die unterste Kategorie innerhalb dieses Schemas, aus dem die als noch niedriger angesehen "Kastenlosen" gänzlich herausfallen.
Jati und varna sind in der sozialen Praxis lose verbunden, das heißt Mitglieder jeder jati ordnen sich meist einer der vier varna zu, wobei die Ansprüche oft umstritten sind und sich durch Prozesse sozialer Mobilität ändern können. Während jati oft lokal oder regional begrenzt ist und man in verschiedenen Teilen Indiens hinsichtlich ihrer Namen, Mythen, Anzahl etc. unterschiedliche Kasten findet, kann varna als gesamtindische Kategorie herangezogen werden, um eine gewisse Vergleichbarkeit des Status einzelner Kasten zu ermöglichen.
Neben dem Mythos finden sich weitere, eher spekulative Theorien zur Entstehung des Kastensystems. In historischen Rechtsbüchern (dharmashastra) wird argumentiert, dass Heirat nur innerhalb der varna arrangiert werden sollte und die Vielzahl der jati durch eher missbilligte "Mischehen" zwischen unterschiedlichen varna entstanden sei.
Andere Theorien rücken den König ins Zentrum des Kastensystems, der Personen im traditionellen Opferritual unterschiedliche Rollen zugewiesen haben soll. Diese erblichen Funktionen (Priester, Barbier etc.) seien dann zu Kasten geworden. Historische Erklärungen verweisen dagegen auf Einwanderungswellen nach Indien: Aus Richtung Kaukasus kommende "Arier" hätten die ansässige Bevölkerung – oft mit der südindischen oder dravidischen Bevölkerung identifiziert – unterworfen und ihnen den Rang von Bediensteten oder Kastenlosen zugewiesen, um damit eine "Vermischung" mit der unterworfenen Bevölkerung zu vermeiden.
Soziologisch betrachtet basiert das Kastensystem nach Ansicht des Philosophen Célestin Bouglé auf drei Säulen: (1) der Trennung der Gruppen insbesondere in Bezug auf Heirat und Essen, (2) einer erblichen Arbeitsteilung und (3) der Hierarchie. Darauf aufbauend betont der Ethnologe Louis Dumont, dass diesen drei Prinzipien der Gegensatz "rein" / "unrein" zugrunde liegt. Die Trennung der rituell "reineren" von "unreineren" Kasten bildet demnach die Grundlage von Kasten-Hierarchie, wie das Verbot der Heirat mit "Unreineren" oder die Unterscheidung von "unreineren" Berufe wie Lederarbeiter von "reineren" Berufen wie Priester. Zudem gilt der Kontakt mit "Unreineren" als kontaminierend und erfordert mehr oder weniger umfangreichere Reinigungsrituale. Brahmanen und "Unberührbare" bilden die Antipoden des Kastensystems.
Unberührbarkeit: "Kinder Gottes" oder Unterdrückte?
Etwa 16,6 Prozent der indischen Bevölkerung werden laut der Volkszählung von 2011 als Scheduled Castes (oder "Unberührbare") klassifiziert, die zum größten Teil unter ärmlichen Bedingungen leben. In der Kasten-Hierarchie wird gerade die Grenze zu den untersten Kasten besonders betont. "Unberührbare" müssen vielfach räumlich getrennt in Siedlungen außerhalb der Dörfer leben. Sie werden, wenn auch nach indischer Gesetzgebung illegal, oft am Betreten von Tempeln oder an der Benutzung von Brunnen gehindert.
Von Serviceleistungen anderer Kasten ausgeschlossen, replizieren sie diese Dienste häufig über eine Art Sub-Kastensystem mit eigenen Priestern aber auch Formen der Marginalisierung. Kastenlose sind somit nicht aufgrund ihrer Position per se solidarischer oder weniger diskriminierend. Allerdings ist die Praxis der "Unberührbarkeit" in verschiedenen Regionen Indiens höchst unterschiedlich und lässt sich besonders in Städten kaum mehr aufrechterhalten. Zu den Widersprüchen Indiens gehört auch, das trotz bestehender Diskriminierungen mit Meera Kumar eine "Ex-Unberührbare" seit 2009 das Amt der Parlamentspräsidentin innehat. Von 1997 bis 2002 amtierte mit K.R. Narayanan sogar ein Dalit als Staatspräsident.
Bereits während der Unabhängigkeitsbewegung debattierten der als Babasaheb verehrte Ambedkar und Gandhi die Klassifikation der "Unberührbaren" als Hindus sowie die Frage ihrer Repräsentation in der indischen Politik, ihren Schutz und ihre Förderung. Ambedkar, selbst "Unberührbarer" aus der Kaste der Mahar, plädierte 1931 für getrennte Elektorate (Wählerschaften). Eine bestimmte Anzahl an Mandaten sollte im Parlament für "unberührbare" Abgeordnete reserviert und nur von "Unberührbaren" gewählt werden. 1935 verständigten sich Ambedkar und Gandhi darauf, Parlamentssitze für "Unberührbare" entsprechend ihres Bevölkerungsanteils zu reservieren, sie aber von allen Indern des jeweiligen Wahlkreises wählen zu lassen. Die Einigung wurde nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 durch Ambedkar in seiner Funktion als Justizminister in der Verfassung verankert. Diese Reservierungspolitik – auch Affirmative Action oder positive Diskriminierung genannt – gilt bis heute.
Ambedkar sah die "Unberührbaren" im Gegensatz zu Kasten-Hindus und forderte, sie müssten sich von der Kastenordnung lösen. Gandhi wollte dagegen das Kastensystem reformieren und von "Unberührbarkeit" als negativem Auswuchs reinigen. Aus diesem Denken entspringt auch der von Gandhi geprägte Begriff Harijan, der besagt, dass auch Menschen außerhalb der Kastenordnung Kinder Gottes seien. Viele "Unberührbare" bezeichnen sich heute dagegen selbstbewusst als Dalits (Unterdrückte), da ihnen der Begriff Harijan zu paternalistisch erscheint, und akzeptieren die ihnen zugewiesene niedere Position nicht.
Sozialer und ökonomischer Wandel im 21. Jahrhundert
Auch wenn das Kastensystem vielfach als starr und rigide erscheinen mag, lassen sich dennoch Prozesse des Wandels erkennen. Veränderungen ergeben sich zum Beispiel durch religiöse (Reform-)Bewegungen, sobald diese dazu übergehen, nur innerhalb ihrer Gemeinschaft zu heiraten bzw. zu essen und damit eine neue Kaste zu bilden. Eine relative hohe soziale Mobilität existiert zudem in den mittleren Rängen der Hierarchie, während die Pole der Kastenordnung – Brahmanen und "Unberührbare" – weit stärker fixiert sind.
Die Fluidität in den mittleren Ebenen, das heißt der Auf- und Abstieg einzelner Kasten, kann dabei durch Faktoren wie Landgewinn oder Bewässerung, aber vor allem auch veränderte politische Konstellationen bedingt sein. Zudem können Kasten versuchen, durch Anlehnung an statushohe Kasten oder die Imitation von deren eher auf Sanskrit-Schriften basierenden Bräuche (etwa vegetarisches Essen) einen höheren Status zu beanspruchen. Diese keineswegs neuen Prozesse werden häufig unter dem Begriff Sanskritisierung diskutiert. Steigender materieller Wohlstand und Mobilität tragen neben der Urbanisierung ebenfalls zum Wandel bei, der sich etwa in einer wachsenden kastenübergreifenden Mittelschicht zeigt.
Von den geschilderten drei Säulen des Kastensystems – Separation, Hierarchie und Arbeitsteilung – wird insbesondere die letzte Säule zunehmend schwächer oder verschwindet ganz. Bedingt ist diese Entwicklung durch die Entstehung neuer Berufe vor allem in den Städten (z.B. im IT-Bereich). Allerdings gibt es auch Tendenzen, neue Berufe quasi in erbliche Beschäftigungen umzuwandeln – etwa indem man versucht, Bestimmungen der Sozialgesetze gerade im staatlichen Sektor (Ingenieure etc.) auszunutzen. So haben bei Arbeitsinvalidität Angehörige des Betroffenen bestimmte Anrechte auf Beschäftigung.
In Bezug auf die hierarchische Unterteilung der Kasten lässt sich ebenfalls ein Wandel erkennen. Die Bedeutung des übergeordneten und umfassenden Systemcharakters sowie die Interdependenz der Kasten (vertikale Ebene) nimmt ab. Gleichzeitig konkurrieren die einzelnen Elementen des Kastensystems (horizontale Ebene) zunehmend miteinander. An die Stelle von Hierarchie tritt daher zunehmend die betonte Differenz der Kasten. Die eigene, spezifische Kastenidentität wird hervorgehoben – ein Prozess, der als Substantialisierung, Ethnisierung bzw. Kulturalisierung von Kaste diskutiert wird und eng mit politischen Veränderungen zusammenhängt. Die These der Kulturalisierung, das heißt der Verweis auf kulturelle Unterschiede bei der Neu- bzw. Umdeutung von Kaste, wird mit dem Konzept samaj oder Gemeinschaft verknüpft. Somit wird Kaste, als jati im öffentlichen Diskurs häufig bewusst heruntergespielt und durch die Idee von Kaste als verbindender Einheit ersetzt, die auf quasi natürlichen kulturellen Unterschieden basiert.
Diese Prozesse verlaufen dabei durchaus widersprüchlich. Während sozioökonomische Veränderungen wie etwa die größere Vielfalt an beruflichen Möglichkeiten zu einer verstärkten Ausdifferenzierung innerhalb der Kasten führt, wird gleichzeitig die Verschiedenheit zwischen einzelnen Kasten bzw. deren Andersartigkeit stärker betont. Gleichzeitig sollte die Schwächung oder gar das Verschwinden eines einschließenden Systems nicht mit dem Niedergang hierarchischer Werte verwechselt werden, die bei der Abgrenzung von niedrigeren Kasten und auch Klassen eine Rolle spielen. Während sich die Basis der Mittelschicht in Indien zwar zunehmend über die Oberkasten hinaus verbreitert, speist sie sich dennoch zum überwiegenden Teil aus Oberkasten, die ihr soziales und kulturelles Kapital (insbesondere Bildung) zu ihrem Vorteil einsetzen.
Der gerade in Städten sichtbare ökonomische Wandel sollte daher nicht überbewertet werden. Auch in Metropolen wie Delhi wird die überwiegende Zahl der Heiraten weiterhin innerhalb der Kasten arrangiert, wodurch sich Kasten- und Klassenungleichheiten tradieren. Auch moderne Technologien z.B. Online-Heiratsportale führen nicht automatisch zum Verschwinden arrangierter Heiraten. Dennoch sind auch hier Veränderungen zu erkennen.
Kaste und Politik
Neben der Kontinuität in Bezug auf das Heiraten gewinnt Kaste gerade innerhalb des politischen Systems zusätzlich an Bedeutung. Diese ist einerseits untrennbar mit der Entstehung von Kastenorganisationen seit Anfang des 20. Jahrhunderts verbunden, die sich dezidiert für eigene Interessen einsetzen. Andererseits hängt dieser Prozess mit dem System positiver Diskriminierung zusammen, das Kaste und Gemeinschaft und nicht das Individuum oder den einzelnen Haushalt zum Kriterium für staatliche Förderung macht. Vergünstigungen werden vielfach nicht aufgrund individueller wirtschaftlicher Not vergeben, sondern aufgrund der Kastenzugehörigkeit. Auf diese Weise wird soziale Mobilität weiterhin mit Kaste verknüpft.
Entsprechend der Vorschläge der Mandal Kommission wurden ab 1990 Reservierungen für Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst sowie bei der Vergabe von Studienplätzen per Quote für die Scheduled Castes und einige Stammesgruppen auch auf die Other Backward Classes (andere rückständige Klassen, OBC) ausgedehnt. Auch die andauernde Debatte um die Einführung von Reservierungen für ökonomisch benachteiligte Segmente der Oberkasten dürfte die Politisierung der Kasten noch fördern. Eine Folge sind kastenspezifische Parteien in Indien, die besonders große Kasten oder Kastenkonglomerate vertreten, deren numerische Vorteile in der Demokratie nutzen und sich dezidiert für ihre Belange bei der Verteilung staatlicher Privilegien einsetzen.
Als Beispiel für eine erfolgreiche, eher kastenspezifische Partei kann die 1984 gegründete Bahujan Samaj Party (sinngemäß: Partei der Mehrheitsgesellschaft, BSP) dienen. Während Ambedkar mit dem Versuch, eine Dalit-Partei zu organisieren, gescheitert war, gelang es dem Ambedkar-Anhänger Kanshi Ram die Interessenskonflikte zwischen den Dalit-Kasten weitgehend zu überwinden. Kanshi Ram profitierte dabei von einer größer werdenden gebildeten Dalit-Elite und -Mittelklasse, die von staatlichen Reservierungen profitiert hatte. So schaffte er es etwa, Dalit-Angestellte im öffentlichen Sektor zu organisieren, auf die sich später auch die BSP unter Kanshi Rams Nachfolgerin Mayawati stützen konnte.
Die BSP profitierte zusätzlich von Koalitionen im Bundesstaat Uttar Pradesh, an denen sie beteiligt war. Diese oft kurzlebigen Zweckbündnisse mit der Samajwadi Party (1993-95) und der hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei BJP (1995, 1997, 2002-2003) hievten nicht nur Mayawati ins Amt der Ministerpräsidentin von Uttar Pradesh, sondern ermöglichten auch eine Mischung aus symbolischer und substantieller Politik im Interesse der Dalit-Kasten. Sie setzte dabei sowohl auf die Errichtung von Ambedkar-Statuen als auch auf Gesetze zur Verhinderung von Gewalttaten an Dalits, die konsequent umgesetzt wurden. Hinzu kamen spezielle Förderprogramme, etwa für Dörfer mit einem hohen Dalit-Bevölkerungsanteil.
Gleichzeitig versuchte Mayawati die Basis der BSP zu verbreitern: einerseits und mit mäßigem Erfolg über Uttar Pradesh hinaus, andererseits durch strategische Allianzen mit anderen Kasten. Während bereits Ambedkar Stammesangehörige und OBC als Verbündete ansah, schloss Kanshi Ram explizit religiöse Minderheiten wie Muslime in seine Definition von Mehrheit (Bahujan) ein. Mayawati ging darüber hinaus und propagierte eine neue Allianz mit Brahmanen.
Der Erfolg dieser Strategie zeigte sich bei den Landtagswahlen 2007, bei denen die BSP mit dem Slogan Sarvajan Sukhaye, Sarvajan Hitaye (Aller Wohlstand, aller Interesse) eine absolute Mehrheit in Uttar Pradesh errang und Mayawati Ministerpräsidentin für die gesamte Legislaturperiode wurde. Doch bereits bei den gesamtindischen Wahlen 2009 konnte die BSP den Erfolg nicht wiederholen. Neben Korruptionsvorwürfen spielte vermutlich auch die mit Rücksicht auf neugewonnene Wähler weniger dezidiert verfolgte Pro-Dalit Politik eine Rolle. Ironischerweise enttäuschte Mayawati gerade Dalit-Stammwähler, die besondere Hoffnungen in eine BSP-Mehrheit im Landesparlament gesetzt hatten.
Kurskorrekturen der BSP nach 2009 rückten wieder stärker die Stammwählerschaft in den Vordergrund, so dass die Politik Mayawatis in gewisser Weise zwischen zwei widersprüchlichen Interessen oszilliert: die Basis zu erweitern und die Dalit-Interessen nicht zu verprellen. Ihr Machtverlust 2012 scheint das vorläufige Scheitern in Bezug auf eine erweiterte Wählerschaft zu dokumentieren. Allerdings hatten sich auch bei der Landtagswahl ein Teil der Dalit-Wählerschaft enttäuscht von ihr abgewandt.
Auch im gesamtindischen Diskurs über Kasten und Kastensystem finden sich grundlegende Widersprüche: Während einerseits die Verfassung jegliche Diskrimierung und Benachteiligung aufgrund von Kaste verbietet, bewirken andererseits die sukzessive ausgeweiteten Reservierungen für bestimmte Kasten oder kastenspezifische Hilfsprogramme ihre Stärkung im politischen Diskurs und im Bewusstsein der Bevölkerung – ein Prozess, an dem auch Parteien beteiligt sind. Es besteht damit eine grundsätzliche, bis heute ungelöste und in der Verfassung verankerte Spannung zwischen zwei unterschiedlichen, rivalisierenden Sichtweisen auf Indien: einerseits als Gesellschaft verschiedener Kasten und Gemeinschaften oder andererseits als Nation gleichberechtigter Bürger, die die Staatsgründer Jawaharlal Nehru und Bhimrao Ramji Ambedkar im Sinn hatten.