Wer hätte erwartet, ausgerechnet in Khajuraho, dem legendären Pilgerort der Freunde erotischer Kunst, Subhas Chandra Bose zu begegnen? Als uns die Inhaberin eines kleinen Ladens erlesener indischer Handwerkskunst einen Blick in ihre gute Stube gewährt, stehen wir plötzlich vor drei großen Postern: der Hindu-Göttin Lakshmi, der verhalten lächelnden Powerfrau
Diese Begegnung war umso erstaunlicher, als Bose noch Ende der 80er Jahre im offiziellen Indien ein ausgesprochenes Schattendasein führte. Im Delhier Nationalmuseum für Indiens ersten Premier
Überhaupt tat sich Indien mit dem Erbe des Freiheitshelden lange Zeit schwer – bis ihn die Regierung an seinem 100. Geburtstag am 23. Januar 1997 in einem Festakt in Delhi in den Pantheon der bedeutendsten Führer des indischen Freiheitskampfes aufnahm.
Bose wurde in Cuttak (Orissa) als Sohn eines Rechtsanwaltes geboren. Während seiner Studien an der Universität Kalkutta (heute Kolkata) unternahm er – beeinflusst von den hinduistischen Reformern Vivekananda und Aurobindo – eine Pilgerfahrt durch Indien, auf der er die koloniale Unterdrückung und die große Armut der Bevölkerung hautnah erlebte. 1919 schickten ihn die Eltern nach Cambridge, wo er die Prüfung für den Indian Civil Service bestand. Doch eine Karriere im Dienste der Kolonialmacht schlug er aus und schloss sich – nachdem er Mahatma Gandhi 1921 zum ersten Mal begegnet war – dem INC an. Dort machte er schnell politische Karriere. 1927 wurde er zum Vorsitzenden des bengalischen INC-Provinzkomitees und 1930 zum Oberbürgermeister von Kalkutta gewählt.
In den 30er Jahren reiste Bose zur Rekonvaleszenz nach längeren Haftzeiten in britischen Gefängnissen mehrmals nach Europa. Dabei lernte er 1934 in Wien die Österreicherin Emilie Schenkl kennen, die ihm als Sekretärin beim Schreiben seines Werkes "The Indian Struggle" (sinngemäß: Indiens Kampf) assistierte. In den folgenden Jahren pflegten beide eine intensive Korrespondenz. Von Bose sind nicht weniger als 162 Briefe an die Frau überliefert, die er am 26. Dezember 1937 in Bad Gastein heiratete.
In jenen Jahren stiegen Bose und Nehru als Sprecher der jungen Radikalen in die Führungsriege des INC auf. Am 18. Januar 1938 wurde Bose – er war zu dieser Zeit noch in Europa, wo er in London mit Lord Halifax und Clement Attlee, in Prag mit Präsident Benes und in Rom mit Vertrauten Mussolinis zusammentraf – auf Vorschlag Gandhis zum INC-Präsidenten gewählt. Am 11. Februar hielt Bose vor den Delegierten in Haripura (Gujarat) die bedeutendste Rede seiner politischen Laufbahn, in der er sein Konzept für ein freies Indien umriss. Die wichtigsten nationalen Probleme, die Abschaffung von Armut und Analphabetentum, könnten nur nach sozialistischen Grundsätzen gelöst werden, proklamierte er. Dazu bedürfe es einer starken Zentralregierung und einer radikalen Landreform. Als unentbehrlich bezeichnete er die industrielle Entwicklung des Landes unter staatlicher Kontrolle, geleitet von einer staatlichen Plankommission. Diese wurde bereits im Dezember 1938 auf seine Initiative hin mit Nehru als Vorsitzendem gebildet.
Bei der Wahl zum Präsidenten des Nationalkongresses für das Jahr 1939 kam es zu einer Machtprobe zwischen Gandhi und Bose. Entgegen den Vorstellungen des INC-Übervaters setzte sich Bose mit einer Mehrheit von über 200 Stimmen durch. Doch der persönliche Triumph verwandelte sich in eine politische Niederlage, da die INC-Führungsgremien Gandhi nicht brüskieren mochten. Am 29. April 1939 musste er von seinem Amt zurücktreten. Bose versuchte nun, innerhalb des INC einen Forward Bloc progressiver Kräfte zu etablieren.
Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs organisierte Bose Massenproteste gegen die Kriegsteilnahme indischer Soldaten. Von den Briten wurde er dafür zum zwölften Mal ins Gefängnis geworfen und anschließend unter Hausarrest gestellt. Doch der tatendurstige Bengale wollte sich damit nicht abfinden. Am 17. Januar 1941 entwich er aus Kalkutta und gelangte auf abenteuerlichen Wegen durch das nördliche Indien nach Kabul.
Suche nach Bündnispartnern: Bose in Berlin
Gedenkstätte für Subhas Chandra Bose und die Indische Nationalarmee in Moirang im nordostindischen Unionsstaat Manipur. (© Stefan Mentschel)
Gedenkstätte für Subhas Chandra Bose und die Indische Nationalarmee in Moirang im nordostindischen Unionsstaat Manipur. (© Stefan Mentschel)
In der weltpolitisch neuen Situation suchte Bose intensiv nach Bündnispartnern für die rasche Befreiung Indiens vom Kolonialjoch. Dabei dachte er zunächst an die Sowjetunion. Doch Moskau fürchtete eine britische Provokation und lehnte die Avancen des indischen Linksnationalisten ab. Daraufhin suchte er Kontakte zu den Kabuler Botschaften Italiens und Hitlerdeutschlands.
Bose hatte schon in seiner Haripura-Rede dafür plädiert, im Befreiungskampf gegen die Briten Unterstützung in allen Ländern, ungeachtet deren innerer Entwicklung, zu suchen; selbst die kommunistische Sowjetunion schließe ja Allianzen mit nicht-sozialistischen Staaten. Bose hatte durchaus Kenntnis von den Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und Italien, wollte diese aber ignorieren, "wenn Hitler und Mussolini ihm helfen würden, die britische Herrschaft zu besiegen", meint Bose-Biograph Leonard A. Gordon.
Schließlich gelangte Bose nach langen Verhandlungen mit der deutschen Botschaft in Kabul mit einem italienischen Pass via Moskau am 3. April 1941 nach Berlin – die Briten hatten vergeblich geplant, diese Reise zu verhindern und den unbequemen Inder zu liquidieren.
Warum der linksnationalistische Politiker ausgerechnet das nationalsozialistische Deutschland als Bundesgenossen wählte, ist bis heute nicht vollends geklärt. Der indische Regisseur Shyam Benegal, der nach eindrucksvollen Filmen über Gandhi und Nehru 2003/04 ein großes Epos über Bose ("Netaji: The Forgotten Hero"/ "Netaji: Der vergessene Held") drehte, sagte in einem Gespräch während der Dreharbeiten in Berlin, Bose sei nach Hitlerdeutschland gegangen, weil er glaubte, beim Feind seines Feindes eine Exilregierung bilden zu können, um auf gleicher Augenhöhe mit ihm verhandeln zu können.
Doch das war wohl nicht das einzige Motiv. Bose war offensichtlich von den wirtschaftlichen und technischen Potenzen Nazideutschlands und der "Effektivität" seiner autoritären Führung beeindruckt. Das bedeutete freilich nicht, dass Bose – er wurde 1933 bei einem Besuch in München als "Neger" beschimpft – die rassistische Ideologie der Nazis ablehnte. Neben solchen Motiven für Boses Gang nach Berlin wurde seine Liaison mit Emilie Schenkl in der Vergangenheit oft nur am Rande erwähnt. Aber nach Ansicht der Publizistin Sarmila Bose war die mögliche "Wiedervereinigung" mit der geliebten Frau ein sehr starkes Motiv.
Bose warb in Berlin mit großem Geschick für seine Pläne, erreichte aber schließlich nur Teilerfolge. Die Naziführung hatte, unter anderem basierend auf den abwertenden Indien-Passagen von Hitlers "Mein Kampf", große Vorbehalte gegenüber den indischen Freiheitskämpfern. Statt einer Provisorischen Regierung erlaubte man ihnen nur die Einrichtung einer "Zentrale Freies Indien". Boses Vize wurde A.C.N. Nambiar, später der erste indische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland. Entgegen dem Wunsch Boses verweigerten die Naziregierung eine offizielle Erklärung zur Unabhängigkeit Indiens. Lediglich die Etablierung der Radiostation Azad Hind (Sender Freies Indien) und die Bildung einer Indischen Legion kamen seinen Vorstellungen nahe.
Die Indische Legion war von Bose – er wurde von seinen Anhängern jetzt achtungsvoll Netaji (Führer) genannt – als Keimzelle künftiger indischer Befreiungsstreitkräfte gedacht. Ihre Wiege stand im sachsen-anhaltischen Annaburg, wo ab Sommer 1941 indische Kriegsgefangene konzentriert wurden, um Bose die Werbung für die Legion zu erleichtern. Schließlich schlossen sich 3500 der insgesamt 15.000 indischen Kriegsgefangenen der Achsenmächte der Legion an. Sie wurden fortan in Königsbrück bei Dresden ausgebildet.
Bose machte konsequent Schluss mit der in der britisch-indischen Armee üblichen Einteilung nach Volks-, Religions- und Kastengruppen, beschreibt der Historiker Dr. Lothar Günther die Reformbestrebungen Boses.
Bose fand in jenen Berliner Tagen in Dr. Adam von Trott zu Solz, dem Leiter des Sonderreferats Indien im Auswärtigen Amt, einen Förderer, der die indischen Nationalisten vor einem allzu starken Zugriff der Nazis zu bewahren suchte. Von Trott zu Solz, der in Oxford studiert hatte, brachte der indischen Nationalbewegung große Sympathien entgegen. Was Bose damals nicht wissen konnte: Er arbeitete mit einem Verschwörer des 20. Juli 1944 zusammen, der nach dem Umsturzversuch hingerichtet wurde.
Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, den Bose auch gegenüber seinen Gastgebern missbilligte, kam ein Einsatz der Legion in Südasien nicht mehr in Frage. Zusätzlich enttäuscht über sein Gespräch mit Hitler im Mai 1942, in dem der Naziführer erneut eine Unabhängigkeitsgarantie verweigerte, bereitete Bose eine neue Phase seines Kampfes vor.
Titelseite der "Berliner Illustrierten Nachtausgabe" vom 19. Juni 1943
Titelseite der "Berliner Illustrierten Nachtausgabe" vom 19. Juni 1943
Anfang Februar 1943 verabschiedete er sich von seiner Frau Emilie und seiner zwei Monate alten Tochter Anita und bestieg ein deutsches U-Boot Richtung Indischer Ozean und Japan. Ab Mitte Mai 1943 führte Bose in Tokio Gespräche mit der Führung Japans, dem asiatischen Verbündeten Hitlerdeutschlands. Nach einer Pressekonferenz in Tokio verkündete die "Berliner Illustrierten Nachtausgabe" am 19. Juni 1943 in ihrer Schlagzeile: "Nach der überraschenden Ankunft in Japan: Bose über die entscheidende Wende im Freiheitskampf des indischen Volkes."
Bose baute mit Geldern der drei Millionen Auslandsinder in Südostasien die bereits existierende, aber desorganisierte Indische Nationalarmee (INA) zu einer kampfstarken Truppe mit über 50.000 Mann aus. Am 21. Oktober 1943 rief er vor Zehntausenden Indern in Singapur die Provisorische Regierung von Azad Hind aus. Auf der von den Japanern besetzten Inselgruppe Andamanen und Nikobaren hisste er symbolisch die Flagge des freien Indien. Ebenso wie in der Indischen Legion in Deutschland waren auch in der INA alle ethnischen, Religions- und Kastenschranken beseitigt, als Hymne diente eine bereits in Berlin von Bose in Auftrag gegebene Vertonung von
Anfang 1944 versuchte die INA zusammen mit den Truppen Tokios und in Absprache mit der Freiheitsbewegung Burmas – sie war ebenso wie Bose ein Zweckbündnis mit den Japanern eingegangen – nach Ostindien vorzudringen. Am 14. April 1944 schien sich der Traum der indischen Freiheitskämpfer zu erfüllen: In Moirang, 45 Kilometer südlich von Imphal, Hauptstadt des heutigen
Spekulationen um Boses Tod
Doch der Traum währte nur kurz. Die Briten bereiteten den Angreifern eine vernichtende Niederlage. Die Hoffnung Boses, die Ankunft seiner Truppen auf indischem Boden würde einen antikolonialen Aufstand auslösen, zerschlug sich. Als die Japaner aus Südostasien zurückwichen, begann sich Bose nach neuen Optionen umzusehen. Während seines letzten Aufenthaltes im Oktober 1944 in Tokio versuchte er vergeblich, Kontakt zum dortigen sowjetischen Botschafter herzustellen. Am 16. August 1945 teilte er der japanischen Führung mit, er werde sich mit seinem Kabinett in die Sowjetunion begeben.
Tags darauf bestieg er in Saigon mit einigen Getreuen ein Flugzeug, das ihn in die Mandschurei bringen sollte, wo die Rote Armee vorrückte. Zuvor hatte er in seinen Rundfunkreden die Sowjetunion als kommende Weltmacht apostrophiert und einen Bruch der Anti-Hitler-Koalition vorausgesehen. Bose glaubte, "die anti-imperialistische kommunistische Macht würde ein natürlicher Alliierter der indischen nationalistischen Bewegung sein".
Doch kaum hatte die Maschine nach einer Zwischenlandung in Taipeh vom Rollfeld abgehoben, stürzte sie zu Boden und fing sofort Feuer. Bose wurde so schwer verletzt, dass er am 18. August starb. Bis heute ranken sich viele Spekulationen um dieses Ereignis.
Boses Tod kam vor allem den Briten sehr gelegen. Doch als sie im November 1945 drei hohe Offiziere der Indischen Nationalarmee – stellvertretend auch für die Annaburger Legionäre, deren Gros im Mai 1945 in alliierte Gefangenschaft kam – in einem Schauprozess im Delhier Roten Fort wegen Hochverrats verurteilen wollten, erhob sich in ganz Indien ein Sturm der Empörung. Auch die Führer des INC, die während des Krieges auf Distanz zu Bose gingen, setzten sich massiv für die Angeklagten ein.
Gandhi schrieb über die INA: "Das Größte ist dabei, dass sie unter ihren Fahnen Männer aller Religionen und Rassen Indiens vereinte und ihnen den Geist der Solidarität und Einheit unter strengstem Ausschluss aller konfessionellen und partikularistischen Gefühle einflößte." Die INA-Offiziere mussten schließlich freigesprochen werden. Den Briten wurde klar, dass ihr "Kronjuwel" verloren war. Zwei Jahre nach Boses Tod verkündete Nehru am 15. August 1947 von den Zinnen des Roten Forts Indiens Unabhängigkeit.
Obwohl Subhas Chandra Bose zu seinem 100. Geburtstag in Indien hoch geehrt wurde und das Indische Kulturzentrum in Berlin im gleichen Jahr ein großes Bose-Symposium veranstaltete, ist das an Widersprüchen reiche Leben des Freiheitshelden in beiden Ländern weitgehend unbekannt geblieben. Regisseur Shyam Benegal sieht als wesentliche Ursache, dass "der Schatten der britischen Haltung, nach der Bose ein Kollaborateur sei, weil er mit den Achsenmächten zusammenarbeitete, sehr lange über ihm lag". Auch der burmesische Freiheitsheld Aung San und Indonesiens erster Präsident Sukarno habe mit den Japanern kooperiert. "Aber von ihnen wurde dieser Schatten genommen", beklagt Benegal, "von Bose nicht".
Boses Tochter Prof. Anita Pfaff-Bose, die bis vor kurzem als Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität Augsburg lehrte, führt das lange Ausblenden ihres Vaters aus Indiens Geschichte auch darauf zurück, dass die Politik des Landes von drei Generationen der Nehru-Familie dominiert wurde. "Nehru und mein Vater waren Streitgenossen. Sie hatten eine ähnliche politische Einstellung, waren aber auch Konkurrenten – was wohl weiterwirkte." Ihr Vater sei jedenfalls "kein Faschist oder Nationalsozialist" gewesen. "Andere indische Führer wie Gandhi und Nehru waren damals eher bereit, Kompromisse mit den Engländern zu schließen. Das kam für meinen Vater nicht in Frage, weil er schnell die Unabhängigkeit wollte."
Doch Subhas Chandra Boses ungewöhnliches Engagement für die Befreiung Indiens vom britischen Kolonialjoch bleibt umstritten – die Skala der Auffassungen reicht vom Vorwurf der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus bis hin zu einer besonders in Bengalen verbreiteten unkritischen Heroisierung. Die Wahl seiner Verbündeten im Befreiungskampf ist zweifellos hochproblematisch. Aber Boses unbedingter Nationalismus kann nicht ohne seine Verdienste wie die praktizierte Gleichbehandlung aller indischen Ethnien und Religionsgruppen gesehen werden. Die kontroverse Debatte über Visionen und Illusionen des charismatischen Freiheitshelden wird weitergehen. Für viele seiner Landsleute ist und bleibt Bose der Netaji.